Nica­ra­gua ist schon aus der Luft ein­fach zu erken­nen. Von Süden kom­mend geht es über viel Was­ser hin­weg, den Nica­ra­gua­see, dann noch eine Run­de über den Mana­gua-See. Vul­ka­ne ragen aus den Wol­ken auf, wohin ich schaue. Noch nie habe ich so vie­le auf ein­mal gese­hen. Aber Nica­ra­gua trägt nicht ohne Grund den Bei­na­men „Land der 1000 Vul­ka­ne“. Von denen eini­ge aktiv sind. Noch ahne ich nicht, dass ich bald Hals über Kopf einen Vul­kan hin­un­ter­stol­pern wer­de – und dass mich mehr Aben­teu­er erwar­ten, als ich gebucht habe.

Aben­teu­er zum Ers­ten: „Vul­kan-Sur­fen“ oder der freie Fall

Ich kom­me an in einem Land, das bei nord­ame­ri­ka­ni­schen Tou­ris­ten bereits die Desti­na­ti­ons­lis­ten anführt, wäh­rend es unter Euro­pä­ern noch ein Geheim­tipp ist. Doch egal, woher die Besu­cher stam­men, eins haben sie gemein­sam: Alle wol­len in Nica­ra­gua Vul­kan-Sur­fen. Was unter den Tou­ris zum nica­ra­gua­ni­schen Volks­sport Num­mer eins wird, ent­lockt vie­len Ein­hei­mi­schen nur Stirn­run­zeln. Aus­er­wähl­ter für den neu­en Sport ist der Cer­ro Negro mit 728 Metern in der Nähe der Kolo­ni­al­stadt León. Ab gut 20 US-Dol­lar ist man dabei, etwas teu­rer wird‘s, wenn man zu Trans­port, Mate­ri­al und dem ver­spro­che­nen „ride of a life­time“ auch noch ein bedruck­tes T‑Shirt als Andenken will. Ich ver­traue dar­auf, dass mei­ne Erin­ne­run­gen aus­rei­chen und war­te pochen­den Her­zens, dass ich am Mor­gen um acht Uhr von mei­nem Hos­tel in León abge­holt wer­de. Dass dar­aus neun wird, ist eine häu­fi­ge Neben­wir­kung der Vul­kan-Sur­fen-Buchung.

End­lich braust ein Las­ter her­an, auf des­sen offe­ner Lade­flä­che die Aben­teu­er­lus­ti­gen Platz fin­den. Außer mir sind ein Nor­we­ger, zwei Kana­di­er und sechs Tai­wa­ne­sen, die ein Kreuz­schiff für genau zwei Tage an Land gespuckt hat, mit von der Par­tie. Eini­ge von ihnen haben die Gebrauchs­an­wei­sung zum Vul­kan-Sur­fen anschei­nend nicht gele­sen, denn sie sind mit schi­cken wei­ßen Hosen und Flip-Flops statt in Shorts und Wan­der­schu­hen unter­wegs. Es dau­ert gar nicht lan­ge, da türmt sich ein schwar­zes Unge­heu­er vor uns auf. Der Vul­kan ist kom­plett nackt, baum- und pflan­zen­frei, über­zo­gen von schwar­zem Gestein. Es wird still im Las­ter, die tai­wa­ne­si­schen Frau­en jam­mern.

Am Fuße des Vul­kans ist End­sta­ti­on. Unser Hab und Gut dür­fen wir in blaue Baum­woll­ruck­sä­cke ver­frach­ten, die aus­se­hen, als wären sie bereits etli­che Vul­ka­ne run­ter­ge­pur­zelt. Dar­in befin­det sich auch die Aus­rüs­tung: blaue Anzü­ge, die vom Schnitt an die Tracht Gefan­ge­ner erin­nern, Hand­schu­he und Tau­cher­bril­le. Was man halt so braucht, wenn man sich von einem Vul­kan stür­zen möch­te. Jeder klemmt sich eins der Bret­ter untern Arm, an denen eine Schnur zum Fest­hal­ten befes­tigt ist – unse­re Surf- oder viel­mehr Rodel­bret­ter. TÜV-geprüft sieht mir das nicht aus. Dann beginnt der Auf­stieg über Geröll und Stei­ne. Die Tai­wa­ne­sen machen schon nach den ers­ten paar hun­dert Metern schlapp, der Gui­de darf sämt­li­che Bret­ter auch für sie tra­gen. Das Holz­stück unter mei­nem Arm wiegt an die acht Kilo, die Son­ne knallt freu­dig auf uns hin­ab. Doch was tut man nicht alles dafür, um end­lich mal einen Vul­kan auf einem Holz­brett run­ter­sau­sen zu dür­fen?

