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Kingston, Jamaika
»Brauchst du irgendwas?«, fragt Keith mich, während wir durch die überfüllten Gassen des Coronation Markets, des großen Marktes von Kingston laufen.
Ich blicke mich um.
Direkt neben mir liegt ein Stapel Ziegenschädel, von denen der Verkäufer lustlos mit einer alten Zeitung versucht die Fliegen zu verscheuchen. Daneben verkauft eine Frau Kräuter und Gewürze, die so krass riechen, dass sie mir sogar aus zwei Metern Entfernung den Atem verschlagen. »Natural aphrodisiac – Natürliches Aphrodisiakum«, hat sie auf ein kleines Schild daneben geschrieben und daneben ein Männchen mit einer überdimensional stark ausgearteten Erektion gemalt. Auf der gegenüberliegenden Seite versucht ein Junge CDs mit Predigen, die er mit seinem Handy in der Kirche aufgenommen hat, zu verkaufen. Neben ihm ist ein Stand mit selbstgestrickten Mützen in den Farben der jamaikanischen Flagge, die so groß sind, dass mein gesamter Kopf darin verschwinden würde.
»Ich glaub nicht«, antworte ich.
Die Frau, die den Stand mit den Riesen-Mützen betreibt, zwinkert mir zu.
„Willst du ´ne Freundin?“, ruft sie mir zu, während sie mich von unten bis oben mustert und sich lustvoll mit ihrer Zunge über die Lippen fährt.
„Hab ich schon“, sage ich.
„Aber keine jamaikanische“, entgegnet sie nur und kreist gekonnt ihre füllige Hüfte.
Wo sie Recht hat hat sie Recht. Aber ich verzichte trotzdem, woraufhin sie mir zunächst etwas traurig hinterher winkt und sich dann dem nächsten Mann zuwendet, der ihren Weg kreuzt.
An einem kleinen Schubkarren bleiben wir stehen. Das hölzerne Gefährt ist bis zur Belastungsgrenze der schiefen Achse beladen mit einem Berg an Kokosnüssen.
Wir kaufen zwei und genießen ihren erfrischenden Inhalt.
»Kokosnüsse, Mann! Besser als Bier, besser als Rum. Die sind auch besser als Cola und erfrischender als Orangensaft. Die sind sogar besser als ein frisches Glas Milch oder ein Milchshake, Mann. Nicht mal ein Mango-Smoothie, oder ein Papaya-Smoothie kommt an eine frische Kokosnuss ran! Obwohl die auch verdammt gut sind. Aber Kokosnüsse sind sogar besser als Sex, Mann…“
»Du liebst also Kokosnüsse«, unterbreche ich ihn freundlich.
»Ich liebe Kokosnüsse, Mann“, sagt Keith nickend und geht weiter durch die Menge.
Irgendwann kommen wir an einer Menschentraube vorbei, die vor einem rotweißen Flatterband steht und auf einen bräunlichen, sackartigen Gegenstand blickt. Davor stehen zwei Polizisten mit Maschinengewehren, die mürrisch auf die Menschen vor ihnen schauen.
Jetzt erst erkenne ich, auf was die Menschen starren.
Bedeckt von einem zerrissenen Leinensack liegt ein Mensch. Ich meine, die Konturen des Körpers klar erkennen zu können, auch wenn mir meine Phantasie vielleicht einen Streich spielt.
„Scheiße, Mann, ist der tot?“, frage ich Keith, während ich mir der Idiotie meiner eigenen Frage im gleichen Moment bewusst werde.
»Armer Typ, Mann«, sagt Keith nur, schüttelt mit dem Kopf und geht weiter.
»Willst du was essen?«, fragt er mich, als sei nichts gewesen.
Man konnte zwar glücklicherweise nicht sehen, was wirklich passiert war, doch allein der Gedanke an die mögliche Tat, die sich hier, wahrscheinlich erst vor Kurzem, zugetragen hat, hat sich unweigerlich in mein Gehirn gebrannt und nimmt dort gerade so viel Raum ein, dass ich es momentan nicht einmal mehr schaffe, meine Umgebung bewusst wahrzunehmen, sondern wie betäubt hinter Garth herlaufe.
Doch lange bleibe ich nicht in diesen düsteren Gedanken versunken.
»Yo, Whitey! Whitey!«, ruft jemand hinter mir. Keith bleibt stehen und dreht sich um, ich tue es ihm gleich als ich von weitem einen Rastamann mit wehenden Dreadlocks auf einem Fahrrad durch die Menschenmenge auf uns zurasen sehe.
»Meint der mich?«, frage ich Keith.
