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Kingston, Jamaika
„Bleib auf jeden Fall heute Abend im Hostel. Es ist schon dunkel, auf der Straße hauen sie dich tot. Wenn nicht für Geld, dann nur zum Spaß. Und wenn du morgen doch rausgehen willst, dann auf keinen Fall alleine“, gab mir mein Taxifahrer gestern Abend noch mit auf den Weg, als er mich vom Flughafen vor meinem Hostel absetzte. Ich verabschiedete mich irritiert lächelnd von ihm, während ich vor dem Eingangstor stehend argwöhnisch die spärlich beleuchtete Straße auf und ab blickte.
Mittlerweile ist es Morgen und die Sonnenstrahlen auf meinem Bauch, der Kaffee in meiner Hand, das leise Vogelgezwitscher aus dem bunt blühenden Bäumen rundum, gepaart mit den Reggae-Rhythmen, die auf der Terrasse im Hinterhof des Hostels dudeln, lassen seine Worte schnell wie das paranoide Geschwätz eines alten Mannes erscheinen.
Die rund 30 Zentimeter langen, spitzen Eisenstangen über dem massiven Eisentor des Hostels und der Stacheldraht auf der Mauer und der Wachmann vor dem Eingang allerdings unterstützen wiederum seine Warnung.
Ich lasse mich trotzdem nicht davon abschrecken an meinem ersten Tag in Jamaika die Stadt auf eigene Faust zu erkunden.
Kingston. Nur wenige Städte auf der Welt haben eine derart starke Anziehungskraft auf mich, ohne, dass ich diese wirklich begründen kann. Allein der Name reicht aus, um unzählige Bilder in meinem Kopf abspielen zu lassen:
Heiße Dancehall-Parties, feuriges Essen, Rum, Palmen, Strand, Musik. Und noch mehr heiße Dancehall-Parties.
Momentan sehe ich nichts davon.
Einfach gebaute, dafür aber schwer geschützte Häuser reihen sich in einem Netz nahezu gleich aussehender Straßenzüge aneinander.
Nach 20 Minuten habe ich mich hoffnungslos verlaufen. Jede Straße in dieser verdammten Siedlung sieht absolut identisch aus und es ist weit und breit niemand zu sehen, den ich nach dem Weg fragen kann.
Ich würde mir gerade fast schon wünschen, überfallen zu werden, einfach nur, um die Räuber im Gegenzug für die mir abgenommenen Habseligkeiten nach dem Weg zu fragen und um mich zu vergewissern, dass nicht über Nacht die Apokalypse über Jamaika eingebrochen ist und ich der letzte Überlebende in dieser gottverlassenen Gegend bin.
Nach weiteren zehn Minuten kommt die Hilfe in Form von Keith, Musiker/Hobby-Philosoph/Entrepeneur, der, kopfnickend zur aus seinem Handy dröhnenden Musik, um die Ecke gebogen kommt und mir direkt anbietet mich zur Bushaltestelle zu bringen.
„Klar, Mann, zeig ich dir. Ist zwar nicht weit, aber du läufst in die komplett falsche Richtung, Mann“, sagt er und fragt mich, wie ich heiße.
»Ich heiße Lennart“, sage ich.
»Leonard?«
»Ne, Lennart«
»Lenmark?«
Was für ein scheiß Name ist bitte Lenmark?
(Sorry an alle Lenmarks, deren Gefühle ich gerade verletzt habe)
»Auch nicht…. Egal. Nenn mich einfach Lenni«
»Lenni, cool, Mann!«
Er fängt direkt an zu erzählen, von seiner Musik, Kingston, dem Leben in Jamaika, von Frauen, von der Unterdrückung der Schwarzen und den besten Fleisch-Pies der Insel, während wir in Richtung der Bushaltestelle laufen.
Wir laufen beinahe den identischen Weg zurück, den ich auf meiner Suche nach dem Bus bereits zurückgelegt habe.
Unterwegs spielt Keith mir ein paar seiner Songs auf seinem Handy vor. Wirklich nicht schlecht.
