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Die Sadhus, die »Heiligen Männer«, sind sicher die ungewöhnlichste Erscheinung Indiens. Sie haben dem weltlichen Leben entsagt, leben in Askese und widmen ihre Existenz ausschließlich dem Streben nach Erleuchtung. Sie leben in der Nähe eines Tempels, als Eremiten in Höhlen, in Ashrams oder sind völlig heimatlos auf ständiger Wanderschaft.
Auch Sannyasin genannt, stählen sie sich als Wandermönche von der Welt abgewandt in Askese, Selbstkontrolle und Yoga. Ihr ganzes Streben ist darauf fokussiert, Moksha zu erreichen, die Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten (Samsara) durch Vereinigung mit dem Göttlichen. Erlösung ist in dieser Vorstellung nur dann möglich, wenn kein neues Karma mehr entsteht, weder positives noch negatives. Eine weitere Grundvoraussetzung ist die Erkenntnis, dass die äußere (materielle) Welt reine Täuschung ist und sich das Absolute dahinter verbirgt, eine transzendente Wahrheit.
Auch in den »Reformbewegungen« des Hinduismus, dem Jainismus und dem Buddhismus, gilt dies als höchstes Ziel. Moksha ist gleichzusetzen mit dem im Westen bekannteren Begriff Nirwana, den die Buddhisten verwenden.
Sannyasa ist eigentlich erst die letzte der vier Stufen eines idealen Hindu-Lebens, das im Dharma, der hinduistischen Ethik, als erstrebenswert angesehen wird. Im letzten Abschnitt des Lebens besteht die Aufgabe, sich von allem Weltlichen zu lösen und sich als Wanderer auf die Suche nach Erlösung zu begeben. Dabei werden die Eremiten durch milde Gaben von den Gläubigen unterstützt. Die Sadhus treten diesen Weg schon früher an. Sie wollen Jivanmukti erreichen, das heißt, bereits im Leben befreit sein.
Man geht davon aus, dass vier bis fünf Millionen Sadhus in Indien leben. Die allermeisten sind Männer, es gibt aber auch weibliche Vertreter.
Besonders im Himalaya trifft man viele Sadhus an, die dort in Höhlen ihren Willen trainieren. Ihre Hauptstadt ist jedoch Varanasi, denn dort zu sterben gilt als besonders verheißungsvoll, um Samsara zu überwinden.
Als ich selbst den Totenfeuern in Varanasi beiwohnte, betrachtete ich einen Naga Baba, einen Mann, der nichts weiter am Körper trug als die »heilige Asche« der Totenfeuer. In seinen Augen brannte ein Feuer, gestählt durch die Erfahrung des Alleinseins und der Askese. Er schien entrückt, in einer Art stiller Ekstase. Er wirkte, als habe er sich unendlich weit von dieser Welt entfernt.
Ich fühlte mich am stärksten zu den Vertretern hingezogen, denen der Schalk im Nacken saß. Sie belächelten alle, die ausschließlich in der materiellen Welt nach Erfüllung suchten, aber nicht minder sich selbst. Das hatte nichts Überhebliches, sondern etwas großväterlich Nachsichtiges an sich.
Einige kennen diese Begierden nur zu gut, sie hatten früher ganz »normal« gelebt. Doch irgendwann hatten sie erkannt, dass sie nicht glücklich waren, und hatten eine radikale Kehrtwende vollzogen. Nun strebten sie danach, die Welt der Begierden und Täuschungen konsequent hinter sich zu lassen.
Natürlich findet man auch lustige und grimmige Scharlatane, die es eher auf das Geld der Touristen abgesehen haben und wilden Hokuspokus veranstalten. Besonders häufig trifft man diese Vertreter an heiligen Orten wie dem Pushkarsee oder den Verbrennungsstätten am Ganges. Aggressiv fordern sie völlig übertriebene Gelder für Kleinigkeiten ein. Man sollte nicht darauf eingehen und sich bedrängen lassen!
