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Die Hardangervidda ist eine der unfreundlichsten Gegenden im norwegischen Winter. Der Fotograf und Abenteurer Martin Hülle hat in ihr jedoch ein zweites, eisiges Zuhause gefunden. Seit 10 Jahren kehrt er immer wieder dorthin zurück. Geschichten eines freiwillig Süchtigen …
Im Januar 2003 machte ich mich zum ersten Mal im Winter auf, eine Runde mit Ski und Pulka-Schlitten auf der Hochebene Hardangervidda zu drehen. Zu dem Zeitpunkt spielte ich schon mit dem Gedanken, Grönland zu durchqueren. Daher erschien mir die Gegend zur Vorbereitung ideal. Ich lief zur miesesten Zeit allein über das Hochplateau, und von den 12 Tagen, die ich unterwegs war, verbrachte ich fünf bei Sturm und White-Out im Zelt. Begegnet bin ich niemandem, aber es war auf jeden Fall ein gutes Training.
Kälterekord
Mein Herz schlägt für Polarabenteuer, und zur Vorbereitung auf Expeditionen ist die windumtoste Hardangervidda ein perfektes Gebiet, da die klimatischen Verhältnisse und die Topografie vergleichbare Bedingungen schaffen wie auf ausgedehnten Eiskappen. Natürlich ist es nicht schön, bei 33 Grad unter Null im Zelt zu sitzen. Ich erlebte meinen bisherigen Tiefstwert bei einer Januar-Tour. Der Dampf des heißen Tees gefror am Becherrand, und die Frage war durchaus berechtigt, ob das farbenfrohe Idyll am Himmel – diese blauen, roten und violetten Abendstunden – die Unannehmlichkeiten aufwiegt. Aber wie immer war es die Schönheit der Natur, die all die Strapazen nichtig machte.
Sturz in die Tiefe
Ein paar Jahre später lief ich mit Jerome Blösser über die Hochebene, um für ein Grönlandabenteurer zu trainieren. Aber Herausforderungen liegen oft näher, als man denkt. Wenige Stunden nach unserem Aufbruch in Haukeliseter verschlechterte sich das Wetter, jegliche Konturen verschwanden in dichten Wolken, die mit dem Schnee zu unseren Füßen zu einem einheitlichen Brei verschmolzen. White-Out! Ein Oben und Unten war nicht mehr zu unterscheiden. Ich glaubte einen Steinmann im Nichts zu erkennen und hielt auf diese Sommermarkierung zu, als mir urplötzlich die Beine wegsackten und ich in die Tiefe stürzte. Den Abgrund hatte ich beim besten Willen nicht erkannt. Der Fall ins Bodenlose dauerte eine gefühlte Ewigkeit, und mir ging durch den Kopf, worauf ich aufschlagen könnte. Eine Schreckensvision von spitzen Steinen. Doch nach Sekundenbruchteilen fing mich ein tief verschneiter Hang sanfter auf als befürchtet. Ich sortierte meine Beine, sah, dass nichts zu Bruch gegangen war, weder Mensch noch Ski, und blickte nach oben. In dem Moment kam Jerome an die Abbruchkante. Er war hinter mir hergelaufen und hatte im Gegenwind nur auf seine Skispitzen gestarrt und meinen rasanten Abgang gar nicht mitbekommen. Als er mich dann unter sich entdeckte, war es auch für ihn zu spät. Er konnte seinen eigenen Absturz nicht aufhalten und fiel ebenfalls in den metertiefen Graben. Wie eine Granate schlug er neben mir ein. Doch bis auf ein kaputtes Zuggestänge an den Pulkas kamen wir mit dem Schrecken davon. Fast ein Wunder. Nachdem uns das Entsetzen aus den Augen gewichen war und wir unser großes Glück realisierten, verfielen wir in hysterisches Gelächter. Von da an tasteten wir uns behutsamer über die Hardangervidda, bei weiterhin meist schlechter Sicht, in der sich nur selten die Sonne zeigte und die Szenerie in ein fahles Licht tauchte.
Mit Fondue ins neue Jahr
Einen besonderen Jahreswechsel erlebte ich einst unweit der Tuva-Hütten. Wenige Tage nach Weihnachten waren wir in Finse aufgebrochen und liefen in einem Bogen ostwärts über Krækkja und Heinseter zurück in Richtung Bahnlinie. Zur Freude meines Schweizer Tourpartners gab es am Silvesterabend Käsefondue. Das Brot dazu hatte die Minusgrade einigermaßen schadlos überstanden, und das Essen war ein Genuss. Nur der Sekt blieb eingefroren unangetastet im Schlitten. Später stiegen über den umliegenden Bergrücken ein paar Raketen in den klirrend kalten Nachthimmel auf, die wohl im nahen Ustaoset zu früh gezündet worden waren. Den eigentlichen Übergang ins neue Jahr verschliefen wir tief und fest in unseren kuscheligen Schlafsäcken.