Je höher es hin­auf­geht, des­to fei­ner wird das schwar­ze Gestein und des­to hei­ßer die Erde. Als ich den Boden mit der Hand berüh­re, fühlt es sich an, als wür­de ich eine noch lau­war­me Herd­plat­te anfas­sen. An man­chen Stel­len tritt nach Schwe­fel rie­chen­der Rauch aus dem Boden, unter dem Cer­ro Negro ent­fal­tet sich eine grü­ne Land­schaft, durch­bro­chen von wei­te­ren, vul­kan­för­mi­gen Hügeln.

Der Nor­we­ger, die Kana­di­er und ich war­ten eine hal­be Stun­de auf die Tai­wa­ne­sen und den schnau­fen­den Gui­de, dann geht‘s rüber zur ‚Surf­sei­te‘: der ein­zi­gen Sei­te des Vul­kans, wo die Stei­ne klein genug sind, um uns nicht gleich von oben bis unten auf­zu­schlit­zen. Wie Amei­sen sehen die Las­ter tief unten aus. Mein Herz rast, als ich den Ruck­sack auf­ma­che, den teils löch­ri­gen blau­en Anzug über­strei­fe, der mir drei Num­mern zu groß ist, und die Tau­cher­bril­le anpas­se. Ob das wirk­lich eine gute Idee ist?

Der vom vie­len Bret­ter­schlep­pen generv­te Gui­de knallt eins vor uns auf den Boden, setzt sich dar­auf, zieht an der Schnur und stemmt ein­mal die Fer­sen in den Boden, um uns zu zei­gen, wie man bremst. „Alles klar?“ Wir sehen uns rat­los an. Also jetzt nicht wirk­lich. Bevor er selbst in die Tie­fe hüpft, gibt er uns einen letz­ten Rat­schlag: „Wenn ihr nicht bremst, erreicht ihr bis zu 90km/​h. Dabei hat sich auch schon mal jemand über­schla­gen und war kran­ken­haus­reif!“ Weg ist er. Der Kloß in mei­nem Hals wächst. Ich füh­le mich wie bei mei­nen ers­ten Ski­ver­su­chen, als ich oben am Berg stand und run­ter­bret­ter­te, um dann Hals über Kopf in einem Sicher­heits­netz zu enden, das mich vorm Sturz ins Tal bewahr­te. Nur, dass es am Cer­ro Negro weit und breit kein Netz gibt.

