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Keine Passkontrolle, keine nette Sachbearbeiterin, keine Einwanderungspapiere: Das hier ist keine normale Grenze. Ich laufe über das trostlose Areal als einer von Vielen und bin doch ganz allein. Mit meinen Shorts und dem westlichen Haarschnitt falle ich auf zwischen den Arabern. Viele Frauen bedecken ihr Haupthaar mit Kopftüchern, manche mit Burkas. Niemand hält uns auf. Ich passiere einen Durchgang und bin drüben. Wäre es nicht schön, wenn es überall so wäre, wenn man einfach die ganze Welt bereisen könnte ohne bürokratische Sachzwänge?
Es gibt eine Crux: Ich kann hier durch, ohne Probleme, aber die meisten Menschen, die auf beiden Seiten der Mauer leben, können es nicht. Wer als Jude nach Palästina geht, begibt sich in Lebensgefahr. Andersherum darf man immerhin mit gültigen Arbeitspapieren unbeschwert pendeln, die haben allerdings die Wenigsten.
Überall auf der Welt wird darüber gestritten, was sie darstellt, diese Grenze, ob sie überhaupt rechtens ist. In solchen Diskussionen gibt es üblicherweise mehr Meinungen als Anwesende. Und nun türmt sich dieses Monument als Symbol eines globalen Glaubenskonflikts direkt vor mir auf. Graue Betonklötze ragen meterhoch aus dem Boden, zusätzlich abgesichert durch Videoüberwachung und Stacheldraht.
Auf der anderen Seite warten schon die Taxifahrer. Wie überall auf der Welt ist Zurückhaltung nicht ihre Stärke. Trotz des dunklen Teints erkennen sie meine Herkunft sofort und werfen mir ihre englischen Parolen ins Gesicht: »Where you go, man«, »I take you to Hebron, only hundred Shekel« und so weiter und so fort.
Ich laufe an ihnen vorbei. Zwanzig Meter weiter schaut ein ruhigerer Zeitgenosse gemütlich aus dem Fenster und grinst mich an. Ich vereinbare mit ihm den Fahrpreis von 20 Schekel bis nach Bethlehem.
Das Erste, was auffällt: Diese Seite der Grenze ist viel bunter. Auf der Mauer ist kaum ein Zentimeter nicht mit Graffiti vollgesprüht, und die meisten von ihnen sind kunstvoll gestaltet. Selbst Banksy hat sich hier irgendwo verewigt, aber an der Stelle kommen wir nicht vorbei. Trotz seiner markanten Stirn und dem dichten Vollbart wirkt mein Fahrer fröhlich. »Sorry, Arab only. Me – Ibrahim«, stellt er sich vor und streckt mir eine riesige Pranke hin. Eine gewisse Ähnlichkeit zu seinem älteren Namensvetter Monsieur Ibrahim alias Omar Sharif ist vorhanden. »I’m David from Germany«, erwidere ich und füge hoffnungsvoll hinzu: »Hostel, cheap hostel please.« Ibrahim nickt. Ende der Konversation.
Ich schaue aus dem Fenster. Alles sieht ein bisschen heruntergekommen aus, dreckiger und ärmer als ich es von drüben gewohnt bin. Die Straßen haben mehr Schlaglöcher und ab und zu taucht ein Berg aus Mülltüten auf. Viele Häuser sind unfertig. Ich frage mich, ob sie noch im Bau sind oder ob den Besitzern das Geld ausgegangen ist.
Ibrahim stoppt vor einer grünen Hecke und sagt: »Hostel, here.« Ich schaue mich um und sehe nichts. »Heeeeaarrre«, wiederholt Ibrahim und zeigt auf ein lachsfarbenes Haus hinter der Hecke. Tatsächlich, »House of Peace Hostel« steht da, daneben hängt eine schlaffe Palästina-Flagge. Ich reiche Ibrahim einen Notizblock, damit er mir seine Handynummer aufschreiben kann. Er soll mich am nächsten Tag nach Mar Saba bringen, einem Kloster in der Umgebung.
Mit dem Auto kann der Hüne besser umgehen als mit dem Stift, aber mit viel Mühe kann ich die schiefen Zahlen entziffern. Nochmal schütteln wir uns die Hände und verabschieden uns.
Im Hostel gibt es zwar keine Rezeption, aber immerhin einen Empfangsflur und da warten Anton und Elen. Die Namen passen nicht hierher, in diese arabische Umgebung, aber das ältere Paar ist herzlich und gastfreundlich. Im Schlafsaal hängt ein Kruzifix, auf dem Nachttisch liegt eine Bibel: Dies ist ein christliches Haus. Was ich nicht wusste: In Bethlehem, der Geburtsstadt Jesu Christi, wohnen etwa 20.000 Christen.
