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Wir wollen nicht weg. Noch nicht. Vier Tage sind wir gelaufen. Entlang von Seen, auf Berge hinauf. Über feuchte Wiesen, von Bergen hinab. Unter den Regentropfen und durch die Wolken. Und immer vorbei an den Schafen. Manchmal haben wir auf Felsen gesessen und einen Schluck getrunken, doch wir sind jedesmal aufgestanden, bevor es zu bequem wurde. Irgendetwas hat uns immer wieder angetrieben, hier im Snowdonia-Nationalpark in Wales. Was war das?
Caernarfon (Wales)
Die Kleinstadt Caernarfon im Norden von Wales ist gar nicht so klein. Immerhin gilt sie als die inoffizielle Hauptstadt von Nordwales, sogar Prinz Charles wurde hier inauguriert. Trotzdem ist sie klein genug das Wegbeschreibungen wie: „You have to go to the bus station“ eindeutig sind. Und genau hier stehen wir jeden Morgen, vier Tage in Folge: Wasserflasche im Rucksack, Vorfreude im Bauch. Wir warten jedes Mal auf den Bus Nr. 88 Richtung Snowdonia-Nationalpark.
Walisische Zungenbrecher
Beim Einstieg stolpern wir immer über das gleiche Hindernis: Die walisischen Ortsnamen so auszusprechen, dass der Busfahrer annähernd erahnen kann, wo es wohl hingehen soll. Das ging bei Beddgelert noch recht problemlos, als wir aber nach Rhyd Ddu und Betws-y-Coed wollen, kommt es zu empfindlichen Verzögerungen des Nahverkehrs. Da bringt es auch nichts, wenn man, wie ich, das Wort einfach zehnmal laut sagt, ohne die Aussprache zu verändern.
Als der Bus endlich durch die Serpentinen kurvt, gleitet unser Blick über den 2000 km² großen Nationalpark voller Bergketten, klarer Seen und der ewig grünen Landschaft. Mittendrin Mount Snowdon. 1085 Meter gilt es also aufzusteigen, gewiss eine respektable Tagestour, aber nichts, was einen erfahrenen Bergwanderer unruhig schlafen ließe. Was zumindest vorübergehend die Frage aufwirft, ob die I survived Mount Snowdon – Shirts aus dem kleinen Laden am Fuße ironisch oder ernst gemeint sind. Immerhin ist er der höchste Berg von England und Wales und wir wollen gleich am ersten Tag hoch.
Warum wollen wir auf den Snowdon?
Viele Wege führen auf den Snowdon. Wir nehmen die Standardroute, den sogenannten Llanberis-Path. Startpunkt hierfür ist, surprise surprise, Llanberis. Ein Geheimtipp ist das gewiss keiner: Es ist viel los auf dem Weg. Wir teilen also nicht nur den schmalen Pfad mit vielen anderen Menschen, sondern vor allem den Gedanken, ein Ostermontag sei sinnvoll damit verbracht, 3 Stunden zu Fuß einen Berg zu besteigen, ein paar Minuten auf der Spitze auszuharren, nur um dann die gleiche Strecke wieder abzusteigen.
Und plötzlich sind wir mittendrin im Thema: Warum wandern wir überhaupt? Mal so ganz grundsätzlich. Was hat man am Ende des Tages davon, abgesehen von den unsäglichen Knieschmerzen beim Abstieg?
Die Antwort: Schwer zu sagen
Wer abends in den Bergstuben dieser Welt genauer zuhört, kann bisweilen einen gewissen Pathos verspüren: Mit roten Wangen sprechen Wanderer von der „Magie“ des Laufens, als sei ihr Hochgefühl rational kaum erklärbar. Man wolle mal wieder „den Kopf freikriegen“ oder sich den „Stress rauslaufen“ erzählt man sich einander und es scheint Einigkeit darüber zu herrschen, was wohl damit gemeint ist: die Überzeugung, dass am Ende eines Wandertages mehr zurückbleibt, als nur der Schlamm in den Rillen der Schuhsohlen. Im besten Fall eine Wirkung auf Seele und Geist – und wieder sind wir bei Begriffen, die wohl kaum einer so recht erklären kann.
Vielleicht funktioniert eine Wanderung als Analogie für das Leben. Es geht durch Berg und Tal, harte Arbeit wird belohnt und wer optimistisch bleibt, kommt leichter durch. Das Verlockende: Ein Wandertag ist planbar und das Happy End gewiss. Das funktioniert im echten Leben nur bedingt.
