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Das deutsche Wort „Gemütlichkeit“ findet nicht in allen Sprachen eine Entsprechung, wohl aber auf Dänisch: „Hygge“ heißt es, wenn ein Ort so einladend und heimelig daherkommt, dass die Vorstellung, ihn wieder verlassen zu müssen, tief in die gedankliche Abstellkammer verbannt wird. Und „Hygge“ ist es, was ich als Erstes verspüre, als mich die Fähre von Esbjerg nach nur 12 Minuten Fahrt ausspuckt und sich Nordby, Fanøs 2.750 Einwohner starker Hauptort, vor mir erstreckt. Was die kleine Insel wohl so alles für mich bereithält?
Von Puppenhäusern, Schlachtern und Hunden
Auf mich wirken sie wie etwas groß geratene Puppenhäuser, die reetgedeckten bunten Häuschen aus dem 19. Jahrhundert, die Nordby zieren. Als echter deutscher Brotfan schlägt mein Herz höher, als ich wenige Schritte vom Fähranleger entfernt die Fanø Bageri, Bäckerei, entdecke, aus der ein Duft nach frisch Gebackenem strömt.
Den Wurstbelag zum Brot gibt’s schräg gegenüber – bei Slakter Christiansen, einem der besten Schlachter Dänemarks, wie ich wenig später von Lone Sigaard erfahre.
Lone und ihr Mann Gorm vermieten neben ihrem eigenen Haus in den Gassen eine winzige Haushälfte an Gäste – meine eigene Puppenstube mit Terrasse, kleiner Küche und einer steilen Treppe zum ausgebauten Dachboden. Sollte der Wind auf der Fähre noch nicht allen Stress von mir geblasen haben, so fällt der Rest ab, als ich das Häuschen des Galeasen B&B betrete. Wer braucht einen 5‑Sterne-Schuppen, wenn er „Hygge“ satt bekommt?
Nordby rühmt sich damit, dass seine Altstadt seit 1820 unverändert ist – ein Gassenlabyrinth, von denen die sogenannten „slippe“ in Richtung Wattenmeer führen. Eins der ältesten Gebäude ist das 300 Jahre alte Fanø Museum, das erzählt, wie es sich vor etwa 200 Jahren auf Fanø lebte. Fast möchte ich nicht glauben, dass die Insel einst eine Großmacht der Segelschifffahrt war und der Schiffbau auf Fanø 1850 seinen Höhepunkt erreichte. Die Insulaner brachen in die Welt auf und erarbeiteten sich Reichtum, der die Existenz der schmucken Kapitänsvillen erklärt. Und auch die beiden wehmütig dreinschauenden Porzellanhunde, die in fast jeden Fenstersims schmücken: Zwischen 1860 und 1900 war es für dänische Seefahrer ein Muss, ihren Frauen diese Figuren aus England mitzubringen, die Treue und Geborgenheit symbolisierten. Stach der Mann in See, schaute ihm das Hundepaar nach, kehrte er zurück, richteten die Hunde den Blick nach innen auf die wiedervereinten Geliebten.
Selbst in der Hovedgaden, der Hauptstraße, entdecke ich in den Fenstern viele Hundepärchen. Doch hauptsächlich reihen sich dort kleine Geschäfte, Boutiquen, Cafés und Restaurants aneinander, eine Crèperie wirbt mit Crèpes mit Schinken von Schlachter Christiansen. Als Nachtisch gibt es im Fanø Vaffel & Bolsjehus neben Waffeln auch typisch dänisches Softeis mit Toppings nach Wahl. Und wie lassen sich die gesammelten Kalorien wieder abtrainieren? Bei einer Fahrradtour über die Insel, denn das beste Transportmittel auf Fanø ist der Drahtesel – bei mir der von Lone, in den meisten Fällen ein Leihfahrrad vom Fahrradladen in Nordby.
Luft unter den Flügeln
Schon beim ersten Spaziergang durch Nordby fallen sie ins Auge: blaue Schilder mit weißem Fahrrad darauf, dazu die Zahl 404 und das Wort ‚Panoramarute‘. „Die Strecke besteht aus 26 Kilometern und ist eine von 25 dänischen Panoramaruten in Küstennähe“, erklärt Poul Therkelsen bei der Touristeninformation. Sie sei Teil des Projekts „Powered by cycling: Panorama“, gefördert vom Regionalfond der EU. „Luft unter den Flügeln, der Duft des Meeres, Leben und unbeschwerte Tage, sowie der unwiderstehliche Charme von den Städten Sonderhø und Nordby bewirken, dass sich Gedanken darüber, wie das Leben eigentlich gelebt werden sollte, unterwegs auf dieser bezaubernden Radtour wiederholt in das Bewusstsein drängen“, steht auf dem Zettel, der die Route und ihre Highlights beschreibt.
