Dein Warenkorb ist gerade leer!
Trench Town, Jamaika
Kaum haben wir den Culture Yard verlassen, sind wir in einer anderen Welt.
War im Yard alles mit einer Art nostalgischem Schleier überzogen und der Rost, der abblätternde Putz und die verwitterten bunten Farben der Außenwände von einem fast schon romantischen Hauch der Vergänglichkeit umgeben, dann ist das hier das Gegenteil.
Die Wellblechhütten, die Autowracks, die Einschusslöcher an einigen Wänden:
Kein verklärtes Überbleibsel vergangener Zeiten. Das hier ist echt.
Wir laufen exakt zehn Meter, als wir angesprochen werden.
Zwei junge Typen kommen lachend auf mich zu und schneiden uns den Weg ab. Zwei überschwängliche Handschläge und zwei Umarmungen, zwei Stimmen die auf mich einreden und zwei Hände, die mich mit sanfter Gewalt in ihr Haus am Wegesrand schieben wollen. Ich blicke etwas besorgt zu Mickey, aber der signalisiert mir, das alles cool ist und folgt uns ins Innere des kleinen Häuschens. Das Haus besteht aus nur einem Raum, der zur Hälfte mit einem Bett ausgefüllt ist und zur anderen mit einer kleinen Kochnische, einem Wachbecken und einem wackeligen Holztisch mit vier noch klapprigeren Stühlen, auf die wir uns setzen. Ich versuche das Relikt auf dem ich sitze nicht mit meinem ganzen Gewicht zu belasten, aber auch so knarrt er bereits bedrohlich.
Die beiden sind natürlich Musiker, wie gefühlt jeder auf dieser Insel. Sie spielen mir ein paar ihrer Songs vor und ich bin angenehm überrascht.
Ich kaufe eine CD, da sie uns ansonsten wahrscheinlich nicht gehen lassen würden und sage ihnen, dass wir weiter müssen.
Trench Towns Zentrum besteht, grob gesagt, aus 14 Straßen, der 1st bis 14th Street, die parallel zueinander verlaufen. Auch, wenn sich diese Straßenstruktur weitestgehend erübrigt hat. Denn die meisten Einwohner Trench Towns wohnen nicht in diesen Straßen, sondern dazwischen. Zwischen jeder der Straßen ist über die Jahre ein wahres Labyrinth aus kleinen Hütten aus Wellblech und zusammengenagelten Brettern, verfallenen Betonwänden und winzigen Gärten in denen Gemüse angebaut wird gewachsen.
Die alten Häuser und die buntbemalte Betonwände an den Hauptstraßen lassen die Welt dahinter nur erahnen.
Obwohl die Bereiche zwischen den einzelnen Straßen objektiv betrachtet gar nicht so groß sein können, wie sie mir gerade erscheinen, verliere ich schnell jegliche Orientierung. Zu verschachtelt sind die schmalen Gassen, die sich zwischen den Häuschen und Schuppen hindurch schlängeln.
So einfach die Hütten auch gebaut sind und so wenig man die Armut, die in diesem Teil Kingstons herrscht leugnen kann, so erstaunt bin ich, wie ordentlich alles ist.
Es ist sogar wesentlich sauberer als in Downtown Kingston, dem Zentrum der Stadt. Dort sind die Straßen meist gesäumt mit Müll. Fauliges Gemüse, Plastikmüll und Essensreste sammeln sich in den Rinnsteinen und in den Häuserecken und sorgen bei Sonnenschein für einen süßlich-beißenden Geruch, an den ich mich mittlerweile allerdings schon fast gewöhnt habe.
Hier findet sich nichts dergleichen. Die Wege sind zwar weder gepflastert noch geteert, sondern bestehen schlicht aus plattgetretenem Schutt, doch die sind müllfrei und sauber.
An allem hat der Zahn der Zeit zwar starke Spuren hinterlassen, doch man kann sehen, dass die Bewohner der Gegend ihr Bestes geben, um dem Verfall entgegenzuwirken.
An den Wäscheleinen vor den Häusern hängt frisch gewaschene Wäsche.
Aus kleinen Schornsteinen steigt Qualm empor. Es riecht nach Essen.
