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Ich habe mich noch nicht mal hingesetzt, da tun mir schon die Ohren weh: Unterhalb der Restaurantterrasse, die direkt auf den Fluss schaut, scheint eine riesige Horde Frösche eine ausgedehnte Unterhaltung zu führen. Einen Kampf auf Leben und Tod könnte man wohl genauso hineininterpretieren wie engagierte Eroberungsversuche – oder den Hinweis darauf: Guckt mal, wir, die Natur, sind auch noch da!
Als der Nachtisch kommt, haben die Frösche langsam Ruhezeit. Dafür sind jetzt die Zikaden aufgewacht und sogleich ins Konzert eingestiegen. »Ich hör das schon gar nicht mehr«, sagen die Einheimischen mit einem Schulternzucken. Ich dagegen kann gar nicht weghören. Die Tiere scheinen unterschiedliche »Stimmen« zu haben und zirpen mit verschiedenen Geschwindigkeiten und Lautstärken. Das durchgehende Rauschen, das höchstens mal für eine Sekunde abbricht, wie um Luft zu holen, wird ergänzt von einzelnen Lauten, abgehakt und ohrenbetäubend.
Das Konzert der Natur
Gestern noch saß ich im Amphitheater von Vienne und hörte Blues-Bands zu. Heute sitze ich am Ufer der Ardèche und habe das Gefühl, unter mir hat sich ein ganzes Orchester niedergelassen, mit unermüdlichen Streichern. Unerwartet setzt der Solist zum Crescendo an, daneben bäumt sich jemand auf, um einfach alles zu übertönen, bevor die zwei sich wieder ins Gesamtzirpen einreihen und die nächsten Tiere ihren Einsatz wahrnehmen.
Vor allem die Zikaden werden mich mit ihrem allgegenwärtigen Lautkonzert durch die gesamte Ardèche begleiten. Ich wundere mich fast selbst, warum mich die Geräusche nie stören. Wahrscheinlich bin ich einfach viel zu fasziniert davon, wie so kleine Insekten so laut sein können – und wie vielseitig die Töne sind, die ihre Flügel erzeugen. Und je bewusster ich hinhöre, desto schöner klingt es für mich, bis hin dazu, dass mir das Wort »Konzert« nicht mehr wie eine bloße Metapher vorkommt.
Das Konzert der Natur wird ergänzt vom Rauschen des Flusses, der sich durch die Felslandschaft schlängelt. Durch die vielen Kurven paddeln Kanufahrer, einzelne Profis, unterwegs zu Tagestouren, und große Gruppen mit bunten Schwimmwesten. Am Rand liegen Badegäste vor Campingplätzen. Die Ardèche, benannt nach dem gleichnamigen Fluss, der einmal quer durch das Departement fließt, sieht in dieser Ecke aus wie ein einziger großer Canyon. Wer hier Urlaub macht, der sucht vielleicht nicht unbedingt nach Ruhe, aber immerhin nach viel Natur.
Und ich? Ich bin schließlich in diesem Moment Kulturreporterin. Für den French Culture Award berichte ich aus und von Kulturdenkmälern. Und stehe auf einmal inmitten von Zikadenzirpen, Felsformationen und Wasserrauschen. Was da wohl schief gelaufen ist?
Die Höhlenzeichnungen von Pont D’Arc
Heiß ist es, die Luft diesig, die Wolken zerpflückt, es sieht nach Gewitter aus, schon jetzt, am frühen Morgen. Vor mir liegt die Höhlennachbildung von Pont D’Arc, von außen ein faszinierend monströses Betongebilde, das auf einem Hügel über dem Tal thront. Unglaublich, wie etwas zugleich so brutal, abgeschliffen und künstlich aussehen und sich dennoch so gut in die Landschaft eingliedern kann, denke ich, als ich mir das Gebäude von der Terrasse aus ansehe, und dann: Hier hat jemand mit ein wenig Größenwahn etwas ziemlich Geniales geschaffen.
Aber alles auf Anfang: Die Caverne du Pont D’Arc ist eine künstliche Höhle – ein Konstrukt aus Beton und Stahl, das originalgetreu einige der erst 1994 entdeckten Malereien in der Chauvet-Höhle präsentiert. Die sind im Schnitt etwa 30.000 Jahre alt und gehören damit zu einem Menschheitserbe, das auf keinen Fall verloren gehen darf. Jegliche Veränderung der Luftfeuchtigkeit könnte jedoch Schäden bewirken – so ist der Zutritt nur Forschern erlaubt. Um die Malereien der Öffentlichkeit trotzdem zugänglich zu machen, hat man sich dafür entschieden, die größte Höhlennachbildung der Welt zu errichten – auf 3.500 Quadratmetern, mit 8,180 Quadratmetern Wand- und Bodenfläche und für 55 Millionen Euro.