Ich las­se dem Nor­we­ger und den Kana­di­ern den Vor­tritt, die schlot­tern­den Tai­wa­ne­sen geben ihn mir. War­um zum Teu­fel tut man sich so was an? Der Gui­de, der tief unten sei­ne Kame­ra bereit­hält, hebt die Hand. Ich bin dran. Set­ze mich aufs Brett, zie­he die Schnur zu mir, sto­ße mich mit den Füßen ab. Ein paar Meter geht‘s run­ter, dann ist mein Schlit­ten so vol­ler Stei­ne und Erde, dass nichts mehr geht. Flu­chend ste­he ich auf, schüt­te­le die Mas­se ab, set­ze mich wie­der. Los geht’s. Das Brett saust immer stei­ler in die Tie­fe, sämt­li­che Brems­ver­su­che mei­ner­seits schei­tern. Plötz­lich stellt sich das Ding quer, wirft mich ab wie ein wild­ge­wor­de­ner Bul­le. Ich über­schla­ge mich, pur­ze­le den Vul­kan run­ter, das Brett hin­ter mir her. So war das aber nicht gedacht, oder? Ich sehe schon Bil­der mei­ner Beer­di­gung vor­bei­zie­hen, da wird es plötz­lich fla­cher. Ich kann mich auf­rich­ten, das Brett unter mei­nen Aller­wer­tes­ten schie­ben, und wei­ter geht’s. Der Gui­de hat in der Zwi­schen­zeit mun­ter auf den Aus­lö­ser gedrückt und mein Mal­heur fest­ge­hal­ten. „Bel­la figu­ra“ geht ein­deu­tig anders. Aber: Ich kom­me mit nur einer Schram­me am Bein unten an. In mei­nem Haar hängt eine Men­ge schwar­zer Schup­pen, zwi­schen mei­nen Zäh­nen knirscht es und ich habe den Ein­druck, der fre­che Lati­no-Vul­kan hat sich auch bis in die letz­te Rit­ze mei­nes Kör­pers geschli­chen. Aber ich lebe! Hal­le­lu­ja!

Aben­teu­er zum Zwei­ten: Balan­cie­ren am Ran­de von Teu­fels­schluch­ten

Wer schon mal einen Vul­kan run­ter­ge­stürzt ist, den kann auch sonst nichts mehr schre­cken. Des­we­gen stür­ze ich mich, kaum dass ich mit dem lau­war­men Hos­tel-Was­ser die gröbs­te Vul­kaner­de von mir gewa­schen habe, in das nächs­te Aben­teu­er: eine Bestei­gung des Teli­ca-Vul­kans, 15 Kilo­me­ter öst­lich von León, 1061 Meter hoch, zum Son­nen­un­ter­gang. Im Gegen­satz zum Cer­ro Negro gilt er als einer der aktivs­ten Vul­ka­ne Nica­ra­gu­as. 2011 hus­te­te er zum ers­ten Mal seit 1948 wie­der ein paar Asche­wol­ken aus und sorg­te dafür, dass 60 Dör­fer rings her­um eva­ku­iert wer­den muss­ten. Heu­te köchelt es dort oben ledig­lich, sodass ich und ande­re Vul­kan-Hung­ri­ge hoch dür­fen.

Schon wäh­rend der Jeep-Fahrt in die Ber­ge, bei der wir uns füh­len wie auf einem die­ser wahn­sin­ni­gen Kir­mes-Fahr­ge­stel­le, schwant uns, dass das mit dem Son­nen­un­ter­gang nichts wird. Win­ter­zeit­li­cher Sturz­re­gen macht eini­ge der Schlamm­we­ge fast unpas­sier­bar, wir rasen durch rei­ßen­de Flüs­se, mat­schi­ge Böschun­gen rauf und run­ter. Und ich dach­te, das Schlimms­te wäre, einen Vul­kan run­ter­zu­rol­len. Es geht im Wagen hoch hin­auf, sodass der Fuß­weg bis zum Kra­ter nicht mal mehr die Hälf­te des Weges aus­macht. Ich hat­te es mir müh­sa­mer vor­ge­stellt, einen akti­ven Vul­kan zu erklim­men. Je höher wir kom­men, des­to bei­ßen­der wird der Schwe­fel­ge­ruch. „Geht nicht zu nah an den Rand“, warnt uns der Gui­de. Und wie immer, wenn man etwas nicht darf, zieht es einen magisch an. Der Abgrund. Ich wer­fe einen Blick in die Tie­fe. Dort­hin, wo der Rauch her­kommt. Wo sich die Erde öff­net, um die Sicht auf die glü­hen­de Höl­le dar­un­ter frei­zu­le­gen. Mei­ne Augen trä­nen vom Rauch, und doch kann ich mich nicht lösen. Wie kön­nen Men­schen glau­ben, dass sie etwas Groß­ar­ti­ges schaf­fen, wenn die Natur ein sol­ches Schau­spiel auf die Bei­ne stellt?