»Ich denke. Du bist der einzige Weiße hier weit und breit«, lacht Keith und zuckt kurz mit den Schultern. Ich drehe mich einmal im Kreis und sehe tatsächlich keinen anderen mit einer derart knäckebrotartigen Pigmentierung wie meiner. In diesem Moment hat der Mann mit den wilden Dreads und dem dicken Joint im Mundwinkel uns auch schon auf seinem verrosteten Damenrad eingeholt.
An seiner grünen Armeejacke hängen so viele Buttons von der äthiopischen Flagge, Bob Marley und dem »Lion of Judah«, dass er aussieht wie ein kiffender Christbaum.
»Yo Whitey, wah gwaan?«, sagt er.
Ich blicke Keith fragend an.
»Wie es dir geht, will er wissen«, übersetzt Keith.
Er fängt direkt an weiter zu reden, ohne meine Antwort abzuwarten während Garth immer wieder übersetzt, wenn er zu sehr in Slang oder den jamaikanischen Dialekt Patois verfällt.
Er redet von der Bibel, von Jah und von irgendwelchen zusammenhanglosen Dingen.
»I and I are no Battyman, right?«, fragt er mich irgendwann.
»Ob du schwul bist, will er wissen«, übersetzt Keith.
»Nein, aber was spielt das überhaupt für eine Rolle?«
»Schwieriges Thema. Komm, lass uns abhauen, das kann hier gleich ungemütlich werden«, sagt Garth nur, doch der Rasta hat anscheinend noch mehr zu sagen, denn er redet unbeirrt weiter und wird lauter.
Der Verkäufer des kleinen Standes, vor dem wir stehen beobachtet unsere Unterhaltung misstrauisch, während er langsam einige Kochutensilien, Messer, Macheten und andere Eisenwaren auf dem Tisch vor sich stapelt, ohne uns aus den Augen zu lassen.
Der Rastamann unterdessen redet sich immer mehr in Rage. Während er weiter über Schwule geifert, von Höllenfeuern, Todsünden und dem Fall von Babylon schwadroniert und die Augen dabei teilweise so weit verdreht, dass man nur noch das Weiße sehen kann, kommt er mir immer näher und fuchtelt mit seinen Händen vor meinem Gesicht herum.
Als Keith und ich ihm signalisieren, dass wir gehen müssen und dabei sind uns um zudrehen, packt er mich plötzlich am Hemd, während er anfängt zu schreien. Ich reiße mich los, stolpere einen Schritt nach hinten und stoße einen Eimer mit Kochlöffeln um, der hinter mir stand.
Da wird es dem Verkäufer des Standes zu viel. Er schnappt sich eine der Macheten und geht drohend auf den Mann los, der sich die Arme schützend vors Gesicht reißt, während er den Verkäufer lautstark anschreit. Ich werde von Keith gepackt und aus dem Handgemenge gezogen.
Der Rasta rennt ein Stück weg, bleibt ein paar Meter von dem Stand entfernt stehen und schreit den Verkäufer weiter an, der immer noch seine Machete in der Hand hält.
Wir beschließen, uns das Ganze nicht weiter anzusehen, auch aus Angst, dass der Verrückte uns erneut seine Aufmerksamkeit zuwenden könnte.
»Komm, wir gehen was trinken«, sagt Keith, als wir endlich in sicherer Entfernung sind.
Ich habe mittlerweile jedes Orientierungsgefühl verloren. Links und rechts führt mich Garth durch die schmalen Gänge des Marktes.
Irgendwann zeigt Keith mit einer nickenden Kopfbewegung in Richtung einer unscheinbar aussehenden Wellblechhütte, deren Inneres tatsächlich eine Bar beherbergt.
Die Bar unterscheidet sich äußerlich nicht großartig von den restlichen Wellblechhütten, außer, das mit Farbe eine Flasche Rum an die Wand gemalt wurde, und hätte Keith nicht direkt darauf gezeigt, dann wäre ich sicherlich in all dem Gewühl daran vorbei gelaufen.
Die Wände im Innern der Hütte sind fast zur Gänze mit nackten oder halbnackten, dickbusigen Frauen tapeziert, die aus irgendwelchen billigen Erotik-Kalendern herausgerissen wurden, Auf dem einzigen Regal hinter der Bar stehen ein paar verstaubte Flaschen Rum und ein Bild seiner Majestät Kaiser Haile Selassi I.. Darüber bewirbt eine flimmernde Leuchtreklame die jamaikanische Brauerei Red Stripe.
Ich bestelle direkt zwei davon und etwas zu essen.