Auf der Terrasse komme ich mit Anton ins Gespräch. Er will unbedingt über den Konflikt reden, und natürlich interessiere ich mich für das, was er zu sagen hat. »It’s a shame«, legt er los, »Es ist eine Schande, dass Palästina und Israel sich nicht vertragen können.« »Warum?«, frage ich. »Weil sie keine Nächstenliebe kennen. Es gibt viele Christen hier, und wir sind friedlich. Ich wünschte, die Juden und die Muslime wären genauso.«
Sein ganzes Leben hat Anton in Palästina verbracht. Er heißt in seinem Hostel jeden willkommen. Dennoch ist es Normalität, dass viele Menschen hier sich aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit hassen.
Ein großer Teil der Juden und Muslime lehnt die Auseinandersetzungen ab, viele leben friedlich nebeneinander. Palästina ist ebenso wenig mit Islam gleichzusetzen wie Israel mit Judentum. Etwa jeder Fünfte Israeli ist Araber. Auf beiden Seiten vertritt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung radikale Ansichten, aber dieser Funke reicht aus, um das Feuer des Konflikts weiterhin schwelen zu lassen.
Am nächsten Morgen holt Ibrahim mich ab. Er hat zwei Zuckerkringel mitgebracht, einen für sich und einen für mich. Auf dem Weg nach Mar Saba halten wir neben einer Garagenwand. Sie ist vollständig bedeckt mit einem der berühmtesten Banksy-Werke, dem »Flower Thrower«. Sind das die Blumen des Korans? Das Graffiti ist ein Ausdruck des Protests und zugleich der Hoffnung auf Frieden.
Wir fahren weiter nach Mar Saba, dem ältesten bewohnten Kloster der Welt, gegründet im Jahr 483. Das orthodoxe Gotteshaus steht mitten in der Wüste. Früher wohnten hier etwa 4000 Mönche, heute sind es noch zehn.
Einer von Ihnen führt mich durch die Räumlichkeiten. Er erzählt von seinem enthaltsamen Leben und beschwert sich, dass die alten Mönche dahinscheiden und keine neuen nachkommen. »We pray, we don’t eat a lot, we don’t have electricity and women are not allowed in the monastery. Young people don’t want to live like that«, merkt er etwas pikiert an.
Ich wandere noch durch das Tal und schieße ein paar Fotos. Hunderte von Höhlen sind in den Fels gehauen. Vor meinem inneren Auge dreht sich die Zeit zurück und ich stelle mir die Mönche in ihren Kutten vor, wie sie sich unten am Fluss waschen, in ihren Behausungen sitzen und beten.
Dann kehre auch ich dem Kloster den Rücken. Auf dem Rückweg entschließe ich mich, Palästina noch am selben Tag zu verlassen. Ich fühle mich zwar sicher, aber nicht wirklich wohl, irgendwie unruhig und rastlos. »It’s a shame«, meint Anton erneut, als ich ihm das mitteile. Sein Sohn fährt mich zum Bus nach Jerusalem.
Auf halber Strecke halten wir an, es ist der Grenzübergang. Hier sind die Kontrollen rigide. Zunächst steigt die Hälfte der Insassen aus. Ich schaue mich perplex um, weiß nicht was ich tun soll und bleibe sitzen. Zwei junge Männer in olivgrüner Uniform, das Maschinengewehr über den Rücken geschnürt, steigen ein. Sie kontrollieren die Pässe und nehmen einige mit, auch meinen Reisepass. Vor dem Bus geschieht das Gleiche.
Fünf Minuten später kehren sie zurück, drücken uns die Ausweise in die Hand, alles okay. Die Ausgestiegenen steigen wieder zu. Der Bus fährt an, ich bin zurück in Israel. Wobei – habe ich Israel eigentlich verlassen? Kulturell ja, politisch schwierig zu sagen und militärisch nein. Eigentlich sollte ich jetzt schlauer sein, stattdessen bin ich verwirrt.
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Gerade zur aktuellen Zeit ein unglaublich schöner Artikel zu lesen. 🙂
Danke für diesen Wahnsinnig tollen Bericht. Mich hat Palästina schon immer irgendwie interessiert. Jetzt hast Du mir wohl den fehlenden Kick gegeben, noch dieses Jahr meinen Reisekoffer dorthin zu begleiten.
Mal sehen was Chef und Geldbeutel sagen, aber ich denke das sollte klappen
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