Der Regen ist uns wider Erwar­ten gnä­dig, denn als wir wenig spä­ter aus einer Höh­le mit einer Unmen­ge Fle­der­mäu­sen wie­der her­vor­krie­chen, zeich­net sich sogar ein Touch von Son­nen­un­ter­gang hin­term Dunst am Hori­zont ab. Viel­leicht bekommt man nicht nach jedem stei­len Berg­auf-Weg die Sicht, die man ver­dient – aber eine klit­ze­klei­ne Beloh­nung gibt es meist doch für den, der genau hin­schaut.

Den­ke ich mir wie­der, als ich auf dem Weg zum wohl über­lau­fens­ten Vul­kan in ganz Nica­ra­gua bin, dem Masaya. Zu fin­den ist er bei der gleich­na­mi­gen Stadt zwi­schen Gra­na­da und Mana­gua, und genau wie der Teli­ca zählt er zu den akti­ven, noch Feu­er spei­en­den Vul­ka­nen. Es ist mir egal, wie über­rannt der Ort mitt­ler­wei­le ist – wie alle ande­ren will ich bei pech­schwar­zer Nacht in glü­hen­de Lava schau­en. Der Mini­bus, in dem wir zu sechst sit­zen, muss Schlan­ge ste­hen, bis er gegen 18 Uhr in den Natio­nal­park Vul­kan Masaya ein­ge­las­sen wird. Dann darf jeder Bus oben am Kra­ter sei­ne Tou­ris­ten­la­dung für genau 20 Minu­ten aus­kip­pen.

Die Mas­sen­ab­fer­ti­gung ist ver­ges­sen, als ich am Ran­de des von der Nacht schwarz gemal­ten Vul­kans ste­he. Wie beim Teli­ca beißt der Rauch in den Augen, sodass ich blin­zelnd die rote Höl­le tief unten aus­ma­che. Sechs mal elf Meter soll die Cal­de­ra das Masaya groß sein, um ein Viel­fa­ches mehr als beim Teli­ca. Es ist, als wür­de eine rie­si­ge Hexe dort unten ihr Süpp­chen kochen. So, wie es bro­delt, wür­de es mich nicht wun­dern, wenn der Vul­kan jede Sekun­de in die Luft gin­ge. Die indi­ge­ne Bevöl­ke­rung nann­te ihn Popo­ga­te­pe, bren­nen­der Berg. Jede Erup­ti­on galt als Ver­är­ge­rung der Göt­ter. Beru­hi­gen konn­te man sie nur durch Opfer, meist klei­ne Kin­der oder Jung­frau­en. Ein Schau­der läuft mir den Rücken hin­ab bei der Vor­stel­lung, in das glü­hen­de Loch gewor­fen zu wer­den. Lie­ber sur­fe ich noch zehn Mal einen nicht ganz so akti­ven Vul­kan run­ter.

Aben­teu­er zum Drit­ten: Insel­er­kun­dung mit Nah­tod-Erfah­rung

Süd­lich der gemüt­li­chen Kolo­ni­al­stadt Gra­na­da und gegen­über von Rivas liegt eine Insel mit zwei Ber­gen, oder genau­er gesagt zwei Vul­ka­nen: Ome­te­pe. Sie hat man­che Super­la­ti­ve auf Lager, ist näm­lich nicht nur die größ­te vul­ka­ni­sche Insel in einem Süß­was­ser­see auf der gan­zen Welt, son­dern beher­bergt auch einen der aktivs­ten Vul­ka­ne Nica­ra­gu­as, Con­cep­ción. Er ist 1610 Meter hoch und brach kurz vor dem Teli­ca, 2010, das letz­te Mal aus. Kein Wun­der also, dass der Gip­fel ab 1000 Metern auf­wärts kahl gescho­ren ist und sich die wahn­sin­ni­gen Wan­de­rer, die den Auf­stieg wagen, auf eine Men­ge loses Lava­ge­röll auf den letz­ten Metern freu­en dür­fen. Aus­nahms­wei­se schen­ke ich mir die­ses Aben­teu­er – eine Ent­schei­dung, die ich nach den Erzäh­lun­gen derer, die es hoch und wie­der run­ter­ge­schafft haben, nicht bereue. Dage­gen ist der zwei­te Vul­kan, Made­ras, mit 1394 Metern und seit Ewig­kei­ten tot, fast lamm­fromm.