Nicht, dass die Red Stripe-Werbung mich wirklich überzeugt hat, aber die Bar scheint auf Nachfrage nichts anderes zu verkaufen. Die Bedienung greift ohne etwas zu sagen unter die Theke und stellt zwei lauwarme Bierflaschen vor mir auf den Tresen.
»Kühlung ist kaputt«, sagt sie nur und verschwindet durch einen Perlenkettenvorhang ins hintere der Hütte.
Kurze Zeit später kommt die Bedienung mit zwei großen Schüsseln Reis mit Bohnen und einigen frittierten Hähnchenteilen wieder, die sie vor Keith und mir auf die Theke stellt.
Meine Gedanken kreisen sich immer noch um den toten Typen auf der Straße. Ich hatte natürlich die Geschichten über Kingston gehört, aber eigentlich machen die Menschen hier auf mich einen relativ entspannten Eindruck.
Abgesehen von dem durchgeknallten Rastamann vielleicht.
»Ist so was normal hier?«, frage ich Keith.
»Hm?«
»Der Tote auf der Straße«
»Ach so, der. War schon mal schlimmer«, sagt Keith nur.
»In these days, you can get no rice/ No razor blades, but you can get knife/ In these days, see the people run/ They have no food, but the boy have gun«, haben schon The Clash in ihrem Song »Kingston Advice« über die Stadt gesungen.
Ich blättere eine Ausgabe des »Gleaner«, einer der größten Zeitungen in Jamaika, von letzter Woche durch, die neben mir auf dem Tresen liegt.
»Murder«, »Death«, »Violence«.
Eins dieser drei Wörter ist auf fast jeder Seite zu finden. Gemessen an der Einwohnerdichte, zählt Kingston zu den fünf gefährlichsten Städten der Welt. Über 2000 Menschen werden hier jedes Jahr umgebracht.
Würde es in Kingston also heute nur bei dem einen Toten bleiben, wäre es wahrscheinlich der friedlichste Tag seit 50 Jahren.
Ich schiebe die Zeitung herüber zu Keith und zeige auf einen Artikel, in dem ein Mann aus Kingston seinen Nachbarn solange verprügelt hat, bis er an den Verletzungen gestorben ist.
Direkt daneben steht ein Bericht über Bandenauseinandersetzungen in Trench Town mit mehreren Toten.
»Woran liegt das? Armut? Drogen?«, frage ich Keith.
»Auch«, antwortet er. »Arbeitslosigkeit, Drogenabhängigkeit, Gewalt, das hängt alles zusammen. Aber die wahren Ursachen liegen tiefer«, sagt Keith, trinkt den letzten Schluck seines Biers aus und bestellt zwei neue.
»Die Leute hier stecken in einer tiefen Identitätskrise. »Black is beautiful« können sich viele Menschen nicht eingestehen. Und das ganze geht sogar noch weiter: Umso heller du pigmentiert bist, umso höher ist die soziale Akzeptanz, sind die Chancen, dass du einen Job oder eine Wohnung bekommst.“
Tatsächlich sind die Nebenwirkungen von chemischen Hautaufhellern eins der am stärksten wachsenden Gesundheitsrisiken in der jamaikanischen Bevölkerung.
»Viele Menschen hier, nicht alle, stehen nicht zu ihren eigenen Wurzeln. Und wenn man sich nicht selbst respektiert, wie kann man dann andere respektieren?«, fragt mich Keith.
So spontan weiß ich darauf keine Antwort, aber er verlangt auch gar keine von mir.
Es gibt eine Studie, den sogenannten »Doll Test«, für die Kinder im Vorschulalter eine schwarze und eine weiße Puppe vorgesetzt bekommen. Die Kinder sollten nun auf die böse Puppe zeigen. Ohne großes Zögern zeigen sie fast ausnahmslos auf die schwarze Puppe.
Der Test wird bis heute durchgeführt, auch in Jamaika.
Selbst Kinder, die aus einem komplett afro-karibischen Umfeld stammen, schwarze Lehrer an den Schulen und nur People of Color in der Nachbarschaft wohnen haben, zeigen auch im Jahr 2017 auf die Frage, welches die böse Puppe sei, auf die schwarze.
Warum sie gerade diese Puppe mit etwas negativem assoziieren, können sie dabei nicht begründen.
»Ich kann nur nicht ganz verstehen, warum sich das nach dem Ende des Kolonialismus nicht geändert hat? Der Anteil an Weißen hier auf der Insel macht nicht mal ein Prozent aus«, sage ich.
