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Die Erwartungshaltung entsteht auch durch die Mühseligkeit der Anreise: zehn plus x Stunden mit dem Nachtbus von Nha Trang hinauf; sobald es zweistellig wird, zählt man nicht mehr mit. Da wünscht sich der Reisende erst recht eine tolle Erholungskulisse, für den ersten Tag jedenfalls, und dann jede Menge Spektakel, Authentizität, Exotik. Ganz einfach eine großartige Sehenswürdigkeit.
Die Sonne brennt viel zu hell und fröhlich vom Himmel, als die Rucksacktouristen am frühen Morgen den Bus in Hoi An verlassen. Die Energie reicht nicht mehr zum Feilschen. Für ein bisschen zu viele Dong fährt einen der Taxifahrer in das kleine „Boutique-Hotel“, das man sich bei Hostelword.com herausgesucht hat. Der Übernachtungspreis und die Bewertung in Sternen, beides ergibt die moderne Entscheidungsmatrix für die Wahl der Unterkunft. Man klickt sich durch die Angebote wie bei einem Versandhändler, einfach weil es geht und so viel einfacher ist, als vor Ort planlos vor der erstbesten Rezeption aufzuschlagen.
Wir zahlen für unser Doppelzimmer im Phu Thinh 2 (bevor Sie jetzt lachen: man spricht es garantiert nicht wie den russischen Präsidenten aus) stolze 55 US-Dollar, was für die Backpacker-Verhältnisse in Vietnam schon pure Dekadenz ist. Aber es ist, zumal durch zwei geteilt, eben immer noch ein lächerlicher Preis für das schwimmende Blütenarrangement in der kleinen dunkelgrauen Wasserschale, das blitzblank geputzte Badezimmer, den Pool im Garten, für den Ausblick vom Balkon auf die Berge im Hinterland.
Erst einmal ein Nickerchen nach der Zerfahrenheit der nächtlichen Busfahrt, dann die Frage: Moment, okay, warum sind wir noch mal hier? Hoi An, das hat doch seinen Grund gehabt.
Lesen wir noch einmal im Reiseführer nach: Dort ist die Rede von „romantischen Gassen“ und einer „friedlichen, intimen Atmosphäre“. Hoi An sei das „populärste Travellerziel Vietnams“, ja sogar die „Tourismusdestination Vietnams schlechthin“. Das klingt so, als wäre es vollkommen fahrlässig, Hoi An auf einer zweiwöchigen Rundreise durch Vietnam nicht für mindestens zwei Nächte zu besuchen. In unserer Reiseeuphorie entgehen uns die negativen Konnotationen der Worte „populär“ und „Tourismusdestination“, die beim zweiten Hinhören tatsächlich allerlei grausige Assoziationen hervorrufen können.
Es gibt touristische Ziele, die zu Recht bekannt und überlaufen sind (das Metropolitan Museum of Art, die Ruinen von Angkor, die Salzwüste in Bolivien) und solche, die so totgeritten sind, dass man sich einen Besuch wirklich sparen kann (man denke nur an den Eiffelturm). Das ist immer auch Geschmackssache. Über Hoi An lässt sich an diesem sonnigen Morgen noch kein Urteil abgeben, aber die Vorschusslorbeeren: Not too bad. Das schwärmerische Lob erzeugt aber eine gewaltige Fallhöhe.
Im 16. Jahrhundert landeten die Portugiesen in Vietnam. Sie brachten Musketen und Kanonen mit, die wiederum Händler aus anderen Teilen Ostasiens – aus China, Japan oder Java – anlockten. Hoi An wurde ein bedeutendes Handelszentrum, für Seide, Porzellan und Baumwolle zum Beispiel. Doch der Hafen versandete, und im 19. Jahrhundert befand sich das Städtchen bereits im Niedergang. Die Kaufleute gingen woanders hin, etwa nach Da Nang. Mutmaßlich verdankt Hoi An seine heutige Popularität der Tatsache, dass die Altstadt während des Vietnamkriegs nicht zerstört und irgendwann von der Unesco als Welterbe geadelt wurde. Ein pittoresker Hafenort zum Flanieren, eine nette Promenade, ein bisschen chinesische Architektur, plus vietnamesische Lebensart. Das sind die Zutaten, aus denen die Verheißungen der touristischen Vermarkter zusammengepanscht sind.
Ein erster Spaziergang durch Hoi An führt dem Besucher vor allem eines vor Augen: Restaurants, Bars, Souvenirläden und Schneidereien. Selten haben die Häuser mehr als zwei Geschosse, einige französische Kolonialvillen sind fein bunt angestrichen, als Höhepunkt des Stadtbilds gelten die alten Handelshäuser und chinesischen Tempel mit verzierten Giebeln, Drachenfiguren, Ornamenten, Räucherstäbchen, Schreinen und Zierteichen. Es gibt auch eine japanische Brücke mit einer angebauten Pagode, die einem daoistischen Geistervertreiber mit den Namen Tran Vu gewidmet ist. Die Sehenswürdigkeiten Hoi Ans lassen sich binnen zwei Stunden bequem erlaufen, man ist dann sozusagen fertig.