Die Spitze des Snowdon ist wolkenfrei als wir ankommen. Aber kühl. Möwen kreischen, sie wollen an unsere Verpflegung. Wir schießen ein Selfie, etwas Besseres fällt uns hier oben nicht ein. Wäre der Spruch „der Weg war das Ziel“ nicht schon so ausgelutscht, hätte ich ihn jetzt verwendet.
Vom Glück des Laufens
Tag 3 im morgendlichen Bus. Ein Rentner zeigt uns Fotos aus Neuseeland auf seinem Handy. Er fahre jetzt hinaus in den Snowdonia-Nationalpark und laufe dann die nächsten acht Stunden zurück nach Hause, sagt er. Einmal pro Woche mache er das so. Da kümmert sich einer um sein Wohlbefinden, denke ich mir. Das pure Laufen tut auch diesem Mann gut.
Wenn man nicht gerade am Ostermontag auf Mount Snowdon steigt, hat man größte Chancen sich in gänzlicher Einsamkeit mit der Natur im Snowdonia-Nationalpark auseinanderzusetzen. Heute laufen wir stundenlang alleine. Und wie wir auf einem Felsen rasten, werden vereinzelte Wanderer im Dickicht des Waldes erkennbar. Aus der Ferne wirken sie wie verlorene Seelen, umherwandernd, als suchten sie etwas, von dem sie eigentlich wissen, dass es nie auftauchen wird.
Ein trügerischer Blick: was so zerstreut aussieht, könnte zielgerichteter kaum sein. Beim Wandern setzen sie sich in Bezug zu ihrer Umwelt, zu sämtlichen Eindrücken, die sonst so unsortiert im urbanen Alltag auf sie einprasseln. Nicht die Natur macht das Leben kompliziert, sondern unsere menschlichen Geflechte. Hier draußen im Wald entsteht vielleicht ein Abstand, ein Blick aus der Vogelperspektive auf unser Wirken. Und während man den inneren Wust aufdröselt, ist das Außen minimal: Ein Weg und ein Auftrag: eine seltene Simplizität. Wo soll Reflexion sonst möglich werden, wenn nicht hier? Frischer Wind schärft immer die Gedanken.
Zu Zweit wandern, das ist eigentlich ein Thema für sich. Ich glaube, die besten Gespräche meines Lebens habe ich entweder bei einem Kaffee oder während des Wanderns geführt. Wenn sich der Rhythmus des Gehens angleicht, folgen die Gedanken nach. Die Gespräche sind klarer und offener, der Mensch wird zugänglicher. Wer Stärke fühlt, lässt Schwächen zu, was jedem Gespräch nur gut tut.
Der letzte Bus
Es gibt viele Touren durch den Snowdonia-Nationalpark. Und in fast alle Ecken des Parks fährt ein Bus. Oft wird mir geraten, ein Auto zu mieten, weil man so leichter überall hinkäme. Ich will das aber vermeiden: Mir gefällt es in der Dämmerung auf den Bus zu warten, der die verbleibenden Wanderer einsammelt.
Einmal verpassen wir genau diesen Bus. Ein Gasthaus ist noch offen, meine kalten, roten Finger greifen nach der heißen Teetasse. Ich beobachte in Ruhe wie die Betreiber gründlich ihre Bar putzen. Diesen profanen Alltagshandlungen liegt ein Zauber inne. Momente des wahren Lebens, bei denen ich mich manchmal Jahre später frage, ob diese wohl immer noch an jenem Ort beobachtbar wären. Effizienz war mir außerdem nie wichtig auf Reisen. Ein allerletzter Bus fährt noch, sagen sie. Und während dieser durch die Straßen schaukelt, bewege ich mich gedanklich im Transitraum: Die geschaffte Tour liegt schon im dunkeln. In der Ferne leuchten die Verheißungen der Stadt. Straßenlaternen weisen den weg in die warme Stube.
Im Hostel kochen wir Nudeln mit Tomatensoße. Der Wein schmeckt, als hätten ihn die Götter gepresst. Mit jedem Morgen zieht der Muskelkater ein wenig empfindlicher. Doch wir frühstücken immer zeitig und sind pünktlich an der Bushaltestelle – wir warten auf Linie Nr. 88.
Übrigens: Es gibt auch einen kleinen Zug, der bis zur Spitze des Mt. Snowdon fährt – siehe Johannes‘ Video vom Snowdon!
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