Wie Tausende andere Jamaikaner, träumt er davon in die Fußstapfen von Bob Marley und Peter Tosh zu treten und groß rauszukommen.
Keith hat Anfang der 2000er sogar ein paarmal auf verschiedenen Festivals in Deutschland gespielt. Jetzt verkauft er Obst und Gemüse auf einem kleinen Holzkarren im Kingstoner Stadtteil Half Way Tree, um genug Geld zu sparen, um ins Studio zu gehen.
Als wir den Bus-Bahnhof erreichen, der sich unweit meines Hostels befindet, besteht er darauf, mich zu begleiten.
»Dude, wenn du allein als weißer Junge aus Deutschland nach Downtown fährst, dann fressen sie dich bei lebendigem Leib auf. Aber keine Angst, Lenni, Mann, Keith passt auf dich auf«, sagt er mir, während wir uns in einen der klapprigen Busse schwingen, die sich auf der Straße aneinander reihen.
Umso näher wir in Richtung Downtown Kingston kommen, desto bunter wird die Umgebung. Statt verschlafener Vorstadt-Monotonie wird das Zentrum der Hauptstadt von einer Eigendynamik geprägt, wie man sie sich von einer Karibik-Metropole wie Kingston vorstellt.
Hier spielt das Leben auf der Straße. Menschen drängeln sich über die schmalen Bürgersteige, während Auto‑, Bus- und Fahrradfahrer versuchen, aus einer zweispurigen Straße eine vierspurige zu machen. Von überall her schallt Musik. Schwere Bässe wabern über die Straße und lassen die Jugendlichen, die versuchen möglichst cool an den Straßenecken rumzuhängen, rhythmisch zum Beat mit dem Kopf nicken.
Die Wände der Gebäude sind bemalt mit den Nationalhelden des Landes, wie dem »Crown Prince of Reggae« Dennis Brown, Panafrikanist Marcus Garvey, der Anführerin der Maroon, Granny Nanny, die als erste einen erfolgreichen Sklavenaufstand gegen die britischen Kolonialisten anführte und natürlich Bob Marley. Überall Bob Marley. In allen erdenklichen Größen, Farben und qualitativ gut oder weniger gut ausgearbeiteten Variationen.
Vor uns führt eine lange Straße mit einer Reihe bunter Häuser aus den Kolonialzeiten des Landes bis ans Wasser. Die Bürgersteige sind verbaut mit Verkaufsständen, was die Menschen auf die Fahrbahn drängt und einige verzweifelte Autofahrer im Schrittempo ihren Weg durch die Menschenmasen bahnen lässt.
Keith führt mich in eine ruhige Seitenstraße. Eine Abkürzung, wie er sagt, obwohl ich eigentlich gar nicht weiß, wo wir überhaupt hinwollen.
»Hast du eine gute Kamera?«, fragt mich Keith.
»Naja, geht so«, sage ich.
»Gut, ich brauche nämlich neue Fotos. Für mein Album«, sagt Keith, stellt sich in Pose und fordert mich auf eine Impromto-Fotosession mit ihm zu starten.
»Ich bin kein Fotograf«, versuche ich ihm zu erklären, aber er stellt sich bereits in die nächste Pose, mal mit verschränkten Armen vor der Brust, mal mit zu Pistolen geformten Fingern mal mit in die Luft gestreckter Faust.
Keith nickt zufrieden, als er sich die Bilder anguckt.
Wir biegen um die Ecke und ich habe das Gefühl, dass es mit der Ruhe für die nächsten Stunden vorbei ist.
Wir befinden uns am Eingang des Coronation Markets, des größten Markts in der Karibik.
Hier wird alles verkauft von Kochtöpfen und Kleidern, über lebende Hühner bis zu Marihuana. Letzteres liegt, in großen Bündeln, getrocknet auf kleinen Holzkisten liegt. Keith greift sich eins der Bündel, gibt dem Verkäufer eine, aus meiner Sicht, lächerlich kleine Summe Geld und steckt das Ganja in seine Tasche.
»Für später«, sagt er und zwinkert mir zu.
Naja, when in Jamaica…
Mehr im nächsten Teil.
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