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Venezuela – wie wir kurzzeitig zu Millionärinnen wurden.
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Dann drehe ich mich wieder um, schaue vom Fenster aus zu dem großen Spiegel, der neben dem Bett hängt. Auf der hölzernen Spiegelablage liegen mehrere Stapel mit Geldscheinen, 50er und 100er Scheine, die mit einem Küchengummi zusammengehalten werden.
Knapp vier Millionen Bolivar, die wir zum zählen aus drei großen Kartons herausgeholt hatten, liegen nun im ganzen Zimmer verteilt auf unserem Bett, dem Nachttisch und der Ablage. Etwas ratlos schaue ich mir das Geld an und versuche mir vorzustellen, wie wir mit dieser Unmenge von Scheinen durch das Land reisen sollen. In Plastiktüten verstaut? In großen Kartons?
Im Hotelzimmer wollen wir uns noch einmal vergewissern, ob der Geldbetrag auch wirklich stimmt.
Ein lautes Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken. „Ich bin’s“ schallt es durch die dünne Holztür. Ich erkenne das vereinbarte Klopfzeichen und öffne die Tür.„Ach du Kacke, hier sieh es aus, als hätten wir gerade einen fetten Drogendeal abgeschlossen.“ kommentiert Lisa die surreale Szene.
Nein, es sind keine illegalen Geschäfte, die uns zu den Millionen gebracht haben, sondern die aktuelle wirtschaftliche Lage Venezuelas. Dem Land droht der Staatsbankrott, die Inflation ist die höchste der Welt (laut TAZ). Fast überall herrscht Medikamenten- und Lebensmittelknappheit, Supermärkte öffnen nur noch sporadisch oder gar nicht mehr.
Um von der Karibikinsel Tobago, die wir per Segelboot erreicht hatten, ohne Flugzeug auf das südamerikanische Festland zu kommen, hatten wir uns für eine Fähre über Trinidad nach Venezuela entschieden, denn alle Segelboote segelten ausschließlich weiter Richtung Norden.
Wir hatten Glück, denn der Fährverkehr nach Venezuela wurde aufgrund der politischen Lage des Landes vor ein paar Jahren eingestellt und erst vor drei Monaten wieder aufgenommen. Zunächst fuhren wir mit einem Frachtschiff von Scarborough (Tobago) nach Port-of-Spain (Trinidad) und von dem kleinen Hafenstädtchen Chaguaramas (Trinidad) mit der Fähre weiter nach Güiria (Venezuela).
mission: bargeld finden
Als die Grenzbeamtin bei unserer Ankunft in dem venezolanischen Hafenstädtchen Güiria erfährt, dass wir am liebsten heute noch weiter Richtung Kolumbien fahren wollen, empfiehlt sie uns, die kommende Nacht in einem Hotel zu übernachten und erst am nächsten Tag, bei Tageslicht, den Bus weiter Richtung Kolumbien zu nehmen.
„Fahrt mit dem Taxi zum Hotel. Es ist zu gefährlich zu Fuß zu laufen“, rät sie uns. Auch Juan, ein Crewmitglied der Fährgesellschaft, scheint etwas besorgt und weicht nicht von unserer Seite, bis wir die Rücksäcke im Kofferraum des Taxis verstaut und es uns auf der Rückbank bequem gemacht haben.
Carlos, der Taxifahrer und sein Kollege Alejandro drehen sich mit einem Lächeln in unsere Richtung und verlangen für die Fahrt vom Hafen ins Stadtzentrum 200.000 Bolivar. An die Beträge müssen wir uns noch gewöhnen, aber da es umgerechnet nicht mehr 80 Cent sind, stimmen wir zu. Um die Fahrt bezahlen zu können, müssen wir allerdings irgendwie unsere 50 Doller in die venezolanische Währung umtauschen.
Auf dem Schwarzmarkt bekommt man in Venezuela aktuell für einen Doller circa 220.000 Bolivar. Offizielle Wechselstellen gibt es nicht mehr, die Banken haben, wenn überhaupt, nur kurz geöffnet. Selbst wenn wir die lange Wartezeiten an den Schaltern auf uns nehmen würden, wäre nicht garantiert, dass wir dort Bargeld bekämen. Also versuchten wir mit der Hilfe unseres Taxifahrers Carlos das Geld irgendwo auf der Straße umzutauschen.
Wir fahren vorbei an verriegelten Supermärkten, Menschen, die in Schlangen vor Bankfilialen anstehen und kleinen Verkaufsstellen, deren Verkäuferinnen die Waren durch die mit Gittern gesichteten Ladeneingänge verkaufen. Irgendwann hält das Taxi an, Carlos unser Taxifahrer, springt raus, kommt zurück und hebt ratlos die Schultern: „Nada! Non hay effectivo“. Niemand scheint Bargeld zu haben, um unser Geld umzutauschen.