Die Tour startet beim Wahrzeichen des Hafens – zwei traurig dreinschauenden Hunden auf einem Sockel. Sie führt vorbei an einer Sandbank, wo sich neben Schiffen und wenige Meter vor der Uferpromenade Robben in der Sonne rekeln. Ungestört vom menschlichen Publikum genießen sie ihr Mini-Paradies und ich bilde mir ein, ein Grinsen auf manchem Robbengesicht zu erkennen.
Kurz nach dem alten Segelschiff Rebekka lasse ich Nordby hinter mir und bald auch die Hauptstraße in Richtung Sonderhø, dem südlichsten Ort der Insel. Statt nach Süden fahre ich nach Osten, hinein in die Landschaft, zwischen Büschen und Wäldern, wo es keine Autos mehr gibt, dafür aber Bienenkörbe, kleine Seen und jede Menge Vögel. Wenn das Schild „Klitplantage“ erscheint, ist man angekommen inmitten des Nationalparks, in einem Waldgebiet aus 1.421 Hektar, wo Berg- und Waldkiefern sowie die Sitka Fichte auch viele Laubbäume als Nachbarn haben und wo Rehe und Damwild leben. Ich lausche den Reifen auf dem Kieselstein, meinem gleichmäßigen Atem, spüre den Windhauch.
Erst, als der Waldspielplatz am westlichen Ende des Waldes näherkommt, dessen Spielgeräte aus Holz des Waldes gebaut wurden, höre ich Kinderlachen und plaudernde Erwachsene. Dann geht es weiter unter freiem Himmel in Richtung der Dünen, wobei mich Ziegen, deren Parfüm die salzige Meeresbrise überlagert, unter einem improvisierten Spitzdach beäugen. Bald liegt er vor mir, Fanøs 12 Kilometer langer Strand, der an den dicksten Stellen gut 700 Meter breit ist. Autos und Radler rollen langsam über den kompakten Sand. Wahnsinn! Strand-Radeln macht Spaß und ich fahre weiter, hinein in den Sonnenuntergang, dem selbst ein leichter Wolkenvorhang nicht die Schau stehlen kann.
Heiraten, Wattwandern und was man sonst auf einer Insel treibt
Am Abend laden mich Lone und Grom auf ein Glas Wein auf ihrer Terrasse ein. Endlich erfahre ich, warum ich ein Fahrrad mit der Beschriftung „Wedding Island“ fahre: Neben der Unterkunft betreibt Lone nämlich auch einen Hochzeitsservice. „Viele Paare kommen auf die Insel, um zu heiraten“, erzählt sie mir, „vor allem Pärchen mit einem ausländischen Partner, für die eine Hochzeit in Dänemark leichter ist.“ Die Geschäftsidee sei ihr gekommen, als sie stellvertretende Bürgermeisterin wurde und auch das Amt der Standesbeamtin übernahm. Mittlerweile habe sie die Kommunalpolitik hinter sich gelassen, aber am schönsten Teil ihrer Arbeit festgehalten – Paare zu trauen. „Ich organisiere etwa 220 Hochzeiten pro Jahr, die meisten am Strand.“
Heiraten gehört zwar nicht zu meinen bevorzugten Aktivitäten auf Fanø, eine Wattwanderung aber schon. Denn wenn man schon auf einer Insel mitten im Nationalpark Wattenmeer ist, zu dem er 2010 wurde und den 2015 die Aufnahme ins UNESCO-Welterbe krönte, muss man auch einmal barfuß über den matschigen Meeresboden spazieren. Frühmorgens geht es am Strand bei Sonderhø ganz im Süden los, zeitig genug, damit die Flut Wattgänger nicht überrumpelt. Zunächst kann sich die Sonne noch nicht gegen den Grauschleier am Himmel durchsetzen, doch zumindest braucht man sich Ende August wenig Gedanken um Seenebel machen – der laut Helen Mähler, einer gebürtigen Deutschen, die seit Jahren in Dänemark lebt und auf Fanø als Wattführerin arbeitet, gerade an lauwarmen Frühlingstagen zuschlägt. „Mir ist es passiert, dass ich losgelaufen bin, mich irgendwann umgedreht habe und den Strand nicht mehr sah“, berichtet sie, während sich die Kinder der Gruppe Eimer schnappen, in denen sie tote Krebse sammeln.