Genau die­sen wäh­le ich, scheint er mir mit sei­ner üppi­gen Vege­ta­ti­on auch weit­aus inter­es­san­ter. Vom etwas nichts­sa­gen­den Städt­chen Moyo­ga­l­pa aus düse ich mit einem Quad – dem ein­zi­gen emp­feh­lens­wer­ten Trans­port­mit­tel auf der Insel – gut 40 Kilo­me­ter bis zum Start­punkt der Made­ras-Wan­de­rung. Auf Ome­te­pe unter­wegs zu sein gleicht einer Zeit­rei­se. Zuerst geht es über die Lan­de­bahn des win­zi­gen, kaum genutz­ten Flug­ha­fens, dann durch uri­ge Dör­fer mit klei­nen, schlich­ten Häu­sern. Ein­sam­keit kommt dabei nie auf, denn jede Men­ge Kühe, Pfer­de, Hüh­ner, Schwei­ne, Rad­fah­rer und Fuß­gän­ger leis­ten mir Gesell­schaft und wol­len im Sla­lom umfah­ren wer­den.

Bald habe ich den Vul­kan Con­cep­ción, des­sen Gip­fel aus einer Wol­ken­schicht her­vor­sticht, im Rück­spie­gel und den Made­ras vor mir. Ein rum­pe­li­ger Weg, bei dem mein Quad fast das Leben lässt, führt von einer Schlamm­stra­ße hoch hin­auf, wo mich Ari bei der Farm El Por­ve­nir bereits erwar­tet. Er arbei­tet als Wan­der­füh­rer auf Ome­te­pe, gesteht mir mit einem Lächeln, er sei froh, dass ich nicht Con­cep­ción gewählt habe. Außer­dem bin ich beschei­den gewor­den, möch­te nicht ein­mal bis an die Spit­ze des Made­ras, wo zur Regen­zeit eine regel­rech­te Schlamm­schlacht beginnt, son­dern nur zur Hälf­te hin­auf und ein wenig von der Natur ken­nen­ler­nen.

Ari drückt mir einen Stock in die Hand, und los geht’s. Er ent­puppt sich als wah­re Enzy­klo­pä­die der hie­si­gen Pflan­zen- und Tier­welt. „Die­se Frucht nennt sich ‚jica­ro‘“, deu­tet er auf melo­nen­för­mi­ge grü­ne Früch­te an einem Baum. Spä­ter schla­ge ich nach, dass es ein Kale­bas­sen­baum ist. Nie gehört. „Er kann nur ent­ste­hen, wenn Tie­re das Fall­obst essen und danach aus­schei­den.“ Mei­ne Lust, die Frucht zu pro­bie­ren, sinkt.

Immer wie­der kom­mu­ni­ziert Ari mit Brüll­af­fen, die uns von irgend­wo aus dem Dschun­gel zuru­fen. „Sie brül­len nur, wenn sie zan­ken oder ein Gewit­ter im Anmarsch ist.“ Ari hat einen Blick für all das, was ich mit mei­nem unge­üb­ten Augen über­se­he: wun­der­bar getarn­te Schmet­ter­lin­ge. Affen zwi­schen den Ästen. Vögel in den Far­ben der nica­ra­gua­ni­schen Flag­ge, weiß und blau. An die­sem Tag erlau­ben uns stu­re Wol­ken kei­nen Traum­blick auf den gegen­über gele­ge­nen Vul­kan Con­cep­ción, doch Aus­sich­ten kön­nen auch über­be­wer­tet sein. Ich genie­ße die Zeit mit Ari, dem ich kolum­bia­ni­schen Slang bei­brin­ge, wäh­rend er mich den typischs­ten aller nica­ra­gua­ni­schen Aus­drü­cke lehrt: „No hay falla!“ Ist kein Pro­blem.