Besonders bizarr sind bestimmte Praktiken der Sadhus, beispielsweise jahrelang nur auf einem Bein zu stehen oder den Arm nach oben gereckt zu halten.
Das Rauchen von Haschisch ist weit verbreitet unter den »heiligen Männern«. Der Konsum von Cannabis erleichtert die Meditation und das lange Verharren in ebenjenen steifen Posen. Shiva, einer der drei »Hochgötter« des Hinduismus wird von den Sadhus als Ganja rauchender und meditierender Asket besonders verehrt. Andere Sadhus lehnen Ganja als Ablenkung ab.
In meinen Augen sind die Sadhus die Antagonisten des Fortschrittsversprechens und der Fixierung auf die materielle Welt, der längst universell nachgeeifert wird. Sie machen viel von der spirituellen Anziehungskraft aus, die Indien auf die meisten Besucher ausübt. Viele sind nach Indien gereist, um dort eine mystische Welt jenseits ihrer durcherklärten Welt zu suchen.
Solange Sadhus auf den Straßen Indiens überleben können und Respekt genießen, wird es ein ungewöhnliches Land bleiben, ein Gegenmodell. Daran kann bislang die Moderne nichts ändern, trotz allem, was sich aktuell an der Oberfläche verändert.
Weil das größte Pilgerfest der Welt
in Indien stattfindet
Das größte indische Pilgerfest, die Kumbh Mela, zieht Sadhus magisch an. Aus dem ganzen Land ziehen sie an den Ganges, um sich von ihren Sünden reinzuwaschen. Die Kumbh Mela ist das größte religiöse Fest auf Erden.
Das »Fest des Kruges« geht auf die Legende vom »Quirlen des Milchozeans« zurück. Der Milchozean wurde von Göttern (Devas) und Dämonen (Asuras) gequirlt, um den Nektar der Unsterblichkeit zu gewinnen. Es brach Streit zwischen beiden Gruppen aus, wer von dem Elixier trinken darf, und dabei fielen vier Tropfen von Amrita (dem »Nektar der Unsterblichkeit«) auf den Boden. Wo sie die Erde berührten, entstanden die heiligen vier Städte, an denen die Kumbh Mela im Wechsel stattfindet.
Die Städte, in denen das Fest alle drei Jahre gefeiert wird, sind Allahabad (einst Prayaga), Haridwar (wo der Ganges die Tiefebene erreicht), Ujjain (am Fluss Shipra im Bundesstaat Madhya Pradesh) und Nashik (am Fluss Godavari in den Westghats). Allahabad gilt als besonders heilig, und hier finden alle zwölf Jahre die größten Zusammenkünfte am Zusammenfluss von Ganges, Yamuna und dem mythischen Fluss Sarasvati statt. Es gibt auch jährliche Zusammenkünfte (Magh Mela). Die bedeutendste Kumbh Mela findet alle 144 Jahre (12x12) statt. Die letzte war 2001.
Das Bad an diesen besonders verheißungsvollen astrologischen Konstellationen soll von allen Sünden befreien. Denn dann soll sich das Wasser der heiligen Flüsse in den Nektar der Unsterblichkeit (Amrita) verwandeln. So sollen sich 2013 in der Stadt Allahabad an nur einem Tag bis zu 30 Millionen Menschen versammelt haben, um ein reinigendes Bad im Ganges zu nehmen. Die Menschenmenge war sogar aus dem Weltraum zu erkennen.
Innerhalb kürzester Zeit entsteht eine Kumbhnagar genannte, gigantische temporäre Zeltstadt, die es an Größe, Trubel und Lärm mit jeder Megacity aufnehmen kann. Auch wenn es regelmäßig zu tödlichen Zwischenfällen kommt, ist erstaunlich, in welch geordneten Bahnen das auf den ersten Blick heillos chaotische Fest abläuft.