Ich schaue auf die vor Nässe glänzende Weite, über den grau-braunen Schlammboden, der ohne das Meer wirkt wie ein runzeliger Mensch, dem man sämtliche Klamotten und allen Schmuck entrissen hat. Doch der erste Eindruck, dass vor uns ein großes Nichts liegt, täuscht. „Die meisten Tiere graben sich tief in den Wattboden ein und passen sich den Schwankungen der Temperaturen und Strömungen an“, weiß Helen. Die Gruppe spaziert los, über schwammähnliche gelbe Brocken hinweg. „Das ist Parafin von Schiffen, das sich am Strand ansammelt.“ Dafür, Bernstein zu finden, ist es noch zu warm – gerade in der kühleren Jahreszeit ist Fanø nämlich für seinen Baltischen Bernstein bekannt, der zwischen 30 und 50 Millionen Jahren alt ist und bei Stürmen mit anderem Strandgut an Land treibt.
Als Erstes stolpere ich über ein Grüngewächs, aus dem jede Menge hautfarbener Würmchen hervorstechen – Queller, eine Wattmeerpflanze, die essbar ist und gut zu Fisch passt. Ich kaue auf einem der Würmer herum, der meerig und salzig schmeckt. Trampelt man an einer Stelle des Wattbodens herum, kommen nach kurzer Zeit Herzmuscheln zum Vorschein, das Lieblingsessen der Möwen. „Menschen können diese Muscheln nur essen, wenn das Wasser kühler als 14 Grad ist“, warnt uns Helen. Die Möwen haben dieses Problem nicht. „Wenn ihr euch Möwenkot genau anschaut, sieht er aus wie ein buntes Mosaik“, lacht Helen. Den Rest der Tour achte ich darauf, nicht in die künstlerisch aufwendigen Mosaike zu treten, die den Wattboden zieren. Die Muscheln graben sich unterdessen flink wieder in den Sand ein. Selbsterhaltungstrieb Deluxe.
Doch Möwenmosaike sind nicht das Einzige, was sich zu unseren Füßen sammelt. Da wären auch immer wieder dunkle Spaghetti-Haufen. „Wattwurmkacke! Gegenüber den Haufen seht ihr meist ein Loch, da ist der Kopf des Wurms, und dort, wo die Spaghetti liegen, ist der Po.“ Eine Frau zieht den Fuß angewidert von einem der Häufchen. „Wattwurmkacke ist der sauberste Sand, den es gibt, denn der Wurm saugt ihn auf – pro Jahr etwa 25 Kilo – filtert ihn und furzt ihn dann gereinigt wieder raus.“
Da erscheinen die grün begrasten Krebse, die im Matsch herumwanken, fast langweilig. Ob da ein Männchen oder Weibchen läuft, lässt sich auf einen Blick erkennen: Männliche Krebse haben einen spitzen Schwanz, weibliche einen runden. Die Zangen, eine große und eine kleine, sind bei beiden gleich. „Mit einer hält er die Muschel, mit der anderen knackt er sie“, erklärt Helen. Im Gegensatz zu den Beinen könnten die Zangen jedoch nicht nachwachsen, falls sie von einer Möwe ausgerissen würden. Was ich auch noch nicht wusste: Krebse können ihren Rückenpanzer abwerfen, wenn er ihnen zu eng wird, weswegen im Watt viele verwaiste Panzer liegen. Es ist, als wäre einem Menschen die Decke auf den Kopf gefallen und er hätte sich kurzerhand aus dem Staub gemacht.
Das Beste kommt zum Schluss: Eine Sandbank anderthalb Kilometer tief im Meer, auf der sich 400 bis 500 Seehunde und Kegelrobben tummeln. Dort aalen sie sich in der langsam hervorstechenden Sonne, einige in Rückenlage, als müssten sie auch ihre Unterseite mal durchbräunen. Uns trennt ein reißender Wasserkanal voneinander. Helen erzählt von den Babys, die im Januar oder Februar geboren wurden und zum Teil noch ihren weißen Babypelz zur Schau stellen, während die Teenager von sechs bis sieben Monaten bereits zu stattlichen Tieren herangewachsen sind. „Die Robben können die ersten vier oder fünf Wochen nicht schwimmen und liegen einfach auf dem Sand.“ Pro Tag fräßen sie etwa 20 Kilo Fisch. Ein bisschen beneide ich sie, diese Seehunde und Robben, die mitten im Meer ungestört von der Welt vor sich hin chillen und nur in die Wellen zu springen brauchen, wenn Appetit aufkommt.