Unse­re Tour endet bei Kaf­fee­plan­ta­gen, wo die Boh­nen im Novem­ber gepflückt wer­den. Ari öff­net eine Frucht für mich und gibt mir den Kern, auf dem ich lut­sche – er schmeckt nicht ansatz­wei­se nach Kaf­fee. „Kaf­fee schmeckt nicht nach Kaf­fee“, lacht Ari. „Den Geschmack bekommt er erst beim Rös­ten.“ Direkt neben den Kaf­fee­pflan­zen wird der Boden von den größ­ten Ter­mi­ten­hü­geln bedeckt, die ich je gese­hen habe. Ari erschei­nen sie ganz nor­mal. Er erzählt mir lie­ber von sei­nen Groß­el­tern, die noch 12 Kin­der hat­ten, sei­ne Eltern nur noch sechs, und er eins. „Die Leu­te wer­den immer ver­nünf­ti­ger. Weni­ger Kin­der bedeu­ten, dass man ihnen bes­se­re Chan­cen geben kann.“

Um einen der schöns­ten Fle­cken am Made­ras-Vul­kan zu errei­chen, muss man wie­der zurück­lau­fen und die Schlamm­stra­ße mit dem Quad noch vie­le wei­te­re Kilo­me­ter hin­un­ter rum­peln: Die San Ramón-Was­ser­fäl­le. Ich glau­be den Ein­hei­mi­schen, dass man bis zur Hälf­te mit dem Quad nach oben kommt. Zu sagen, dass es über Stock und Stein geht, wäre abso­lu­te Unter­trei­bung. Zum Teil braust das Quad in sol­cher Schräg­la­ge über die unebe­nen, schlam­mi­gen Wege, dass ich Angst habe, es kippt zur Sei­te und begräbt mich. Plötz­lich liegt ein rie­si­ger Baum auf dem Weg, ich muss rück­wärts einen stei­len Hang zurück­fah­ren. Schweiß­ge­ba­det und mit zit­tern­den Knien mache ich mich zu Fuß auf den Rest des Weges. Zuerst geht es über einen Wald­weg, dann will ein rau­schen­der Bach mit sei­nen glit­schi­gen Stei­nen über­quert wer­den.

Doch jede Mühe hat sich gelohnt, als ich ihn erbli­cke: einen Bil­der­buch-Was­ser­fall aus zwei Fon­tä­nen. 40 Meter tief stürzt das Was­ser, beid­sei­tig umarmt von bemoos­ten Fels­wän­den. Zur Abküh­lung genie­ße ich die Gra­tis-Dusche von Mut­ter Natur. Und den­ke ins­ge­heim, dass die­ser Was­ser­fall fas­zi­nie­ren­der ist als die welt­be­rühm­ten Igua­zú-Fäl­le zwi­schen Bra­si­li­en und Argen­ti­ni­en. Was mir immer öfter auf Rei­sen pas­siert. Das groß Ange­prie­se­ne, welt­weit Bekann­te hat sei­nen Reiz, kein Zwei­fel. Doch sel­ten bringt es mein Herz so zum Hüp­fen wie die­se voll­kom­men uner­war­te­te, gut im Dschun­gel ver­bor­ge­ne Schön­heit auf einer Insel irgend­wo in Nica­ra­gua.

Und die­se Insel hat noch ein Aben­teu­er für mich bereit. Nach einem def­ti­gen Gal­lo Pin­to – dem Natio­nal­ge­richt aus Reis und roten Boh­nen – mit Rühr­ei und Käse.

Ari hat mich über­zeugt, dass kein Besuch Ome­te­pes voll­stän­dig ist, ohne auf dem Nica­ra­gua­see Kajak gefah­ren zu sein. Bei schöns­tem Son­nen­schein und leich­ter Bri­se geht es im Zweier­ka­jak von Cabal­li­tos de Mar los. Ohne Gui­de ist es schwie­rig, die Ein­fahrt zu einem zuge­wach­se­nen, win­zi­gen Fluss zu fin­den, wo sich laut Ari die schöns­te Flo­ra, Fau­na und Vogel­welt fin­det.

