4 Wochen Chaos im Kopf

Blen­heim ist grau. Fast 17 Pro­zent der Men­schen hier sind über 65. Vier Pro­zent mehr als im Lan­des­schnitt. Blen­heim ist das Baden Baden Neu­see­lands. Nur ohne Kasi­nos.

Aber ein­mal im Jahr, im Spät­som­mer, wenn die Tau­ben prall, saf­tig und schwer an den Reben hän­gen, ist das anders. Dann kommt sie, die Jugend: Chi­ne­sen, Viet­na­me­sen, Süd­afri­ka­ner, Argen­ti­ni­er, Tsche­chen, Fran­zo­sen, Por­tu­gie­sen, US-Ame­ri­ka­ner, Chi­le­nen, Sam­bier, Hol­län­der, Fin­nen, Ira­ner, Deut­sche. Jung, mit Kraft und Taten­drang, strö­men sie in den klei­nen Ort im nörd­li­chen Marl­bo­rough, um aus Trau­ben Wein zu machen.

© Maxwell Leonard

Tag und Nacht pres­sen sie Pinot Gri, Pinot Noir, Sau­vi­gnon Blanc, Ries­ling, Gewürz­tra­mi­ner, Chen­in und Shiraz. Sie schlep­pen Schläu­che, mon­tie­ren sie an Tanks, pum­pen den süßen Saft vom einen in den nächs­ten, schrub­ben Edel­stahl, rüh­ren Hefe an, fer­men­tie­ren, ver­kos­ten, ver­fei­nern und zau­bern so aus Zucker Alko­hol, von dem dann behaup­tet wer­den wird, er schme­cke nach Sau­er­kir­sche, Toma­ten­blatt, Pfef­fer und grü­ner Papri­ka.

© Lucie Vyhnalová

In dem biss­chen Frei­zeit zwi­schen den 12-Stun­den-Schich­ten über­fal­len sie die Hand­voll Pubs im Ort. Sie fei­ern sich, ihre geta­ne Arbeit, ihre Fremd­sein und dass alles egal ist. Haupt­sa­che die Pum­pen ste­hen nie still. Sie spü­len den süßen Most mit Bier her­un­ter und ste­hen in der nächs­ten Nacht wie­der in den Hal­len – die Haut ver­schwitzt von der schwe­ren, feuch­ten Luft, die Gedan­ken bene­belt vom Alko­hol und von einem Schlaf­rhyth­mus, der kei­ner mehr ist. Aus den Laut­spre­chern wum­mern die Bäs­se, die Säf­te stei­gen und es geht von vor­ne los.

Es ist eine der letz­ten Nacht­schich­ten der Wein­le­se 2014, 1:45 Uhr. Ich ste­he auf einer Lei­ter, mit­ten im hef­tigs­ten Sturm, den Marl­bo­rough in die­sem Jahr gese­hen hat. Ich schaue ins Inne­re eines 90.000 Liter Tanks. Über mei­ner rech­ten Schul­ter hängt ein blei­schwe­rer Schlauch, durch den mit 500 Bar kla­rer Trau­ben­saft schießt. Das Was­ser strömt an dem quietsch­gel­ben Ölzeug hin­ab, mei­nem Bana­na-Suit. Es fließt direkt in mei­ne Gum­mi­stie­fel und mischt sich dort mit kleb­ri­ger Mai­sche. Nas­se Socken, die 24. Noch sie­ben Stun­den bis zum Schich­ten­de.

Sol­che Momen­te sind kost­bar. Kei­ne Hek­tik. Was soll man jetzt schon ande­res tun? Zeit zum Nach­den­ken: an zu Hau­se, an ver­pass­te und an genutz­te Chan­cen, an emo­tio­na­le Fehl­in­ves­ti­tio­nen und an das, was noch kommt.

Und da ist sie end­lich, die Sinn­fra­ge: Was soll das eigent­lich? Muss es immer rei­sen sein? Muss ich hier am ande­ren Ende der Welt ste­hen, die Hän­de auf­ge­platzt von Wein­säu­re und Des­in­fek­ti­ons­mit­tel, mit Mus­kel­ka­ter und müden Augen? Hät­te es nicht auch ein­fach ein nor­ma­les Ange­stell­ten­ver­hält­nis getan? Eine semi-auf­re­gen­de Bezie­hung mit einem ver­nünf­ti­gen Mann mit Aus­sicht auf eins, zwei Kin­der, die in acht Jah­ren Drei­er in Mathe nach Hau­se brin­gen? Mit Mani­kü­re ein­mal die Woche und Shop­ping­tou­ren mit den Mädels? Und dann in aller Lan­ge­wei­le grau wer­den.

Nein. Das hier, Wein­ma­chen im Regen am ande­ren Ende der Welt, ist jetzt genau das Rich­ti­ge. Das hier sind genau die rich­ti­gen Men­schen. Das hier ist genau das rich­ti­ge Leben. Mein Leben.

© Maxwell Leonard

Nach nur vier Wochen ist der Spuk vor­bei. Die Ern­te ist ein­ge­fah­ren, die Pum­pen ste­hen still und die Wein­ar­bei­ter aus aller Welt ver­las­sen die Stadt. Blen­heim wird wie­der grau.

»Das Leben ist nicht das, was man gelebt hat, son­dern das, wor­an man sich erin­nert und wie man sich dar­an erin­nert – um davon zu erzäh­len«, hat Gabri­el Gar­cía Már­quez gesagt.

Ich samm­le Erin­ne­run­gen, um davon zu erzäh­len. Eine Wein­le­se in Marl­bo­rough ist eine davon.

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Antworten

  1. Avatar von Tabitha

    Ja, immer der Gedan­ke an die ver­damm­ten Alter­na­tiv­kos­ten.
    Aber Du machst es genau rich­tig. Denn Du sam­melst jede Men­ge Erin­ne­run­gen, Far­ben und Geschich­ten.

  2. Avatar von Alex

    Tol­ler Bei­trag. Das letz­te Foto im Bei­trag der Ham­mer.

    Bes­te Grü­ße

    geschrie­ben mit licht

    http://geschriebenmitlicht.wordpress.com/

  3. Avatar von Mah

    Hach. ja. Das kenn ich. Und dann schnappt alles wie­der zurück an den rich­ti­gen Platz und man weiß, hier und jetzt, das ist genau das was ich will.

  4. Avatar von Sven B.

    Schö­ner Arti­kel. Stel­len­wei­se hängt ein Bein schon auf dem Nach­bar­grund­stück des gran­ti­gen Her­ren Zynis­mus, aus­ge­gli­chen durch ein mun­te­res Blin­zeln rie­si­ger Oden­wäl­der Augen. Ein ech­ter Pia.

  5. Avatar von Jonas
    Jonas

    »[…] wenn die Tau­ben prall, saf­tig und schwer an den Reben hän­gen […]« Dan­ke, made my day. XD

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