Vom Winde verweht
Auf Fanø entdecke ich meinen neuen Lieblingsstrandsport: Blokart fahren. Guide Adrian von Club Fanø ist gerade beim Aufbau der etwas luftig wirkenden, drahtigen Segel-Sessel mit Rädern, als mich ordentlich Rückenwind mit meinem Fahrrad anbläst. Ich werde mit Helm und Handschuhen ausgestattet, viel zu erklären gibt es nicht. „Der Wind kommt heute stark von Norden, also fahren wir in Richtung Osten und Westen. Wenn es zu sehr nach Süden geht, kommen wir nachher nicht mehr zurück.“ Das Ganze scheint denkbar einfach: Beim Ziehen an der Schnur wird das Segel fester, lässt man los, hat der Wind das Sagen. „Wenn du um eine Kurve fährst, hol Schwung, dann lass die Schnur lockerer.“ Alles klar.
Adrian fährt vor, ich soll ihm folgen, immer schön im Slalom um die Verkehrshörnchen, wie früher, als ich Fahrradfahren lernte. Der Wind bläst heftig von der Seite, übermannt mein Segel, und ich schieße in gerader Linie aufs Meer zu, während Adrian brav Slaloms fährt. Ich sehe mich schon voll bekleidet mit meinem Blokart in der Nordsee, bis ich die Schnur ein wenig lockere und in letzter Sekunde doch noch die Kurve kriege.
Mit breitem Grinsen schieße ich zurück in Richtung Dünen, niete einige Hütchen um, und Adrian lässt mich machen. Mehrmals kippe ich um, schlage mir ein Knie und einen Knöchel blau, doch ein gewisser Schwund ist halt dabei. Je länger ich über den Strand kurve, desto besser verstehe ich das Spiel. Es ist wie im Leben: Wenn man mit zu viel Wind im Segel um die Ecke biegt, verliert man leicht das Gleichgewicht. Mann muss die Schnur auch mal lockerlassen können und den Wind den Rest machen lassen, um es um die nächste Kurve zu schaffen – aber auch nicht allzu lang, denn sonst bleibt man stecken.
Das schönste Dorf Dänemarks
Dafür, dass Fanø so klein ist, hat es einiges zu bieten. Darunter das angeblich schönste Dorf Dänemarks, Sonderhø, an der Südspitze. Um vom Strand ins Dorf zu kommen, radle ich an der Mølle vorbei, der Mühle von 1895, die bis 1923 noch in Betrieb war, und an der Kirche, wie die in Nordby auch eine Hallenkirche. Im Inneren baumeln 15 Schiffmodelle von der Decke, die größte Schiffsmodellsammlung des Landes – eine echte Seefahrerkirche mit weiß gestrichener Decke und blauen Bänken.
Genau wie bei Menschen, wo mir einige auf Anhieb sympathisch sind und andere nicht, fühle ich mich auch an einem Ort entweder gleich wohl oder eben nicht. Sonderhø gehört zu denen, die mir ein Gefühl von Ankommen und Bleibenwollen vermitteln. Ein Dorf mit engen Gassen, geziert von reetgedeckten Häusern, die meisten von Mitte des 18. Jahrhunderts oder aus dem 19. Jahrhundert. Zu der Zeit war Sonderhø die bedeutendste Seefahrerstadt an der jütländischen Westküste. Viele der älteren Häuser haben einige Merkmale gemeinsam: Sie sind klein, ebenerdig, reetgedeckt und haben Wohnraum und Stall in einem Gebäude. Wenn man genau hinschaut, sind die Giebel nach Ost-West ausgerichtet, wodurch sie den kalten Winterwinden besser trotzen können. Einige der traditionellen Reetdachhäuser weisen über der Haustür einen halbrunden Dacherker auf, den „arkengab“, außerdem fallen grüne, schwarze und weiße Ziegelsteine über Türen und Fenstern ins Auge. „Die Farben symbolisieren Geburt, Leben und Tod“, erzählt eine ältere Dame in Hannes Hus, einem alten Seefahrerhaus, das nun als Museum dient.