Neu­gie­ri­ge Rei­her ste­hen am Ufer. „Wir nen­nen sie Wasch­wei­ber, weil sie immer glot­zen und alles wis­sen müs­sen.“ Vögel in allen Farb­nu­an­cen, deren Namen ich Sekun­den spä­ter wie­der ver­ges­sen habe, zei­gen sich. Ich sau­ge die Stil­le tief in mir auf, wäh­rend Ari uns durch den teil­wei­se von Grün­zeug bedeck­ten Fluss schip­pert. Man­che Vögel las­sen sich kaum als sol­che aus­ma­chen, so per­fekt ist ihre Tar­nung auf den Ästen.

Dann, als habe die Natur genug von uns Ein­dring­lin­gen, bre­chen die Wol­ken auf und tro­pi­scher Regen ergießt sich über uns. War der Him­mel vor fünf Minu­ten noch schön blau, ist er nun schwarz, in der Fer­ne don­nert es. Ari steu­ert zurück, doch bereits Sekun­den spä­ter sind wir klatsch­nass. Das zuvor spie­gel­glat­te Was­ser des Nica­ra­gua­sees erin­nert auf ein­mal an die Nord­see an einem stür­mi­schen Win­ter­tag. Wel­len schla­gen ins Boot. Ich sit­ze vor­ne, bekom­me immer die ers­te Ladung ab und ban­ge mehr um mein Han­dy und die Kame­ra in mei­ner Ret­tungs­wes­te als um mein Leben. „No hay falla“, beru­higt mich Ari, „das krie­gen wir hin!“ Doch Wind und Regen wer­den immer stär­ker, und bald ist sich nicht mal mehr Ari sicher. Wir bie­gen in eine nähe­re Bucht ein, wo eben­falls Kajaks ver­lie­hen wer­den, und las­sen uns und das Kajak mit dem Jeep abho­len. Mein Han­dy geht noch, die Kame­ra ist tot, ich zit­te­re vor Käl­te und habe die Schnau­ze voll. Dabei steht mir das Gröbs­te noch bevor: die Rück­fahrt mit dem Quad nach Moyo­ga­l­pa.

Das Gute ist, dass die Gän­ge im Gegen­teil zum Vor­tag, als ich stän­dig im Drit­ten fah­ren muss­te, noch gehen. Ich gebe Gas, brau­se über die über­flu­te­te Schlamm­stra­ße – bis ein rei­ßen­der Fluss mei­nen Weg kreuzt. Da, wo noch am Mor­gen ein­fach Schlamm war, bahnt sich nun eine Was­ser­la­wi­ne ihren Weg in Rich­tung See. Was machen? Ste­hen­blei­ben, vom Regen ein­ge­schlos­sen? Ich schlie­ße die Augen, drü­cke aufs Gas. Spü­re, wie mir das Was­ser bis zum Hin­tern reicht, sich eine Wel­le über mir ergießt, füh­le den Sog des Was­sers. Bete, dass der Motor nicht auf­gibt. Das Spiel wie­der­holt sich zwei Mal mehr. Durch­at­men. Gas. Was­ser­mas­sen. Beten. Auf­at­men. Der Regen schlägt mir ins Gesicht wie klei­ne Mes­ser­spit­zen. Kaum sehe ich noch die Kühe, Pfer­de, Schwei­ne, Hüh­ner, Rad­fah­rer und Fuß­gän­ger auf den schwar­zen, unbe­leuch­te­ten Stra­ßen.