Eine Frau sitzt auf der Stufe vor der Eingangstür ihrer Hütte, wäscht in einer eisernen Waschschüssel die Schuluniformen ihrer Kinder und hängt sie anschließend zu den anderen Kleidern. Ein paar Kinder spielen Fußball auf einem kleinen Schotterplatz, mit einem Ball, der mehr aus Flicken besteht als aus Leder.
Mikey hat nicht gelogen. Ihn scheint tatsächlich jeder zu kennen. Wo wir auch lang laufen wird er gegrüßt. Es dauert nicht lange und ich bin mir sicher, jedem Einwohner von Trench Town die Hand geschüttelt zu haben.
Die Menschen, die wir treffen, jedenfalls geben mir nicht das Gefühl ein Fremdkörper zu sein.
Wir bleiben immer wieder stehen, reden mit den Leuten, über Jamaika, über Trench Town, über Deutschland.
Die Typen, die neben uns auf einer Mauer sitzen, wollen nicht glauben, dass es in Deutschland gerade am Schneien ist.
»Fuck, Mann. Habt ihr Schwarze in Deutschland?«, fragt mich einer von ihnen.
»Klar«, lache ich.
»Und wie überleben die im Schnee?«
Ich muss trotz der ernst gemeinten Frage lachen, aber die anderen nehmen es mir nicht übel und stimmen mit ein.
Mickey wird aufgefordert ein Lied zu singen. Eine Bitte, der er allzu gerne nachzukommen scheint.
Jetzt steigen auch die anderen ein. Ein Typ beginnt zu beatboxen, ein anderer trommelt mit den Händen auf einer Mülltonne und ein dritter freestylt dazu.
Die Impro-Jam-Session zieht ein paar Schaulustige an, die allerdings eher auf mich fixiert zu sein scheinen als auf die Sänger.
»Hey Süßer, willst du ficken?«, fragt mich eine Frau und klimpert lasziv mit ihren aufgeklebten Wimpern.
»Ne, danke«, antworte ich höflich, aber sie lässt nicht locker.
»Keine Angst, ich bin sauber. Und billig«, sagt sie. Und als hätte sie damit irgendeine unsichtbare Barriere durchbrochen, scheinen plötzlich auch die umstehenden Typen die Chance gewittert zu haben einen schnellen Dollar mit mir zu machen.
»Willst du Ganja haben, Mann? Oder was anderes? Ich kann alles besorgen«, sagt ein Typ mit Basketball-Shirt und einer dicken Falschgold-Kette um den Hals.
Aber bevor ich antworten kann, geht ein anderer dazwischen.
»Hey, Mann, hast du ein bisschen Geld für mich? Meiner Tochter geht es nicht gut«, fragt er mich. Seine Lippen sind weiß und aufgesprungen und er sieht mich mit fahrigem Blick an. Keine Ahnung auf was für Zeug er drauf ist.
»Nein, Bruder, seiner Tochter geht es gut. Aber ich habe Hunger, Mann. Bitte, nur ein paar Dollar«, unterbricht ihn ein weiterer Mann, der vorher noch unbeteiligt an eine Mauer gelehnt stand und sich nun zwischen uns schiebt und meinen Arm anfasst, während die Frau abermals versucht mich zum Sex mit ihr zu überreden. Plötzlich reden alle durcheinander und beginnen, mich immer stärker zu bedrängen
Auf der anderen Straßenseite halten indes ebenfalls ein paar Leute an, begutachten die Situation zunächst kurz und kommen dann zu uns herüber.
»Süßer, ich mache alles was du willst. Alles! Wenn du willst, darfst du mich auch anpinkeln«, versucht es die Frau noch einmal und beginnt ihre Brüste zu reiben, woraufhin ich kurz so verstört bin, dass ich schlicht nicht weiß, was ich antworten soll.
Wir stehen plötzlich in einem enger werdenden Kreis aus sechs, sieben Männern und der Frau. Ein leichter Anflug von Panik überkommt mich.
Mickey merkt anscheinend ebenfalls, dass die Stimmung zu kippen droht, haut mir lachend auf die Schulter, sagt irgendwas zu der Frau und ihren Freunden auf Patois, das ich nicht verstehe, und zieht mich weg, während die Frau mir noch etwas hinterherschreit.