An diesem Punkt des Stadtbesuchs – nachdem das angeblich Sehenswerte besehen wurde – erhofft man sich als Reisender, dass eine zweite Ebene des Erlebens aktiv wird (manchmal passiert das gleich in den ersten fünf Minuten, aber das ist eher selten): Die Grundstimmung des Ortes wirkt auf das Gemüt des Reisenden ein, auf ganz unterschiedliche Weise. Sie beflügelt die Phantasie und bestärkt den latenten Willen zu einer Veränderung, die nun wirklich passieren muss. Sie legt die Brüche des bisherigen Lebensweges frei und fördert Melancholie zutage. Oder sie macht das Denken leichter und schafft einen gesunden Abstand zu bestimmten Erlebnissen der Vergangenheit. Sie zeigt Wege auf, wohin die Reise, so im Großen und Ganzen betrachtet, einmal hingehen könnte. Manchmal passiert das alles gleichzeitig. In Hoi An hingegen öffnet sich für uns genau keines dieser Wahrnehmungsfenster.
Während unseres dreitägigen Aufenthalts tun wir im Prinzip nicht viel mehr als Spazieren und Essen. Was an anderen Orten als Programm völlig genügt, weil man im sogenannten Flair der Stadt ganz aufzugehen scheint, erweist sich in Hoi An als unbefriedigend. Wir wissen nicht, wohin mit uns. Wir laufen mal hierhin (auf den Markt), mal dorthin (ans Flussufer), ohne recht zu wissen, was wir anstellen sollen. Warum nur?
Ein Grund ist, dass Hoi An von reisenden Pärchen, Familien und hedonistischen Individualtouristen extrem überlaufen ist. Am Abend werden am Fluss gelbe Lampions entzündet. Das soll wohl für eine „bezaubernde Stimmung“ sorgen, in der sich die Besucher, wie beim großen Abendprogramm eines Freilichtmuseums, ganz angerührt fühlen. Gleichzeitig dröhnt von der anderen Seite des Thi Bon, von der Insel Cam Nam, die Musik der Saufschuppen herüber, in denen starke Longdrinks für kleines Geld für junge Europäer ausgeschenkt werden, die sich für „drei Monate Südostasien“ eine Auszeit während ihres Studiums genommen haben. Vielleicht entsteht hier bald noch so eine Art Ballermann in Miniatur, wie an so vielen Orten zwischen Hanoi und Lombok.
Und dann zeigt sich in Hoi An die zunehmende Tripadvisorisierung des Reisens. In jedem zweiten Schaufenster hängt ein „certificate“ als angeblicher Ausweis von Qualität. An der nächsten Straßenecke ist wieder ein Restaurant „2014 winner“, was immer das heißen soll. Tripadvisor, der neue Lonely Planet. Man läuft durch die Gassen und ist ganz und gar Kunde. Überall soll man hineingelockt werden zu Burgern, Spaghetti und Croissants (what the fuck?), aber auch zu „traditional Vietnamese cuisine“, die nie so gut ist wie die in Saigon. Was die Masse an Urlaubern mitbringt, ist nicht gerade ein Sinn für Qualität.
Hoi An ist eine Stadt, die heute nicht nur maßgeblich vom, sondern auch für den Fremdenverkehr existiert, der sich hier wie an vielen Orten Vietnams in Form eines individualisierten Massentourismus zeigt. Die Tatsache, dass es den Tourismus in Hoi An gibt, ist wiederum der Grund für weitere Touristen, dorthin zukommen. Eine große Selbsterhaltungsmaschine, eine leere Hülle.
Der Umstand, auch noch Teil dieses großen Auflaufs zu sein, führt zu einer gewissen Unzufriedenheit. Wer das Spiel durchschaut, kommt sich vor wie ein alberner Clown: auf der Suche nach dem authentischen Reiseabenteuer, aber gestrandet in einer kommerziell absolut durchorganisierten Touristenhochburg. Man hat es eben doch nicht schlauer angestellt als die ganzen Leute, die hier mit einem im Lokal sitzen.
Erkenntnis des letzten Abends: Wir sind der Masse gefolgt, auf dem wirklich ausgetretenen Touristenpfad nach Norden, und für etwas anderes waren wir entweder zu unwissend oder zu bequem. Aber was ist dagegen schon einzuwenden? Am Ende sind wir auch nur zwei vergnügungssüchtige Europäer mit etwas zu empfindsamen Gemütern und jeweils 600 harten Dollar in der Tasche, die die Devisenarbitrage in einem aufstrebenden, aber immer noch verhältnismäßig spottbilligen Schwellenland ausnutzen, um sich in der Abendsonne in eine diffuse Wohlfühllaune zu trinken. Was soll’s? Ärgern bringt jetzt nichts mehr.