Bereits beim Eintreten vernehme ich den Atem vergangener Generationen in meinen Lungen, viel Freude und Ängste der Menschen, die hier seit dem Bau des Hauses 1750 lebten. Das Ambiente ist so gut erhalten, dass man denkt, die Bewohner seien kurz einkaufen. Da ist der Ofen vor blau-weißen Kacheln, da ist der Holztisch mit weißer Tischdecke, das kleine Bett mit einer Puppe darauf. Eine gewisse Nostalgie überkommt mich, ich sehe die Witwe Hanne hier mit ihren Kindern spielen, während Sonnenstrahlen durch die Fenster drängen. Wie es wohl war, hier seine Kindheit zu verbringen?
Das soll ich nie erfahren, wohl aber, wie ein feines Zweigänge-Menü im Sonderhø Kro schmeckt: Dorsch mit Lauch als Vorspeise und als Hauptgang Fisch des Tages mit Muscheln und Fenchel. Die Atmosphäre in dem niedrigen Raum mit Holzboden ist genauso hyggelig, gemütlich, wie das Essen köstlich. Als es an der Zeit ist, nach Nordby zurückzuradeln, schaut mir eine Katze blinzelnd von einer Haustür aus zu. „Bis zum nächsten Mal“, scheint sie sagen zu wollen.
Skål!
Fanø hat nicht nur den besten Schlachter und das schönste Dorf von Dänemark, sondern auch eins der besten Biere, gebraut im inseleigenen Fanø Bryghus. Gut gestärkt mit einem Fanø smørrebrød, dem Butterbrot aus dünnen Weißbrotscheiben mit sechs verschiedenen Aufschnittarten und in Dreiecke geschnitten, bin ich bereit für die Bierverkostung. „Dieses Gebäude war früher ein Elektrizitätswerk und bis Mitte der 70er Jahre in Betrieb“, erzählt Event Manager Jesper Voss. „2005 hat das erste Brauhaus eröffnet, ging jedoch nach zwei Jahren pleite, aber Ende 2008 haben wir neu aufgemacht.“ Das Gebäude habe man mit Aktiengeldern gekauft, aber auch Privatpersonen hätten investiert, denn die Brauerei erfreue sich auf der Insel großer Beliebtheit. „Wir haben zwei amerikanische Braumeister, denn die Amerikaner machen einfach das beste Bier“, gibt Jesper lachend zu.
Erstmals lerne ich vom deutschen Bier-Reinheitsgebot von 1516, demzufolge nur Wasser, Hopfen und Gerste als Zutaten erlaubt sind – und über das sich das Fanø Bryghus stolz hinwegsetzt. „Wir haben Bier mit Holunder, Milchschokoladenstout mit Milchzuckerpulver und Kakobohnen und auch Bier mit Pfeffer und Salatgurken.“ Craft-Brauereien seien in Dänemark so beliebt, weil mal die verschiedensten Biersorten ausprobieren könne. Die Braumeister hätten sogar ein Red Wedding Bier nach der Game of Thrones-Serie entworfen, das in Rotweinfässern gelagert worden sei. „Letztes Jahr haben wir 27 neue Biersorten auf den Markt gebracht, im Moment führen wir aber nur noch 20 verschiedene – vor dem Sommer waren es 35, aber sie sind alle ausgetrunken.“ Kein Wunder, denn angeblich ist Dänemark das EU-Land, wo der meiste Alkohol getrunken wird. „Fanø ist die dänische Gemeinde, wo man in Dänemark am meisten trinkt.“ Ob das der Grund ist, dass die Insulaner allesamt tiefenentspannt wirken? Bei 300.000 Litern Bier pro Jahr, die auf Fanø gebraut werden, kann ich mir das langsam vorstellen.
„Unser Bier gehört mit zum besten in Dänemark und zu den führenden 100 Bieren weltweit“, rühmt sich Jesper, der früher als Diplomsportlehrer arbeitete, dann als Headhunter und sich nach einem Burnout der Insel und dem Bier verschrieb. Dass das Bier die beste Medizin war, glaube ich ihm gern, als endlich die erste Flasche aufgeht und ich dickes Red Wedding Bier schlürfe, gefolgt von weiteren Kreationen der großen Meister, deren Bieraufkleber auch manch politisches Statement abgeben: Eine Flasche ziert ein langnasiger Trump, eine weitere ein dümmlich dreinschauender US-Präsident mit der Unterschrift „Mango Mussolini“. Auch „Sex in a bottle“ ist zu finden, einmal für die Frau mit Männerabbild, einmal für den Mann mit Frauenabbild. Als ich die Brauerei verlasse, ist mir das sehr undeutsche „Reinheitsgebot“ äußerst sympathisch geworden – alles, was irgendwem schmeckt, geht, und die Fantasie ist so frei wie ein Sternenhimmel jenseits aller Lichtverschmutzung.