Jeder Kilo­me­ter wird zur Qual. Mei­ne Wan­der­schu­he schei­nen kilo­schwer vom Was­ser, mir ist bit­ter­kalt und der Regen peitscht wei­ter. Ich will abstei­gen und mich weit weg bea­men. Aber vor mir war­tet nur die dunk­le Stra­ße mit ihren vie­len beweg­li­chen Hin­der­nis­sen. Ich weiß nicht, wie lan­ge ich für die 40 Kilo­me­ter brau­che. Lan­ge. Doch ich bin nur eine ver­wöhn­te Tou­ris­tin, die etwas, das für die Ein­hei­mi­schen zu jeder Regen­zeit All­tag ist, für ein ech­tes Aben­teu­er hält. Und natür­lich wird am Ende alles gut und ich bekom­me sogar die Kau­ti­on fürs Quad zurück, ein ech­ter Glücks­fall auf Ome­te­pe. Denn schließ­lich wuss­te schon Oscar Wil­de: „Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende.“

Nach dem Aben­teu­er ist vor dem Aben­teu­er

Auch wenn ich mir nach Momen­ten wie auf Ome­te­pe schwö­re, in Zukunft nur noch Club­ur­laub zu machen, weiß ich, dass ich die­sem Vor­satz bald untreu wer­de. Das Ein­zi­ge, was ich wirk­lich nach ein paar Aben­teu­ern brau­che, ist eine klit­ze­klei­ne Aus­zeit. Zum Bei­spiel zwi­schen 365 Insel­chen im Nica­ra­gua­see, las Isle­tas, die vor über 20.000 Jah­ren durch das Wüten des Vul­kans Mom­ba­cho ent­stan­den.

Ome­te­pe liegt zumin­dest gefühlt weit ent­fernt im Süden, die schreck­li­che Fahrt ist ver­daut. Wäh­rend ich mit dem Insel­be­woh­ner Elio durch die bewal­de­ten, teil­wei­se bewohn­ten Eilan­de schip­pe­re, ist mei­ne ein­zi­ge Sor­ge, dass mir ein fre­cher Klam­mer­af­fe die Kokos­nuss­stück­chen weg­schnappt, die mir Eli­os Fami­lie soeben geschenkt hat.

Der Him­mel und der See haben sich wie­der ver­tra­gen, er spie­gelt auf sei­ner per­fekt gebü­gel­ten Ober­flä­che das Blau mit ein paar wei­ßen Schlei­er- oder Schäf­chen­wol­ken. Vögel sit­zen auf Fel­sen, ab und zu kom­men Fischer oder Fami­li­en in ihren Boo­ten vor­bei. Lächeln, grü­ßen. Die Welt ist wie­der in Ord­nung.

Wenig spä­ter errei­che ich die Lagu­na de Apo­yo vier Kilo­me­ter nord­west­lich des Nica­ra­gua­sees, deren Cal­de­ra sich genau wie die Isle­tas durch die letz­ten Aus­brü­che des Mom­ba­cho bil­de­te. Ich schnap­pe mir ein Brett zum Stand-up-padd­le und rude­re bis in die Mit­te des Sees. Dort las­se ich das Ruder sin­ken, lege mich auf den Rücken. Der Him­mel über mir trägt noch immer mein Lieb­lings­blau, wäh­rend ein Teil des Ufers bereits im Schat­ten der Abend­son­ne liegt. Doch weit dort drau­ßen lacht sie mir noch ins Gesicht. Ich schlie­ße die Augen, dank­bar. Für jedes ein­zel­ne Aben­teu­er. Dafür, dass ich sie er- und über­le­ben durf­te. Und dass ich für wei­te­re hier bin. Aber das ist für ein ande­res Mal.

Anmer­kung zu den Fotos vom Vul­kan-Sur­fen: Das Titel­bild, Grup­pen­bild sowie die Auf­nah­me der im gel­ben Anzug vom Vul­kan rodeln­den Per­son stam­men vom Tour-Ope­ra­tor in Nica­ra­gua.  Das Bild zwi­schen den bei­den (zu sehen sind Per­so­nen in blau­en sowie gelb-grü­nen Anzü­gen) stammt von Lin­ny Hsueh – ihr einen herz­li­chen Dank für die zur Ver­fü­gung gestell­ten Fotos.

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