Die Höhle ist natürlich nicht eins zu eins übertragen worden, man hat Wege abgekürzt und alles ein wenig näher zueinander angeordnet. Aber die Zeichnungen und die Wände, auf denen sie zu finden sind, wurden im genauen Maßstab übernommen und sogar mit denselben Naturmaterialien an die Wände gebracht, die Menschen in der Steinzeit benutzt haben, überwacht von einem Team aus Wissenschaftlern. Übrigens werden nicht nur die Malereien, sondern auch einige mysteriöse Stein- und Knochenanordnungen auf dem Höhlenboden in der Replika dargestellt.
Und tatsächlich, auch wenn man es beim Blick von außen nicht glauben möchte: Man fühlt sich wie in einer Höhle. Kalt ist es und feucht, dunkel und irgendwie… modrig. Natürlich alles nicht real, sondern angepasst und maschinell gesteuert, aber diesen Gedanken kann man ruhig verwerfen, wenn man mitten zwischen den Höhlenmalereien steht und sich wie eine Urzeitforscherin fühlt.
Die ersten Menschen – und ihre Bilder
Ich muss zugeben: Die Zeichnungen hatte ich mir sehr viel simpler und langweiliger vorgestellt. Dabei ist schon allein die Mischung aus verschiedenen Techniken spannend. Es gibt Negativ- und Positivbilder, rote, schwarze und weiße Farben und neben den aufgetragenen Farben auch in die Steine eingeritzte Gravierungen. Viele Bilder wurden von ihren Formen her perfekt an die Höhlenwände angepasst.
Nicht nur einzelne Tiere sind dargestellt, sondern richtige Szenen, die ganze Wände einnehmen. In vielen davon ist Dynamik zu spüren, es sieht so aus, als würden die Löwen und Hirsche laufen, sie sind mit mehreren Beinen oder zusätzlichen Strichen dargestellt. Einzelne Bisons oder Bären sehen dagegen mit ihren Schattierungen richtig plastisch aus. Dreidimensionalität und Bewegung – zwei Dinge, die die Kunstgeschichte eigentlich erst in der Moderne aufkommen sieht.
Ich kriege gar nicht genug von den Bildern – und von der Frage, wer sie wohl wie, wann, mit welchem Grund und in welchem Zusammenhang angefertigt haben mag. Eine Höhle zu betreten, das war damals noch gefährlicher als heute, wilde Tiere lauerten und wenn die Fackel ausging, fand man vielleicht nie wieder den Weg zurück. Was ließ die Menschen damals so viele Risiken auf sich nehmen, nur, um Bilder zu malen?
Wir wissen es nicht – das meiste über das Leben unserer frühzeitlichen Vorfahren ist nicht bekannt oder zumindest nicht sicher belegt. Wie auch? Malereien wie in der Chauvet-Höhle sind einige der wenigen Spuren, die bis heute erhalten sind, und bieten viele Interpretationsmöglichkeiten. Hatten die Tierbilder religiöse Hintergründe? Und wenn ja – galten Tiere dann selbst als göttlich, oder wurde mit den Bildern eine höhere Macht um erfolgreiche Jagden angefleht? Eine kreisförmige Anordnung von Schädeln und Knochen auf dem Boden gibt Forschern bis heute Rätsel auf und wird weiterhin akribisch untersucht.
Weiter in Richtung Lavendel
Ich lasse die Höhle und das angrenzende Museum hinter mir und fahre weiter die kurvigen Landstraßen entlang, vorbei an den monumentalen Felsen und quer durch Dörfer mit dicken Mauern und historischen Burgtürmen. In der Sonne ist es mittlerweile fast unerträglich geworden, ich bin froh über die Klimaanlage. Ein Dorf muss ich dreimal umrunden, weil ich immer wieder in falsche Straßen einbiege, am Ende weiß ich überhaupt nicht, wie ich den Ausgang gefunden habe. Die Straße wird schmaler und ruckeliger, eine dieser Routen, bei denen man alle paar Sekunden ein kurzes Stoßgebet abschickt, einem möge doch bitte niemand entgegenkommen.
Und dann bin ich mittendrin im lila Meer. Lavendel, so weit das Auge reicht.
Der Geruch ist nicht sonderlich intensiv, obwohl hier so viele Pflanzen auf einmal wachsen – die spezielle Art, die hier angebaut wird, eine Hybridsorte, sondert nicht den typischen durchdringenden Duft ab, den man von Lavendel sonst kennt. Umso eindrucksvoller ist jedoch, mal wieder, die Geräuschkulisse: Überall summt und brummt es. Egal, welche Sorte, Lavendel ist perfekt geeignet für Bienen und Schmetterlinge. Geht man ein paar Schritte in das Feld hinein, wird man fleißig umschwirrt und weiß gar nicht, wohin man zuerst gucken soll. So viel Bewegung, so viel Leben, Konzert der Natur, zweiter Akt.
