Wie gefährlich ist Quito?

Der Mann im Park trägt eine Mas­ke wie ein Bank­räu­ber: ein Kopf in Comic-Optik. Doch der Typ bedroht nie­man­den, er bringt die Men­schen zum Lachen. Meh­re­re Dut­zend sit­zen im Gras und hören den Sprü­chen des Mas­kier­ten zu. Mein Spa­nisch ist zu schlecht, um die Wor­te zu ver­ste­hen. Ich fra­ge einen Zuschau­er, wer hier dar­ge­stellt wer­den soll. Rafa­el Cor­rea. In Ecua­dor kann sich ein Kaba­ret­tist in einen Park der Haupt­stadt stel­len und öffent­lich den Prä­si­den­ten ver­spot­ten, ohne unan­ge­neh­me Fol­gen fürch­ten zu müs­sen.

Qui­to, das sind schnee­wei­ße Kir­chen, musea­le Gas­sen und schnee­be­deck­te Vul­ka­ne am Hori­zont. Was für ein Schmuck­stück. Der Par­que El Eji­do, die Büh­ne unse­res Komi­kers, liegt genau zwi­schen der Alt­stadt und dem Back­pa­cker-Vier­tel Maris­cal, also zwi­schen den zwei Haupt­or­ten, an denen sich Tou­ris­ten auf­hal­ten. Ich spa­zie­re zwi­schen den Vier­teln hin und her, als wäre es der harm­lo­ses­te Zeit­ver­treib der Welt. Doch ich gehe anschei­nend ein gro­ßes Risi­ko ein.

»Die Gefähr­dung durch Kri­mi­na­li­tät und Gewalt­be­reit­schaft ist in Ecua­dor hoch«, steht in den Rei­se- und Sicher­heits­hin­wei­sen des Aus­wär­ti­gen Amtes. Ein erhöh­tes Risi­ko bestehe in Qui­to. Hoch, höher, Haupt­stadt? Nun hat die staat­li­che Repres­si­on Anders­den­ken­der in den meis­ten Län­dern wenig mit der Sicher­heits­la­ge für Tou­ris­ten zu tun. Doch die hei­te­ren Men­schen im Park ver­mit­teln mir Sorg­lo­sig­keit. Kei­ne bösen Bli­cke, nicht ein­mal prü­fen­de. Kei­ner nimmt mich ins Visier und wägt ab, was bei mir zu holen wäre. Jeden­falls fällt mir nie­mand auf, und ich habe einen sen­si­blen Sen­sor für sowas.

La Maris­cal, Pla­za Foch. An dem zen­tra­len Platz sit­zen Dut­zen­de Ruck­sack­rei­sen­de in den Cafés und Restau­rants. Eine Live-Band spielt. Die Höhen­son­ne scheint kräf­tig, Qui­to liegt auf 2850 Metern. In den Sei­ten­stra­ßen fin­den sich vie­le Hos­tels, aber auch Agen­tu­ren, die Aus­flü­ge in die Anden anbie­ten, Wan­dern, Trek­king. Maris­cal wird Grin­go­lan­dia genannt, wegen der vie­len Tou­ris­ten. Klingt wie ein Frei­zeit­park.

Ich lau­fe nicht nur tags­über durch Maris­cal, son­dern auch nachts. Die Stra­ßen sind dann erst recht voll. Musik dringt aus Bars und Clubs, Lady Gaga und 50 Cent, Kon­sens-Pop. In den Läden mischen sich Ecua­do­ria­ner unter die Aus­län­der, Grin­gos kip­pen Shots, Tanz und Tem­pe­ra­ment, alles harm­los. Drau­ßen, gegen Mit­ter­nacht, sehe ich ein paar nicht so ein­deu­ti­ge Bli­cke in der Dun­kel­heit, was am Alko­hol­kon­sum lie­gen dürf­te. Die Bür­ger­stei­ge sind vol­ler Men­schen, alles safe. Ich lau­fe allein zu mei­nem Hotel, Ave­ni­da 6 de Diciembre, wie jeden Abend. Tags­über, nach dem ers­ten Kaf­fee, spa­zie­re ich durch Maris­cal. Grin­go­lan­dia, dies ist ein Ort für mich. Ich bin ver­gnügt.