Sonnenuntergang beim Atlantikwall
Jedes Mal, wenn meine Zeit an einem Ort, den ich ins Herz geschlossen habe, dem Ende zugeht, empfinde ich eine gewisse Nostalgie. Das Gefühl, dass ich weitermuss, bevor ich dazu bereit bin, wie bei der Trennung von einem geliebten Menschen. Und doch ist es ein Gefühl, das bei jemandem, der vom Schreiben und Reisen lebt, wie das Kleingedruckte in einem Vertrag zum Job dazugehört. Ein letztes Mal radle ich nach einem abendlichen Plausch mit Lone und Gorm nach Fanø Bad, zu einem kleinen Stück des langen Westküsten-Strandes. Noch immer bläst mir der Wind so stark entgegen, dass ich mich mit aller Kraft auf meinem Rad dagegenstemmen und wie wahnsinnig in die Pedale treten muss. Es ist, als sollte ich nicht ankommen, als wollte mir der Wind einen letzten Sonnenuntergang vorenthalten, aber so läuft das nicht.
Ich fahre hinein in die Dünen – und stehe bald vor einem Bunker am Meer, bekleckert mit Graffiti. „Plastic Beach“ steht auf dem grauen Ungetüm, zu dem eine ganze Bunkeranlage gehört. Er ist einer von zahlreichen Überresten des sogenannten Atlantikwalls auf Fanø – einer riesigen Verteidigungsanlage, errichtet von der deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs, die von Nordnorwegen bis nach Spanien reichte. Damit sollte das Fortschreiten der westlichen Alliierten verhindert werden. Die Hafenstadt Esbjerg war von besonderer strategischer Bedeutung, weshalb auch das vorgelagerte Fanø vorrangig in der Verteidigung wurde: Es entstanden über 300 Bunker, Betonstraßen, Geschütze, Eisenbahnen, Panzergräben und Baracken. Eine 2.300 Mann starke deutsche Besatzungstruppe zog auf Fanø ein, dazu kamen 1.275 dänische Arbeiter, welche die Bunker errichteten.
Über die Jahrzehnte hat die Natur das mit den Bunkern und Anlagen gemacht, was man nun mal mit hässlichen grauen Ungetümen und allem, was man sonst nicht mehr sehen möchte, macht: Sie hat Gras darüber wachsen lassen oder Sand darüber geweht. Die Bunker, die noch sichtbar sind, dienen Sonnenuntergangsliebhabern wie mir als sandfreier Sitzplatz, von wo sich herrlich beobachten lässt, wie der Himmel pastellfarbene Töne annimmt. Nicht das grelle Orange und Pink und Lila, mit dem der Himmel in der Südsee angibt. Auch nicht das knallige Rot eines hinter Afrika versinkenden Feuerballs. Da sind nur Babyrosa mit Babyblau, bemalt mit ein paar Wolken, die den Tag verabschieden. Sanft und leise wie Fanø selbst, ein Ort, wo die Seele nicht nur baumeln, aber frei in der ständigen Brise wehen darf. Ein Ort, wo Dünen und Sand klammheimlich vergessen machen, was an Land noch schwer wog.
Diese Reise wurde unterstützt von Visit Denmark
Unterkunft: Galeasen B&B
Empfehlenswerte Restaurants:
Nordby: Rudbecks Ost & Deli und Sylvesters
Fanø Bad: Kellers Badehotel & Spisehus
Sønderho: Sønderho Kro
Antworten
Lieber Marcel,
vielen Dank für deinen netten Kommentar. Ich wünsche dir, dass du mal die Zeit für die Insel findest, es würde dir bestimmt gefallen.
Schöner Blog, den du hast, wenn ich wieder mal nach Mallorca fahre, werde ich mir gerne bei dir Infos holen 🙂
LG
Bernadetteschöne Bilder und ein ausführlich geschriebener Bericht. Danke 🙂
Die Ruhe und Natur würden mich zu diesem Ort ziehen.
Mal schauen ob ich irgendwann mal Zeit finde. Liebe Grüße aus Berlin Marcel
PS: Besuch mich doch auch mal auf meinem Blog 🙂
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