Bei Tripadvisor gibt es für die Altstadt von Hoi An aktuell 4066 Bewertungen. „Ausgezeichnet“ sagen 2664 Nutzer, „sehr gut“ finden 1071. Gelobt wird die „Straßenküche“ (die ja eben genau keine mehr ist) oder das „China-Flair“. Eine Nutzerin versteigt sich auf die gewagte These: Hoi An sei eines der „Must-Sees der Welt“. Nicht alle sind derart überzeugt. In einer Bewertung heißt es lakonisch: „Von Touristen überlaufen, Geschäfte der gleichen Art (Bekleidung und Andenken), irgendwie wie ein Outlet-Village“. Trotzdem: drei von fünf Punkten.
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Wir hatten oft ganz ähnliche Gedanken, wenn auch anderswo (in Europa, zuletzt z.B. in Andalusien). Ich bin mit mir selbst auch bis jetzt noch nicht ins Reine gekommen, wie viel touristische Infrastruktur ich praktisch und angenehm finde, und wo meine persönliche Schmerzgrenze beginnt, was Menschenmassen, Kitsch und Bauernfängerei betrifft. Auf unserer Langzeitreise habe ich auch gelernt, dass das tagesformabhängig ist.
Und eure Fotos sind jedenfalls ganz fantastisch!Mich hat Hoi An mit seinem weichen Licht im Regen, dem schwimmenden Markt auf Booten und den verblassenden Pastellfarben verzaubert, aber das war 2002. Damals gab es keinen Tripadvisor und Vietnam war noch kein so angesagtes Reiseziel.
Da sagst du was. Wir waren zu zweit in 2003 5 Wochen in Vietnam mit dem MTB auf Entdeckungstour. Ein wunderschönes, authentisches und bereicherndes Erlebnis. Damals… Auch wir haben zwei Tage in Hoi An verbracht und es genossen. Von Tourismus und Massen war damals dort noch nicht zu spüren. Aber unser Favorit war damals wohl Hanoi. Ein Wahnsinn – eine Woche sind wir eingetaucht in die liebenswürdige, wuselige Stadt. 1000de Fahrräder, 100de Mopeds und so gut wie keine Autos. Heute reißt mich Vietnam leider nicht mehr.
Tja, hier wird Indidualität massentauglich…
Es kommt immer ganz darauf an, was man erwartet – der Autor hat absolut Recht und trotzdem möchte ich unbedingt noch einmal nach Hoi An. Es ist eine Touri-Hochburg aber trotzdem so schön entspannt. Ich bin mittlerweile in einem Alter, in dem man die Jagd nach dem besten authentischsten Backpacker-Erlebnis auch mal hintenan stellen kann – und ja auch ein hedonistischer Indivudalreisender 😉 Mit dem Rad durch Reisfelder an den Strand fahren, eine traumhafte bezahlbare Unterkunft, leckeres Essen und mal hier ein bisschen Yoga mal da ein bisschen was schneidern lassen war für mich persönlich genau das richtige und bin da sechs Tage rumgesandelt. Wenn man in Vietnam die Nord-Süd Tour macht, muss man sich auf den wachsenden Tourismus einstellen. Ich habe mir von Hoi An nichts anderes erwartet und war deswegen zufrieden dort – habe aber auch ein bisschen über die guten und schlechten Seite der Entwicklungen in Vietnam nachgedacht – und zwar in Sa Pa.hier mein Bericht dazu.
Hoi An ist m.E. die Instant-Lightversion für Vietnamreisen – nichts für Individualisten-Reisende, aber das kann man vorher erlesen.. Wer sich drauf einlässt kann dort entspannte Stunden verbringen – ich habe dort fast eine Woche mit Roller-Ausflügen, ein bisschen shoppen, tauchen und am Strand verbracht und fand es war ein wenig wie »Rothenburg ob der Tauber« für asiatische Touristen.…
Hat seine Berechtigung, man weiß was einen erwartet (wie meistens in Vietnam)Immerhin drei von fünf Punkten, drei Tage ist tatsächlich ne ganze Menge. Wir haben Schnorchelausflüge auf Seelenverkäufern gemacht, Lampions gebaut, am Strand gelegen, den Fluß befahren, lecker und viel (einfache Strandrestos mit frischem Fisch aus Plastikeimern, Füße im Sand und dazu ein paar Dosen Larus-Bier aus Danang (mit dem Tigerkopf ) gegessen. 1 1/2 Tage. Life could have been worse those days 😉
Gut, dass ich Hoi An während meiner einmonatigen Vietnamreise ausgelassen habe 🙂 Trotzdem lernt man ja auch immer was bei solchen Erfahrungen!
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