In den Rei­se- und Sicher­heits­hin­wei­sen heißt es: »In grö­ße­ren Städ­ten, an tou­ris­ti­schen Schwer­punk­ten (z.B. Aus­geh­vier­tel Maris­cal Sucre in Qui­to) und in öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln kommt es in erheb­li­chem und wei­ter stei­gen­dem Umfang zu Dieb­stäh­len, Raub­über­fäl­len und Sexu­al­de­lik­ten.« Die Täter wen­de­ten ver­schie­dens­te Tricks an: Ablen­kungs­ma­nö­ver, Buß­geld-Erpres­sung unter Ver­wen­dung fal­scher Uni­for­men, Raub oder Ver­ge­wal­ti­gung nach Ver­ab­rei­chung von bewusst­seins­min­dern­den Dro­gen in Spei­sen, Geträn­ken oder auf Pro­spek­ten, Über­fäl­le durch Taxi­fah­rer in nicht regis­trier­ten Taxis, die aktiv Kun­den anspre­chen. Wie pas­sen die­se dras­ti­schen War­nun­gen mit mei­nen Ein­drü­cken zusam­men?

Es ist Som­mer 2016, als ich Qui­to besu­che. Als mein Arti­kel über Ecua­dors Haupt­stadt ver­öf­fent­licht wird, mel­det sich Blog­ger Flo­ri­an Blümm zu Wort und fragt skep­tisch nach: »Ich kann mir nicht vor­stel­len, dass man im Maris­cal mitt­ler­wei­le nach Ein­bruch der Dun­kel­heit auf die Stra­ße kann, oder?«

 
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Flo­ri­an war selbst Ende 2012 in Qui­to, wie er schreibt. Damals sei Maris­cal prak­tisch »Banden­ge­biet« gewe­sen. »Läden wur­den demo­liert. Das Hos­tel hat­te dicke Git­ter­stä­be.« Ein Deut­scher aus sei­nem Hos­tel sei früh­mor­gens auf dem Weg zum Bus mit dem Mes­ser über­fal­len wor­den und habe Kame­ra, Geld und alles außer den Rei­se­pass abge­ben dür­fen. Qui­to sei einer der unsi­chers­ten Groß­städ­te Süd­ame­ri­kas.

Flo­ri­an fragt: Hat sich in den ver­gan­ge­nen vier Jah­ren wirk­lich so viel ver­än­dert? Ich kann – ohne den Ver­gleich zu haben – nur mut­ma­ßen. Offen­bar schon.

Die Tele­fé­ri­qo ent­rückt mich von der Stadt. Die Seil­bahn führt zu den obe­ren Hän­gen des Rucu Pichin­cha. Wer die Kabi­ne ver­lässt, steht auf fast 4000 Metern, doch der Gip­fel ist immer noch fern. Gewal­ti­ge Anden. Dimen­sio­nen, die das Auge stän­dig täu­schen. Von hier oben ist der Blick spek­ta­ku­lär. Unten die Stadt, die sich über 50 Kilo­me­ter von Nor­den nach Süden durch das Hoch­tal schlän­gelt. Und in der Fer­ne die Vul­ka­ne. Aber was für wel­che. Links der Cayam­be, Ecua­dors dritt­höchs­ter Berg, 5796 Meter. Mit­tig der für Alpi­nis­ten anspruchs­vol­le Anti­sa­na. Und rechts der bekann­te Coto­pa­xi, der häu­fig Asche aus­spuckt, ein ver­glet­scher­ter, sym­me­tri­scher Kegel wie gemalt. Ich schaue, stau­ne, schie­ße Fotos.

Vie­le Men­schen haben sich an den Aus­sichts­punk­ten hier oben ver­sam­melt. Tages­aus­flüg­ler, Ein­hei­mi­sche. Man­che unter­neh­men Aus­flü­ge zu Pferd, eine Tages­wan­de­rung führt auf den Rucu Pichin­cha. Ich lau­fe ein paar Hun­dert Meter berg­an. War­ten auf die Nacht. Auf die blaue Stun­de, wenn die Son­ne nur noch die Glet­scher anstrahlt. Das Licht­spiel ist in alle Rich­tun­gen betö­rend. Bes­ser als Kino. Irgend­wann leuch­tet Qui­to in der Dun­kel­heit. Ich mache die letz­ten Fotos, mit Lang­zeit­be­lich­tung. Rasch wird es kalt, Zeit für mich, die Seil­bahn ins Tal zu neh­men.

Das Aus­wär­ti­ge Amt schreibt: »Auf Wan­der­stre­cken zu belieb­ten Tou­ris­ten­zie­len (z.B. Lagu­ne San Pablo und Was­ser­fall El Pegu­che bei Ota­va­lo, Vul­kan Pichin­cha via Berg­sta­ti­on Cruz Loma und in der Umge­bung von Vil­ca­bam­ba) kam es in der Ver­gan­gen­heit mehr­fach zu Über­fäl­len bzw. Gewalt­ver­bre­chen. Auf loka­le Hin­wei­se soll­te beson­ders geach­tet wer­den.« Klingt übel.