Kein guter Deal
Nach zwanzig Minuten erfolgloser Suche halten wir schließlich vor einer abgelegenen, alten Lagerhalle. Unser Fahrer steigt aus, geht durch das offene Rolltor in den Lagerraum und unterhält sich mit einem der Männer in der Halle. Dann kommt er zurück: „Der wechselt Euch das Geld für den Kurs 1:75.000!“. Kein guter Deal! Das ist weniger als die Hälfte des „normalen“ Schwarzmarktpreises aber was bleibt uns anderes übrig?
Kurz wägen wir unsere anderen Möglichkeiten ab, da es aber keine gibt, stimmen wir zu. „Alles klar. Wartet hier im Auto bis ich euch Bescheid gebe!“, sagt Carlos und verschwindet in der Dunkelheit der Lagerhalle. Kurze Zeit später fährt ein großer SUV mit geschwärzten Scheiben an uns vorbei.
Nach der Schule gibts Essen aus dem Mülleimer
Während wir im Auto auf weitere Anweisungen warten, erzählt uns Alejandro, der zweite Taxifahrer, von der aktuellen Situation in Venezuela. „Nur eine andere Regierung kann uns aus der Misere holen. Maduro, unser jetziger Präsident, muss weg!“ Aus der Hosentasche zieht er ein Foto auf dem seine Familie zu sehen ist.
„Besonders die Kinder leiden unter der Situation. Viele können nicht mehr in die Schule gehen, weil Lehrkräfte und Schulkinder oft so sehr Hunger haben, dass an lernen nicht mehr zu denken ist. Durch die hohe Inflation gibt es kaum noch ausreichend Bargeld und die Lebensmittel sind mit einem durchschnittlichen monatlichen Einkommen kaum noch bezahlbar. Stellt Euch vor: Wir bezahlen für einen Liter Wasser zehnmal soviel wie für einen Liter Benzin.“
In den nächsten Tagen werden wir diesen Fakt selbst erleben: Für die knapp 1500 km lange, dreitägige Busfahrt von Güiria bis zur kolumbianischen Grenze zahlen wir umgerechnet für zwei Personen nur vier Euro.
plötzlich Millionärin
Irgendwann taucht im Rückspiegel der SUV auf, der vor zwanzig Minuten den Hof verlassen hatte. Kurz darauf kommt Carlos aus der Lagerhalle und deutet mir per Handbewegung an, ihm in die Halle zu folgen.
Etwas unsicher trete ich in den großen Raum. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, sehe ich auf der linken Seite, zwischen Getränkekisten und Plastiksäcken einen langen Tisch. Auf und unter dem Tisch stehen Stapel von Geldscheinen. Vor dem Tisch sitzen drei Männer, die mir freundlich entgegen lächeln. Etwas überwältigt von der Situation, frage ich ein wenig verunsichert in die Runde: „Und jetzt? Was ist davon für uns?“
„Alles!“ sagt einer der Männer mit einem Schmunzeln. „Das sind 3.700.000 Bolivar. Willst du nachzählen?“ „Du bist ja lustig…“, nuschle ich leise vor mich hin und frage mich, wo ich bei knapp vier Millionen anfangen soll zu zählen. Zum Glück steht auf dem Tisch eine elektronische Geldzählmaschine und so lasse ich probeweise ein paar Stapel durchlaufen. Die Summe scheint zu stimmen.
Mit Säcken voll geld durchs ganze Land
Wir verstauen die drei großen, mit Scheinen gefüllten Pappkartons im Kofferraum des Taxis und machen uns auf den Weg zum Hotel. Zum ersten Mal seit dem Beginn unserer Reise verbringen wir die Nacht in einem Hotelzimmer. Ein kleines Zimmer, mit Doppelbett und eigenem Badezimmer für den Preis von 196.000 Bolivar. Das sind umgerechnet weniger als 80 Cent.
Für uns scheint das zunächst ein absurd niedriger Preis, für die Bevölkerung in Venezuela hat die steigende Inflation bei gleichbleibenden Gehältern jedoch gravierende Auswirkungen. Hunger, fehlende medizinische Versorgung und Arbeitslosigkeit sind nur Teilaspekte dieser verheerenden Situation.
Am nächsten Morgen nehmen wir einen Bus in Richtung Caracas, der Hauptstadt Venezuelas um von dort weiter Richtung Kolumbien zu fahren. Nach drei Tagen quer durch Venezuela, erreichen wir am Morgen des vierten Tages das Grenzörtchen San Antonio del Táchira. Täglich laufen hier mehrere tausend VenezolanerInnen über die Brücke „Puente Internacional Simon Bolivar“, die die beiden Länder miteinander verbindet.