»Aber dieses eine Prozent hat in vielen Fällen immer noch das Sagen und zieht im Hintergrund die Fäden. Sie leiten die Wirtschaft und damit auch die Politik. Außerdem ist es nicht so leicht, 500 Jahre Sklaverei und Unterdrückung der Schwarzen aus den Köpfen der Menschen zu bekommen. Wenn dir Jahrhunderte lang eingeprügelt wird, dass du als schwarzer weniger wert bist und der weiße Mann dadurch das Recht hat, dich zu unterdrücken, dann glaubst du es auch irgendwann«
Ich fühle mich auf einmal nicht mehr wohl in meiner Haut.
»Wieso lebst du denn überhaupt noch hier, wenn alles so furchtbar ist?«, frage ich Keith, woraufhin er zuerst die Stirn runzelt und anschließend laut anfängt zu lachen.
»Mann, wer hat denn gesagt, dass alles furchtbar ist? Wir haben unsere Baustellen, klar, und sind bestimmt nicht die gute Laune Insel aus der Rum-Werbung, aber auch bei Weitem nicht die Hölle, die der Ruf vermuten lässt«
Die Wahrheit pendelt sich wahrscheinlich, wie so oft, irgendwo dazwischen ein.
Keith klopft mir auf die Schulter.
»Lenni, ich zeig dir Jamaika. Und wenn wir fertig sind, willst du hier nicht mehr weg«, sagt Garth, wischt sich die Hände an der Hose ab, wirft einen zerknüllten Geldschein auf die Theke und signalisiert mir ihm zu folgen. Raus aus der kleinen Wellblechhütte zurück auf die Straße, zurück ins Chaos des Coronation Markets.
Er zeigt in Richtung des Wassers und wir laufen durch kleine Gassen aus notdürftig zusammengehämmerten Bretterständen, Schubkarren, auf denen Männer, Frauen und Kinder Gemüse, Obst und Kräuter verkaufen und vorbei an Bergen an Müll, raus aus dem Zentrum des Marktes und damit raus aus dem Trubel. Umso näher wir dem Meer kommen, umso mehr wird das Gemurmel der Menschen abgelöst vom Rauschen der Wellen, die lautstark an die Kaimauer schlagen.
Wir steuern auf einen Kokosnuss-Verkäufer zu, der im Schatten einer Palme an seinen mit frischen, grünen Kokosnüssen gefüllten Wagen gelehnt ist und zu schlafen scheint.
»Yo, Coconut-Man, ich brauch deine zwei fettesten, saftigsten Kokosnüsse für mich und meinen weißen Freund hier«
Als ob er sich noch zu überlegen scheint, ob es sich wirklich lohnt für zwei Kokosnüsse seinen Schlaf zu unterbrechen, öffnet er erst ein paar Sekunden später die Augen, steht dann aber doch auf, begutachtet den Berg an Kokosnüssen vor ihm einen Augenblick, sucht zwei von ihnen heraus, schlägt jeweils ein Stück mit ein paar gezielten Schlägen seiner Machete ab, bis sie ihr flüssiges Inneres preisgeben und drückt sie Keith und mir in die Hand.
Aus einer kleinen Box unter seinem Wagen schallt blechernd wie aus einer Konservendose Bob Marley und singt vom Sonnenschein und seinen »three little birds«.
Garth und ich setzen uns auf die Kaimauer hinter dem Verkäufer und schlürfen unsere Kokosnüsse.
„Ich liebe Kokosnüsse, Mann«, sagt Keith.
Ich nicke. Weiß ich.
Ich versuche die Eindrücke der letzten Stunden zu verdauen.
Ich wollte einen Eindruck vom Jamaika abseits der Werbeprospekte einschlägiger Kreuzfahrtanbieter erlangen und habe ihn bekommen. Schneller und intensiver, als mir lieb ist.
»Don’t worry about a thing/ ›Cause every little thing gonna be all right«, singt der Blechbüchsen-Bob. Ich versuche ihm zu glauben.
Wie, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, kommt die Sonne hinter einer Wolke hervor, die sie zuvor verdeckte und taucht das Meer vor mir in ein türkises Blau.
Ein paar Kinder versuchen Krebse zwischen den Steinen zu fangen und lachen sich gegenseitig schadenfroh aus, wenn jemand von ihnen mal wieder zu übermütig war und von einem der Schalentiere gekniffen wurde.
Der Wind lässt die Palmenblätter über meinem Kopf leise rascheln.
»Guck dich um, Mann«, sagt Keith und schlürft an seiner Kokosnuss, »Wir sind hier im Paradies. Aber selbst im Paradies gibt es Schlangen«
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