Wie sicher ist ein Ort auf Rei­sen? Das ist eine häu­fi­ge und schwer zu beant­wor­ten­de Fra­ge. Ich glau­be, es hängt sehr von der per­sön­li­chen Erfah­rung ab. Aber viel­leicht füh­le ich mich in Qui­to nur sicher, weil mir noch nie etwas Schlim­mes pas­siert ist. Alles halb so wild, bis der Ernst­fall ein­tritt? Alles Glücks­sa­che?

Am Rand der Alt­stadt, nahe der Jung­frau von Qui­to auf dem Pan­ecil­lo, ver­sto­ße ich mut­wil­lig gegen eine der wich­tigs­ten Sicher­heits­re­geln: kei­ne Wert­sa­chen offen zei­gen. Ich blei­be immer wie­der ste­hen, hole die Foto­ka­me­ra aus mei­nem Ruck­sack und neh­me mir Zeit für die vie­len hüb­schen Moti­ve. Ein Qui­te­no hält kurz an, kur­belt das Auto­fens­ter her­un­ter und ruft »¡Cui­da­te!« Vor­sicht! Ich igno­rie­re die nächs­te Regel: auf die Ein­hei­mi­schen hören. Aber ich schaue mich ganz oft um. Beob­ach­tet mich jemand? Nein. Spä­ter, am beleb­ten Pla­za de la Inde­pen­den­cia, hal­te ich den Mann im Auto end­gül­tig für einen über­vor­sich­ti­gen Kauz, den das Leben miss­trau­isch gemacht hat.

Kin­der füt­tern Tau­ben, Frau­en dis­ku­tie­ren den Tag, alte Män­ner sit­zen uner­gründ­lich schwei­gend unter den Bäu­men. Spring­brun­nen plät­schern, umringt vom Prä­si­den­ten­pa­last, der blü­ten­wei­ßen Kathe­dra­le und dem Luxus­ho­tel »Pla­za Gran­de«. Älte­re Tou­ris­ten in bei­ger Trek­king­klei­dung stol­pern etwas ungläu­big durch die Sze­ne­rie. Das Cen­tro His­tóri­co ist Pflicht­stopp orga­ni­sier­ter Rund­rei­sen. Ich stei­ge auf die Tür­me der Basi­li­ca de Volo Nacio­nal, trin­ke einen jugo im Café des alten Tea­t­ro Boli­var und kau­fe mir einen Schal aus Alpa­ka­wol­le. Vie­le Men­schen machen Sel­fies in den Stra­ßen. Gelös­te Stim­mung. Wie gefähr­lich kann ein Ort sein, an dem die Tou­ris­ten­po­li­zei auf Seg­ways patrouil­liert?

New York war ein­mal sehr unsi­cher. Als Tou­rist nach Har­lem zu fah­ren, erfor­der­te sta­bi­les Gott­ver­trau­en. Doch die Stadt räum­te auf, die Kri­mi­na­li­tät nahm ab. Ist etwas Ähn­li­ches in Qui­to pas­siert? Die Stadt hat jeden­falls auch eine Art Cen­tral Park, den Par­que La Caro­li­na. Aus der Vogel­per­spek­ti­ve ist die Ähn­lich­keit des Grund­ris­ses nicht zu über­se­hen. La Caro­li­na liegt lang gestreckt mit­ten in Qui­to an der Ave­ni­da Ama­zo­nas mit ihren Büro­tür­men. Der Park ist klei­ner als das Vor­bild am Big Apple, aber die Dich­te an Men­schen am Wochen­en­de ist ähn­lich. Min­des­tens.

Ich tre­te ein und ste­he qua­si auf einem rie­si­gen Volks­fest. In einer künst­li­chen Lagu­ne fah­ren Tret­böt­chen im Kreis. Die Men­schen spie­len Fuß­ball, Bas­ket­ball, eine ecua­do­ria­ni­sche Vari­an­te des Vol­ley­balls, sie jog­gen und tur­nen – die meis­ten lie­gen aller­dings ein­fach in der Son­ne, essen Eis und pas­sen auf, dass ihre Kin­der nicht aus­bü­xen. Ich set­ze mich unter den Schat­ten eines Bau­mes und beob­ach­te das Gesche­hen. Ich stand vor zwei Tagen auf dem Chim­bo­ra­zo, ich kann Ent­span­nung gebrau­chen. Der Sonn­tag ist son­nig und warm. Freund­li­che Bli­cke für den Grin­go. Das hier sind nicht die Armen und Ärms­ten. Die all­ge­gen­wär­ti­ge Hei­ter­keit wirkt voll­kom­men selbst­ver­ständ­lich.

