Zittern im Vulkan

Wenn ich schlapp­ma­che, müs­sen sie mich mit dem Hub­schrau­ber hier raus­ho­len. Ret­tung aus der Luft. Zahlt das die Han­se­Mer­kur? Ich grin­se in mich hin­ein – Gal­gen­hu­mor! – und ver­drän­ge den Gedan­ken, ohne ihn mit den ande­ren zu tei­len.

Mei­ne Rei­se nach Maui ist ein biss­chen anders, als ich sie mir vor­ge­stellt habe: Statt den Groß­teil mei­ner Zeit unter Pal­men zu lie­gen, rei­ße ich auf Hawai­is zweit­größ­ter Insel mein Wan­der­pen­sum für ein gan­zes Jahr­zehnt ab. Mit Sarah, Dani­el und Mar­tin aus dem Hos­tel bin ich zum Hiken im Hale­a­kalā auf­ge­bro­chen – dem Vul­kan, der drei Vier­tel der Flä­che Mau­is ein­nimmt. Bis zum Gip­fel auf 3000 Metern sind wir mit dem Miet­wa­gen gefah­ren, von hier oben aus beginnt die Tour. Sie­ben Stun­den soll das Gan­ze dau­ern. Sie­ben. Stun­den.

Wanderschuhe? Brauch ich nicht

Ich muss mich zwin­gen, nicht andau­ernd auf die Uhr zu schau­en. Noch ste­hen wir am Start­punkt des Pfa­des, der auf den Grund des Kra­ters führt – 600 Höhen­me­ter run­ter ins Tal. Ein Weg­wei­ser ver­rät uns sei­nen Namen: „Sli­ding Sands Trail“. Drei Augen­paa­re rich­ten sich erst auf das Schild und dann auf die fünf Jah­re alten Adi­das-Snea­k­ers an mei­nen Füßen. „Was denn“, sage ich, „die haben bis jetzt auf jeder Rei­se aus­ge­reicht!“ Rich­ti­ge Wan­der­schu­he, so was habe ich nicht. Brau­che ich auch nicht, den­ke ich trot­zig.

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Und zit­te­re wenig spä­ter mei­nen kor­rekt beschuh­ten Hos­tel­freun­den auf dem abschüs­si­gen Sand­pfad hin­ter­her. Vor mir bewun­dert Sarah die wei­te Hügel­land­schaft. Ich stel­le wäh­rend­des­sen fest, dass sich das letz­te biss­chen Pro­fil mei­ner Turn­schu­he irgend­wo zwi­schen Rom und Van­cou­ver ver­ab­schie­det hat. Mein Blick klebt am Boden, vor­sich­tig set­ze ich mei­ne Füße auf die win­zi­gen Stei­ne. Und ver­kramp­fe mit jedem Schritt mehr. Ich schwit­ze, weil die Son­ne vom Him­mel brennt, aber kaum wan­dern wir durch die Wol­ken­de­cke hin­durch, lässt küh­ler Wind mich frös­teln.

Irgend­wann kann ich ihn nicht mehr igno­rie­ren: den Schmerz in mei­nem Bein. Ein alter Bekann­ter, immer mal wie­der klopft er an, um mich an die ange­bo­re­ne Gelenk­fehl­stel­lung zu erin­nern, die vor Jah­ren auf­wän­dig ope­riert und seit­her von mir kon­se­quent ver­drängt wor­den ist. 17 Zen­ti­me­ter misst die Nar­be an mei­nem Ober­schen­kel, die für immer ihre Geschich­te erzählt. Der Schmerz kommt sel­ten und bleibt nie lan­ge, aber aus­ge­rech­net hier, aus­ge­rech­net jetzt lässt er sich nicht zum Teu­fel jagen.

Wandern durch einen Schwarz-Weiß-Film

Immer­hin geht es nicht mehr ganz so steil berg­ab. Ich sehe mich um. Aus dem hel­len Sand ist rot­brau­nes Geröll gewor­den. Am Hori­zont ragen dunk­le Ber­ge in die Höhe. Vor ihnen wabern Wol­ken­fet­zen wie Nebel, manch­mal kann man ihre Sil­hou­et­ten nur erah­nen. Wäre ich hier allein, ich wür­de mir in die Hosen machen.