Zwei der Typen laufen noch ein Stück hinter uns her und rufen mir etwas Unverständliches zu.
»Einfach ignorieren, Mann«, sagt Mickey und zeigt auf eine der Hütten.
»Hier wohnt ein Kumpel von mir«, sagt er und fordert mich auf ihm ins Innere zu folgen.
Die Situation gerade hat etwas mit mir gemacht.
Das kurzzeitige fast schon heimelige Gefühl, das ich während der herzlichen Gespräche der letzten Stunden hatte, ist verflogen. Ich fühle mich plötzlich wie einer dieser typischen Armutstouristen, die einen Tagestrip aus ihrem abgesicherten Resort in ein umliegendes Slum machen, um ein »authentisches Erlebnis« zu bekommen, sich zu vergewissern, wie gut es ihnen doch eigentlich geht und diese Erkenntnis anschließend zuhause mit ihren Freunden bei einem Glas Wein zu teilen. Und wahrscheinlich bin ich wirklich nicht weit davon entfernt.
Klar, irgendwie redet man sich immer ein, dass man anders ist als die anderen. Besser, natürlich. Weniger voyeuristisch, kein Teil der Ausbeuter-Maschinerie, stattdessen nachhaltiger, individueller.
Interkulturell sensibilisiert und offen.
Ein Reisender, kein Tourist.
Aber allein die Tatsache, dass ich weiß, männlich und aus Europa bin, lässt mich den Fakt, dass ich einzig und allein aufgrund meiner Herkunft gesellschaftlich privilegiert bin, nicht kleinreden. So gerne ich dies auch würde. Nicht in einem Land wie Jamaika, das Jahrhunderte lang von Europa ausgebeutet und bis heute unter postkolonialer Ausbeute und dem Einfluss weißer Männer leidet.
Mickey allerdings behandelt mich nach wie vor mit der selben Offenheit und Unvoreingenommenheit wie schon am Anfang. Und auch sein Freund Gerain heißt mich herzlich willkommen.
Die ins Wellblech geschnittenen Fenster der Hütte haben keine Scheiben, der Boden hat keinen Belag, sodass das gesamt Mobiliar auf auf der Erde steht.
Auf einem kleinen Fernseher läuft Fußball.
Liverpool gegen irgendwen.
Ich interessiere mich zwar null für Fußball, bin aber plötzlich trotzdem fasziniert vom Spiel. Weniger vom Spielgeschehen selbst, als vielmehr vom Geschehen am Spielfeldrand, genauer gesagt Jürgen Klopp, der in seiner schwarzen Liverpool-Trainingsjacke neben der Seitenlinie steht und irgendwas aufs Spielfeld brüllt, wild gestikuliert und immer wieder in Richtung seines Co-Trainers schreit.
Wie man ihn kennt halt.
Es ist einfach zu skurril den ehemaligen Dortmund-Trainer, der mir mittlerweile eher durch seine Bier‑, Telefon‑, Rasieraparat- und Wasweißichfür-Werbeverträge auffällt, als durch seine sportlichen Aktivitäten, in einer Wellblechhütte mitten in Trench Town zu sehen.
»Jürgen Klopp«, sagt Mickey und zeigt auf den Fernseher.
»Ja, Mann, verrückt«, antworte ich, reiße meinen Blick vom Fernseher und schaue Gerain dabei zu, wie er das Pfeifenköpfchen einer zu einer Bong umgebauten Kokosnuss mit Gras füllt, anzündet, an einem Gummischlauch zieht und weiße Wolken in den Raum bläst.
Ich bin raus. Als eigentlicher Nichtraucher sind meine Lungen nicht für derartige Qualmmengen ausgelegt.
Mickeys und Gerains anscheinend schon, denn die beide barzen eine Kokosnuss-Bong nach der anderen weg, bis sich die kleine Hütte in eine rauchgefüllte Hot Box verwandelt hat.
Bei mir zuhause hätte wahrscheinlich schon einer der Nachbarn die Feuerwehr alarmiert. Hier nicht.
Für eine halbe Stunde sitzen wir schweigend vor dem Fernseher.