Das bri­ti­sche Außen­mi­nis­te­ri­um erklärt, Über­fäl­le und Dieb­stäh­le sei­en »very com­mon« – beson­ders in La Caro­li­na. In der renom­mier­ten New York Times heißt es noch im März 2018, die Kri­mi­na­li­tät in Qui­to sei ein erheb­li­ches Pro­blem. Über­schrift des Arti­kels: »Five Desti­na­ti­ons That Call for Cau­ti­on«. Die ande­ren Risi­ko­zie­le sind Karat­schi, Cara­cas, Ho-Chi-Minh-City und Ran­gun. Das kommt mir ziem­lich will­kür­lich vor. Wem hilft die­se Infor­ma­ti­on?

Nach­dem ich die Stadt allein erkun­det habe, kann ich sagen: Ich hal­te Qui­to im Ver­gleich zu ande­ren süd­ame­ri­ka­ni­schen Groß­städ­ten nicht für beson­ders gefähr­lich. Jeden­falls nicht die Ecken, an denen man sich als Tou­rist auf­hält. Die gän­gi­gen Sicher­heits­tipps soll­te man trotz­dem beher­zi­gen und sich nur dar­über hin­weg­set­zen, wenn man glaubt zu wis­sen, was man tut – und dann kann man natür­lich immer noch Pech haben, wie über­all auf der Welt. Wer aber nur die Sicher­heits­hin­wei­se liest, bekommt den Ein­druck, Qui­to sei ein bedroh­li­cher Hexen­kes­sel. Das ist mit der Wirk­lich­keit vor Ort nur schwer ein Ein­klang zu brin­gen.

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Antworten

  1. Avatar von antalya gezilecek yerler

    Ein sehr schö­ner Arti­kel! Dan­ke

  2. Avatar von Ernesto
    Ernesto

    Das Risi­ken bestehen, heißt eben nicht, dass sie sich bei jedem mate­ria­li­sie­ren. Die Ein­tritts­wahr­schein­lich­keit liegt nicht bei 100%. Das AA warnt auch, wenn »nur« 1, 2 oder 5 Pro­zent der Tou­ris von schwe­rer Kri­mi­na­li­tät und ggf. einer Gefahr für Leib und Leben betrof­fen sind. Und es warnt zurecht. Das bedeu­tet im Umkehr­schluss, dass 95–99% der Tou­ris nicht betrof­fen sind (und dann im Nach­hin­ein in Online-Foren schrei­ben, dass sie sich total sicher gefühlt haben und das AA kei­ne Ahnung hat).

    Das AA hat aber schon Ahnung. Wenn Tou­ris beklaut oder beraubt wur­den, dann sind in vie­len Fäl­len auch Pass, Kre­dit­kar­ten usw. weg. Die Tou­ris gehen dann häu­fig trotz­dem nicht zur Poli­zei, weil sie sich von der Poli­zei in Ent­wick­lungs- und Schwel­len­län­dern nur noch mehr Zeit­ver­lust und kei­ne Hil­fe erwar­ten. Des­we­gen sind offi­zi­el­le Kri­mi­na­li­täts­sta­tis­ti­ken manch­mal nicht sehr aus­sa­ge­kräf­tig. Zur Bot­schaft müs­sen sie dann aber zwangs­wei­se. Da bleibt kei­ne Wahl. Des­halb bekom­men die Bot­schaf­ten so eini­ges mit, sehen Fall­zah­len und aktu­el­le Ent­wick­lun­gen.

    Grund­sätz­lich soll­te man nicht immer den­ken, man wüss­te nach 2 Wochen Rei­se alles bes­ser, als die Bot­schafts­mit­ar­bei­ter, die seit Jah­ren vor Ort leben und im Wesent­li­chen die War­nun­gen des AA spei­sen. Sicher: Wie immer, wenn Men­schen invol­viert sind, spielt Sub­jek­ti­ves eine Rol­le und pas­sie­ren Feh­ler. Eini­ge alte War­nun­gen vor poten­ti­el­len Gefah­ren wer­den viel­leicht auch »sicher­heits­hal­ber« zu lan­ge ste­hen gelas­sen.

    Dane­ben spie­len das eige­ne Auf­tre­ten und die eige­ne Erfah­rung des Tou­ris eine sehr gro­ße Rol­le für die Wahr­schein­lich­keit, ob man zum Opfer wird oder nicht.

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