Für das Fest im Jahre 2001 wurden auf dem Sangam genannten Uferstreifen am Zusammenfluss von Ganges und Yamuna 140 Kilometer Straßen errichtet, Strom‑, Wasser- und Telefonanschlüsse verlegt, zahlreiche Pontonbrücken über die Flüsse gebaut und 20.000 Toiletten aufgestellt. 6.000 Müllmänner, 20.000 Polizisten und Tausende Freiwillige sorgten für ein Mindestmaß an Ordnung. Die Wassermenge des Ganges wird während des Festes reguliert, die Abwässer, die sonst ungefiltert im Fluss landen, werden in Reservoirs über die Festtage gelagert.
Die Kumbh Mela ist der Treffpunkt für Philosophen, Asketen, Heilig-Verrückte, Babas, Bettler, Sadhus, Pilger, Schaulustige, Swamis, Gurus und Yogis. Aus allen Ecken des Landes reisen gläubige Hindus für das Fest ganz selbstverständlich an, so wie es alle ihre Vorfahren taten. Für die einfachen Menschen ist es ein absoluter Höhepunkt, höchstens vergleichbar mit der Bedeutung der Hadsch, die jeder Muslim unternehmen will/muss. Unterwegs werden die Pilger selbstverständlich von der Bevölkerung verköstigt. Auch Jaina und Buddhisten werden von dem Fest angezogen.
Vor allem auf Sadhus wirkt das Fest wie ein Magnet, und die verschiedenen Mönchsorden, Akharas genannt, bevölkern die Flussufer. Die 13 Akharas existieren seit etwa 1.000 Jahren und wurden ursprünglich gegründet, um den inneren Zerfall des Hinduismus abzuwenden und sich gegen die »islamische Bedrohung« zu stellen.
Für die Sadhus besitzt die Kumbh Mela eine zentrale soziale Bedeutung und sie umgekehrt für die Organisation des Festes, bei der die Akhara eine wichtige Rolle spielen. Es ist ihre Agora, ihr Marktplatz, und bietet eine Unterbrechung von der inneren Einkehr.
Für manche Asketen ist die Kumbh Mela der einzige Grund, ihre Ashrams, Tempel oder Einsiedeleien und Höhlen zu verlassen.
Während der Feierlichkeiten werden auch (bis auf ein Haarbüschel am Hinterkopf kahl geschorene) Novizen in die Sadhu-Orden aufgenommen, und ihnen werden von ihren Gurus Mantras übergeben. Mit dem Bad im Fluss endet ihre Ausbildung zum Mönch.
Der Poet und Filmregisseur Ira Cohen besuchte die Kumbh Mela 1986 in Haridwar. In seinem sehenswerten Film Kings with Straw Mats, der 1998 erschien, berichtet er von einem »circus of high madness, true devotion and showbiz«, machte psychedelische Erfahrungen und meinte, die ganze Energie Woodstocks in einem einzigen Zelt von Sadhus auszumachen.
Tatsächlich hat das Ganze etwas von einem riesengroßen Rummel. Rauchige Essensstände bieten Kulinarisches, Lagerfeuer brennen. Aus scheppernden Lautsprechern erklingen Musik und Mantras. Allgegenwärtig ist das Friedensmantra »Shanti Om«, Chöre, Tempelgesang und Schellen erklingen. Bühnen und Podien werden aufgebaut, auf denen Symposien abgehalten und religiöse Lehrstücke aufgeführt werden, die bis zu 15 Tage andauern. Manche Orden ziehen mit reich geschmückten Festwagen ein.
Es ist ein bizarres, häufig groteskes Schauspiel, an dem die unterschiedlichsten Sekten teilnehmen. Einige treten aggressiv und militärisch auf und wirken furchteinflößend. Sie ziehen finstere Grimassen, nehmen angeberische Kampfpositionen und schreiten bewaffnet mit Lanzen, Dreizacken, Speeren und Schwertern durch die Menge. Tatsächlich kommt es manchmal zu gewalttätigen Übergriffen mit Toten, vor allem bei Streitigkeiten unter den Bruderschaften darüber, welche zuerst das reinigende Bad nehmen darf.