Mein Blick fällt auf die sil­ber­nen, kugel­för­mi­gen Gewäch­se am Weges­rand, sie leuch­ten wie nach­ko­lo­riert im Schwarz-Weiß-Film. Sil­ver­s­word heißt die Pflan­ze, Dani­el hat uns schon im Auto von ihr erzählt. Sie wächst nir­gend­wo sonst auf der Welt, nur hier, im Kra­ter des Hale­a­kalā. Sil­ber­ne Här­chen auf ihren Blät­tern schüt­zen sie vor Licht und Käl­te. So kann sie fünf­zig Jah­re alt wer­den. Und blü­hen, ein ein­zi­ges Mal, ganz am Ende ihres Lebens. Dann wird sie bis zu zwei Meter groß. Dann wach­sen ihre lila Blü­ten mit­ten hin­ein in die Welt­un­ter­gangs­ku­lis­se – dem eisi­gen Wind zum Trotz. Und allen ande­ren Wid­rig­kei­ten. Die haben sie nur noch schö­ner gemacht.

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Ich zur­re mei­nen Schal fest und bal­le mei­ne Hän­de in den Ärmeln mei­nes Pul­lis zu Fäus­ten. Es ist kalt, als wir den Grund des Kra­ters errei­chen. „Male­risch!“, sage ich. Sarah lacht. Wenn ich es nicht bes­ser wüss­te, wür­de ich glau­ben, wir ste­hen auf dem Mond. Lava­ge­steins­bro­cken auf grau-brau­nem Grund, sonst ist hier nichts. Den Pfad kann ich nicht mehr erken­nen. Ich ver­traue Mar­tin und Dani­el, die sich alle vier­tel Stun­de über eine Kar­te beu­gen. Jedes Mal bin ich froh über die kur­ze Pau­se.

So kann ich Kraft sam­meln für den Auf­stieg. Zum Son­nen­un­ter­gang wol­len wir wie­der oben sein. „Wie lan­ge meinst Du, brau­chen wir noch?“, fra­ge ich Mar­tin nach den ers­ten paar Metern berg­auf. „Andert­halb Stun­den?“ schätzt er. Ich schlu­cke.

Als andert­halb Stun­den um und wir noch lan­ge nicht oben sind, kom­me ich auf mei­nem Tief­punkt an. Ich kann nicht mehr. Ich frie­re. Das Ste­chen in mei­nem Bein zwingt mich, alle paar Meter ste­hen zu blei­ben. Die Abstän­de zwi­schen uns wer­den immer grö­ßer. Dani­el kann ich schon lan­ge nicht mehr sehen, Sarah wird in der Fer­ne immer klei­ner. Mar­tin läuft etwa drei­ßig Meter vor mir, er war­tet, bis ich auf sei­ner Höhe bin.

Ich könnte heulen. Vor Wut

Ich schi­cke ihn wie­der vor. Er soll mei­net­we­gen nicht den Son­nen­un­ter­gang ver­pas­sen. Er soll vor allem mei­ne Trä­nen nicht sehen. Jede Sekun­de könn­te ich los­heu­len, vor Schmerz, vor Erschöp­fung, vor Wut. Wut auf mich selbst, weil sich alles in mir sträubt und ich dem nichts, gar nichts, ent­ge­gen­zu­set­zen weiß. An einem Gedan­ken hal­te ich mich schließ­lich fest: Ich habe kei­ne ande­re Wahl, als wei­ter einen Fuß vor den ande­ren zu set­zen. Egal, wie lan­ge das hier noch dau­ert: Mei­ne Bei­ne tra­gen mich ans Ziel.

Die Son­ne ver­schwin­det fünf Minu­ten nach mei­ner Ankunft am Gip­fel. Oran­ge-rot leuch­ten die Wol­ken, über denen wir ste­hen. Der Schmerz, die Käl­te, die Erschöp­fung, in die­sem Augen­blick sind sie ver­ges­sen. „Don’t worry about a thing cos every litt­le thing is gon­na be alright“, singt Bob Mar­ley im Auto auf der Rück­fahrt. Recht hat er. Aber wan­dern geh ich so schnell sicher nicht wie­der.

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Antworten

  1. Avatar von Matthias Glotz via Facebook

    Hmm … in der Welt unter­wegs ohne ver­nünf­ti­ge Schu­he? Was ich dann alles ver­passt hät­te! Ist immer das ers­te, was ich ein­pa­cke …

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