Der besondere Kick
Allein in der Spur, die Verantwortung für alles tragen. Solotouren über die Hardangervidda sind vor allem in den frühen Wintermonaten eine lockende Herausforderung. Die Chancen stehen gut, keiner anderen Menschenseele zu begegnen. Die Aussicht auf diese Einsamkeit entfachte auch bei mir einen zusätzlichen Kitzel – völlig frei durch die Berge zu ziehen, ist ein erhabenes Gefühl. Aber es setzt Erfahrung voraus. Die beste Sicherheit – neben guter Ausrüstung – ist zu wissen, was man zu tun und zu lassen hat. Und zwar nicht erst dann, wenn es brenzlig wird, sondern auch schon vorbeugend. Dieses Wissen muss man sich über viele Touren erarbeiten, und es ist sinnvoll, klein anzufangen und die Schwierigkeiten der Unternehmungen nach und nach zu steigern. Wenn man weiß, was man tut, ist es besonders. Die ohnehin weit auseinander liegenden Pole zwischen unerträglicher Kälte, der oft zermürbenden Anstrengung des Schlittenziehens, dem „Kampf mit den Elementen“ und der Freude über einen wärmenden Sonnenstrahl, einen Schokoriegel zur rechten Zeit oder auch mal eine Sicherheit spendende Hütte sind allein erlebt umso intensiver.
Als Guide unterwegs
Der Hardangervidda-Klassiker ist eine Nord-Süd-Überquerung der Hochebene von Finse bis nach Haukeliseter. Oder umgekehrt. Mindestens acht Tage sollte man für die Tour einplanen, um auch mal einen Schlechtwettertag aussitzen zu können. In den letzten Jahren habe ich als Guide mehrere Gruppen über die Hardangervidda geführt und konnte anderen meine Erfahrungen weitergeben. Gemeinsam durch dick und dünn zu gehen war auch für mich eine Bereicherung. Die Gegend ist eine wahrlich weiße Wüste. Vor allem im flacheren Ostteil scheint die Einsamkeit bis jenseits des Horizonts zu reichen. Ohne jegliche Markierung kann die Orientierung in der weitläufigen Landschaft allerdings schwierig werden. Erst ab Anfang März werden einige Routen mit Ästen versehen, die den Skiwanderern auch im miesesten White-Out die Richtung weisen. Über die „Kvisteruter“, die abgesteckten Wege, sollte man sich vorab informieren und Änderungen aufgrund des Wetters oder wegen der Schneebedingungen bei der Planung einer Route immer bedenken. Im vorigen Winter erwischte uns das Wetter besonders schlimm, und sehr oft war es stürmisch. Für unsere zehnköpfige Gruppe hatten wir ein separates Kochzelt dabei, worin wir jeden Abend und jeden Morgen zusammenkamen, um gemeinsam zu essen. Das große Zelt war den Naturgewalten natürlich stärker ausgesetzt und nicht so windschnittig wie die kleineren Schlafunterkünfte. Eines Morgens traute ich nach einer durchrüttelnden Nacht meinen Augen nicht. Unter Schneemassen begraben, versteckte sich ein Haufen Elend mit gebrochenen Gestängebögen und zerfetzter Außenhülle. Wir waren gewarnt und bargen Kocher und Überreste aus unserem Speisesaal. Fortan mussten wir uns auch zum Kochen auf die übrig gebliebenen Zelte verteilen, die wir bei Sturm und Windstärke Neun penibel sicherten.
Aber wie sagten wir uns während der turbulenten Tour immer wieder: „Es könnte noch schlimmer kommen!“ So erreichten wir das Ziel glücklich und voller Stolz. Darüber, uns mit der harschen Natur arrangiert zu haben. Und voller Freude, sie so intensiv gespürt haben zu dürfen.
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Gerade habe ich das Buch »die Brückenbauer« von Jan Guilloou gelesen und
an Hand dieser Beschreibungen der wirklich eindrucksvollen Landschaft und Witterungsverhältnissen, festgestellt, dass es sich bei dem wunderbaren, interessanten und erstklassig recherchierten Inhalt um ein tolles Buch handelt!
Viele der gelesenen Ereignisse konnte ich hier bestätig finden. Danke dafürAch je, jetzt fühl ich mich nach meiner abgebrochenen Hardangervidda-Tour im August erst recht wie eine richtige Trekking-Memme 😉 Super schöne Bilder. Im Winter ist es echt noch schöner als im Sommer!
Es ist schon erstaunlich wie schnell sich der menschliche Körper an das Draußensein bei ungewohnt niedrigen Temperaturen anpasst.…
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