über die grenze mit 37.000 Venezolanern
Auf der kolumbianischen Seite, in Cucuta, herrscht ein reges Durcheinander. Überall warten Menschen auf Busse, die sie weiter nach Kolumbien, Ecuador oder Chile bringen werden. Viele schlafen auf der Straße oder in Hängematten und versuchen, durch den Verkauf von Keksen, Schokolade oder Zigaretten über die Runden zu kommen oder sie machen sich in kleinen Gruppen zu Fuß auf den Weg ins Landesinnere, um Arbeit zu finden.
Auf der Suche nach dem bessern Leben
Von hier trampen wir weiter Richtung Medellin, eine Großstadt im südwestlichen Teil Kolumbiens. Der erste Abschnitt klappt reibungslos, nach fünf Minuten Wartezeit am Straßenrand sitzen wir schon im Auto und werden rund 65 Kilometer bis zu dem gemütlichen Bergdorf Pamplona mitgenommen.
An einer kleinen Tankstelle hinter dem Ort, stoßen wir auf eine Gruppe junger Männer. „Wir sind auf dem Weg in die nächstgrößere Stadt.“ erzählen sie uns. Den Weg von der Grenze bis hierher seien sie komplett zu Fuß gelaufen, das habe zwei Tage gedauert. „Jetzt versuchen wir über den vor uns liegenden Bergpass zu trampen. Oben ist es viel zu kalt, um mit unserer spärlichen Ausrüstung die Nächte dort zu verbringen.“
Eine ganze Weile vergeht, bis ein Auto vorbei kommt und an der Tankstelle anhält. Wir fragen, ob der Fahrer uns mitnehmen kann. „Ja, aber nur Euch beide!“, betont der Fahrer mit Nachdruck und kritischen Blick auf die Gruppe. Wir versuchen den Jungs noch einen Platz zu vermitteln aber keine Chance. „Die Leute aus Venezuela sind gefährlich, alles Kriminelle“ sagt er aus voller Überzeugung.
Diese Worte erfüllen uns mit Wut und Traurigkeit. Seitdem wir beschlossen hatten, durch Venezuela zu reisen, wurde uns von allen Seiten von dieser Idee abgeraten. Es sei zu gefährlich, es sei zu unsicher, es gäbe nur Kriminelle und und und. Seitdem wir Venezuela betreten hatten, sind wir ausschließlich Menschen begegnet, die uns gegenüber sehr freundlich und hilfsbereit waren. Es ist nicht zu leugnen, dass das Land in einer tiefen Krise steckt und es sicher auch „Kriminelle“ gibt. Und andererseits kann man es wirklich wirklich als „Kriminalität“ bezeichnen, wenn Menschen aus der Not heraus ums Überleben kämpfen?
Was hund und Katze verstanden haben
Wieso hat schon die reine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, den Effekt, dass nicht mehr das einzelne Individuum gesehen wird, sondern ALLEN Menschen dieser Nation oder Gruppe mit Vorurteilen und Ressentiments begegnet wird? Oder anders herum, so wie dieser Fahrer es uns gegenüber getan hat, mit Vorteilen und Bevorzugung?
In Las Palmas wurden wir vor den Menschen auf Kap Verde gewarnt. Vom Auswärtigen Amt wurden wir vor Charlotteville, dem Hafenstädtchen in Tobago, gewarnt. In Tobago wurden wir vor den Kriminellen in Trinidad gewarnt. In Trinidad wurden wir von der Gefahr in Venezuela gewarnt. Und in Venezuela wurde uns davon abgeraten, in Kolumbien zu trampen, weil es zu gefährlich sei.
Wir sind trotzdem durch diese Länder gereist und wollten unsere eigenen Erfahrungen machen.
Auf Kap Verde wurden wir von vielen Menschen zu ihnen nach Hause eingeladen und hatten eine großartige Zeit. Auf Tobago durften wir bei Nigel und Antoine Junior mehrere Tage übernachten und die Frau im Supermarkt hat mir ein Handyakku geschenkt. In Trinidad hat uns Tristan seine Wohnung überlassen, wo wir unsere Wäsche waschen und uns duschen konnten. Er hat uns seinen Haustürschlüssel in die Hand gedrückt und meinte: »Macht es Euch gemütlich, ich gehe jetzt Party machen!« Am nächsten Morgen hat er uns mit seinem privaten PKW zur Fähre gefahren.
Auch in Venezuela sind wir überall hilfsbereiten Menschen begegnet, zum Beispiel Marianny, die uns in Caracas im Gewusel der Busstation geholfen hat, das passende Ticket zu finden und uns an der kolumbianischen Grenze mit den Einreiseformalitäten als „Dolmetscherin“ zur Seite stand. Und in Kolumbien sind wir ganz vielen tollen Menschen begegnet, die uns in ihrem Auto mitgenommen oder uns in ihrem Garten haben übernachten lassen.
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