Andere beweisen, wie bereits zuvor angedeutet, ihre Willenskraft durch das bis zu zwölf Jahre lange Stehen, bevorzugt auch auf einem Bein oder einen Arm in die Luft gestreckt. Damit wollen sie die Überwindung der Schmerzen und ihres Egos unterstreichen. Das reicht über Fakir-Betten bis zu Sadhus, die mit ihrem Penis schwere Gewichte stemmen oder ihn zum Zeichen ihrer Keuschheit und Selbstüberwindung in ein Schloss zwängen. Andere praktizieren stundenlang die Meditation im Kopfstand. Einige haben ein Schweigegelübde abgelegt und machen sich durch Glöckchen bemerkbar. Hier sind eben alle vertreten: die Heiligen, die Verrückten, die Ausgestoßenen, die Rebellen, Quacksalber und Fanatiker. Als Meister der Askese gelten die Naga Babas. Wie im vorherigen Grund bereits beschrieben, sind sie nur mit Asche »bekleidet«, manchmal tragen sie auch einen Lendenschurz. Sie gehören zu den Juna Akhara, die als besonders militant gelten und sich häufig bei den Auseinandersetzungen um das Recht, als Erste im Nektar zu baden, hervortun. Sie praktizieren tantrische Rituale, trinken aus Schädeln, zeigen so, wie wenig ihnen die Welt der Lebenden bedeutet, die ihnen nur als Maya – als Täuschung – gilt. Sie gelten als radikalste Vertreter der Sadhus. Ihr aggressives Verhalten wirkt wenig fromm, sondern höchst provokant.
Die Teilnahme an einer Kumbh Mela gehört zu den größten Herausforderungen in Indien und gewährt zugleich einen unvergleichlich tiefen Einblick in jahrtausendealte Traditionen und Mythen. Das Fest bietet die einmalige Möglichkeit, Weisen zu begegnen, die sonst weltabgewandt leben, und das ganze Spektrum der heiligen/weisen Männer auf einer Palette bestaunen zu können. 2025 wird die nächste große Kumbh Mela in Allahabad stattfinden. Ich hoffe, dabei zu sein.
Die Spiritualität, die in Indien den Alltag vollständig durchdringt, spielt eine wichtige Rolle in meinem Buch. Hier einige Beispiele von weiteren Kapiteln, die sich diesem Aspekt widmen:
- Weil Varanasi Erlösung verspricht
- Weil Spiritualität in Indien allgegenwärtig ist
- Weil die Flussinsel Majuli von tanzenden Mönchen bewohnt wird
- Weil die Kuh heilig ist
- Weil in Madurai Tausende Jahre alte Rituale lebendig ist
- Weil »Mutter Ganga« von Sünden reinwäscht
Außerdem widmet sich ein Unterkapitel dem Thema »Götter und Mythen« und stellt die wichtigsten Götter Indiens vor.
Zu Varanasi habe ich bereits vor einigen Jahren eine »Reisedepesche« veröffentlicht: »Varanasi sehen und sterben«
»111 Gründe, Indien zu lieben« ist erschienen im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag in Berlin und umfasst 336 Seiten. Premium-Paperback mit zwei farbigen Bildteilen.
Bereits zuvor auf den Reisedepeschen veröffentlicht:
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Antworten
also bisher habe ich echt keine 100 % Meinung über Indien. Ich denk, dass man das Land erst einmal bereisen muss um es richtig kennenzulernen. Nach meinem Urlaub im Hotel Karersee werde ich mir das echt mal durch den Kopf gehen lassen.
Ich finde Indien ein bewundernswertes Land.Vor allem diese religiöse Lebensweise!Interessant sind die Jains, die schon seit 500Jahren Vegetarier sind und kleinste Lebewesen schützen.Sehr ergänzend zu unserem stark konsumorientierten Leben.
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