Ich denke an die Frau und die Typen von vorhin und kann dem Spiel nicht richtig folgen. Ich drehe mich zu Mickey und Gerain um. Den glasigen Augen der beiden nach zu urteilen, bekommen die beiden noch weniger vom Spiel mit als ich.
»Wie ist denn der weitere Plan?« frage ich Mickey.
»Hm?«
Mickey schreckt kurz hoch. Er scheint komplett vergessen zu haben, dass ich noch da bin, denn er blickt etwas verwirrt nach draußen, sieht, dass es mittlerweile bereits beginnt dunkel zu werden, schüttelt kurz seinen Kopf um klar zu kommen und steht auf.
»Wir müssen, Mann. Wird dunkel«
Obwohl der Culture Yard Luftlinie nur etwa 100 Meter entfern ist, hätte ich alleine nie herausgefunden. Ich verabschiede mich herzlich von Mickey, schwinge mich in ein Taxi und wir fahren durchs nächtliche Kingston zurück nach Hause.
Mittlerweile ist es dunkel und die Straßen werden beleuchtet von den Neonröhren der Geschäfte und den gelblichen Straßenlaternen am Wegesrand. Die Straße ist fast noch belebter als tagsüber. Überall wird Party gemacht, Musik gehört. Dancehall Kings und Queens zeigen ihr Können mit abgefahrenen Tanzeinlagen vor mobilen Soundsystems, die am Straßenrand aufgestellt sind und den ganzen Block beschallen. Der Bass reißt durch die Nacht. Ich kann die Vibrationen bis in meinen Brustkorb fühlen.
An nahezu jeder Straßenecke stehen qualmende, aus alten Öltonnen zusammengeschraubte Grills, auf deren Feuer das jamaikanische Nationalgericht, Jerk Chicken, vor sich hin brutzelt.
Der THC-Gehalt in meinem Blut macht sich bemerkbar, auch wenn das Gefühl des Rausches längst verflogen ist.
Jetzt kommt der Hunger.
»Halt mal kurz an«, sage ich zum Taxifahrer, als wir einen weiteren Grill passieren.
»Was geht ab, Mann? Warst du nicht gestern schon hier?«, fragt mich der Verkäufer, als ich über die Straße auf ihn zulaufe.
Nicht, dass ich wüsste.
»Kann sein, aber ich glaube eher nicht«, sage ich, aber er schüttelt nur lachend den Kopf.
»Klar, Mann. Sie kommen alle wieder! Papa Joe macht einfach das beste Jerk Chicken in Kingston, merk dir das«
»Ich werd’s mir merken«, sage ich und schaue dabei zu, wie Papa Joe eins der Hähnchen vom Rost holt, es auf einem versifften Holzbrett mit einer noch versiffteren Fleischaxt mit ein paar kräftigen Schlägen in drei Teile haut, auf einen Pappteller packt und mir in die Hand drückt.
Der Duft von Thymian, Zimt, frischer Limette und viel Knoblauch steigt mir in die Nase.
Ich blicke auf die drei Fleischteile in meiner Hand.
Dass man im Garten hinter Papa Joe und seinem Öltonnen-Grill ein paar Hühner gackern hört ist zugegebenermaßen etwas makaber. Andererseits habe ich selten solch glückliche Hühner gesehen wie in Jamaika. Statt in Legebatterien, hält jede Familie ihre eigenen Hühner, die frei durch den Garten, und manchmal auch die ganze Nachbarschaft laufen, bis sie dann irgendwann ihr Schicksal ereilt.
Ich blicke auf die Hühnerteile in meiner Hand und gehe davon aus, dass auch dieses Hähnchen heute morgen noch auf der anderen Seite des Zauns gegackert hat.
Wahrscheinlich hatte es sogar einen Namen.
Harald vielleicht. Harald Hahn.
Ich habe nicht mal ein schlechtes Gewissen.
Harald hatte mit Sicherheit ein gutes Leben. Und, dass er anschließend mehrere Stunden langsam gegrillt und mittlerweile zur Perfektion gegart wurde, innen saftig und außen knusprig ist, davon bekommt Harald nichts mehr mit.
Mein Gott, Jerk Chicken ist bereits nüchtern ein Genuss.
In diesem Moment ist es besser als Sex.
Mehr im nächsten Teil
Schreibe einen Kommentar