Ein kleines Museum nebenan erklärt Anbau, Ernte und Destillationsprozess. Je nach Sorte kann das daraus entstehende Öl beruhigende oder antiseptische Wirkungen haben. Hier findet man dann schließlich auch den intensiven Geruch. Selbst die paar Tropfen, die ich mir beim Rundgang aufs Handgelenk gebe, habe ich für den Rest des Tages in der Nase.
Entspannt am Fluss entlang
Noch mehr als Geruch und Geschichte begeistert mich jedoch der Anblick – die Felder voller blaulila Blüten sind so schön, dass ich stundenlang dort stehen und einfach nur gucken könnte, und mit all den Bienen und Schmetterlingen, die die Pflanzen umschwirren, wird einem das auf keinen Fall langweilig. Mich überfällt der Wunsch, weiter nach Süden zu fahren, immer dem Lavendel nach. Welche Reise könnte schließlich entspannter sein? Angeblich entspannt der Geruch nach Lavendel nicht nur, sondern hält auch Mücken ab – für mich, die ich hier in Flussnähe schon wieder ordentlich Stiche sammle, ein echtes Plus.
Doch stattdessen folge ich den beinahe hypnotischen Kurven der Landstraßen quer durch die Ardèche. Immer wieder muss ich anhalten und den Fluss und die Canyon-Landschaft von oben bewundern, andächtig in die Ferne starren und mich fragen, unter welchen der Felsen wohl noch unentdeckte Höhlen versteckt sind – oder wo sich gerade Höhlenforscher durch die schmalen, dunklen Gänge zwängen.
Langsam windet sich die Straße nach unten, bis ich auf Flusshöhe bin und die Füße ins Wasser tauchen kann. Gefühlte Hundertschaften an Kanuten sind unterwegs, passieren das natürliche Tor Pont D’Arc, das Wahrzeichen der Region, und paddeln dann an den Rand, um die angestrengten Arme zusammen mit dem Rest des Körpers im Wasser zu kühlen. Mutige Badegäste nutzen die Felsen, um hochzuklettern und mit Rückwärtssalto in die Ardèche zu springen.
Auf dem Rückweg passiere ich mehrere Dörfer, eins schöner als das andere. Dicke Hauswände, die garantiert gut gegen die Hitze schützen, stehen vor historischen Burgtürmen, bunt gestrichene Türen werden gesäumt von Blumenranken. Es ist menschenleer, vielleicht einfach zu heiß. Ich halte mich an den Schatten und wandere übers Kopfsteinpflaster.
Von Natur und Kultur
Ich setze mich vor einer kleinen Kirche ins Gras, und da höre ich es wieder, das Zikadenkonzert. Scheinbar bin ich selbst schon immun geworden in den letzten Stunden, Selbstschutz meiner Ohren. Trotzdem, die vielseitigen Stimmen, das Chaos, das beim genaueren Hinhören Sinn ergibt, all das fasziniert mich immer noch.
Und so sitze ich und denke nach, unterlegt von Musik, als Kulturreporterin im Naturdepartement. Kultur und Natur, der ewige Gegensatz, in der Ardèche scheint er vollkommen aufgelöst. Höhlenmalereien sind der erste Hinweis, Farbe und Gravuren von Tierbildern in Fels. Naturbelassene Landschaft gibt es hier zuhauf, doch wenn, wie bei der Caverne du Pont D’Arc Teile von ihr künstlich nachgebildet werden, ist die Verschränkung perfekt. Die weiten Lavendelfelder, durch die ich gefahren bin, sind dagegen nichts anderes als vom Menschen geformte Kulturlandschaft.
Und wer genauer hinsieht, der mag auch Kunst, doch eigentlich Kultur, in der Natur entdecken: in den perfekten Windungen der Ardèche zum Beispiel, die von oben betrachtet eine ideale Landschaft zwischen Felsformationen bilden. Oder im Zirpen der Zikaden, dieses Konzert mit tausenden von Stimmen, in das auch ab und an mal ein Frosch einfällt.
Als ich zurück ins Hotel fahre, spielt auf dem kleinen Platz davor eine Rockband, Bässe und Gitarren schallen mir ins Zimmer. Hier sitze ich, die Kulturreporterin, und würde gerade wirklich die Zikaden vorziehen. Auftrag verfehlt?! Um das zu beantworten, müsste ich wohl noch eine Stunde über Kultur philosophieren. Aber stattdessen freue ich mich einfach darüber, dass ich die Schönheit im Kleinen entdecken konnte.
Antwort
Ein wirklich toller Artikel. Ich habe es genossen, zu lesen. Ich danke dir sehr. Du bist ein guter Blogger.
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