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Dieser Gedanke ist so bizarr wie bisweilen die Stadt, aus der ich bald abreisen soll. Nach fast fünf Monaten in Venedig beginnt langsam das Abschiednehmen, ich weiß gar nicht genau, an welchem Tag es angefangen hat. Ich sitze auf dem Campo Santa Margherita, es ist ein Uhr am Mittag und die Luft vibriert vor Hitze. Unter meinem Sonnenschirm vor dem Caffè Rosso bin ich vor den glühenden Strahlen geschützt, aber die Schokolade auf meiner brioche war schon geschmolzen, bevor ich das Gebäck auch nur angesehen habe. Auf Venedigs lebendigstem Campo herrscht reges Treiben, keine Spur von träger Mittagsmüdigkeit. Der kaum durchdringende Geruch vom Fischstand in der Mitte des Platzes weht herüber und ich versuche, den Duft einzufangen. Ich finde, es riecht wunderbar - nach Venedig, nach Heimathafen Hamburg, nach Meer. Nebenan am Tisch unterhalten sich vier Venezianer, auf einer Bank sitzen drei junge Frauen inmitten einer Schar laut schreiender und lachender Kinder, die gerade aus der Schule abgeholt wurden und Fußball spielen, während ihre Mütter mit einigen sparsamen Gesten eine weitere Runde Aperol Spritz beim Kellner der Bar nebenan bestellen. Zwei alte Männer tapsen, jeder ein Glas Wein in der Hand, auf einen hohen Mauervorsprung zu und verscheuchen auf Venezianisch eine Gruppe Touristen. Das ist eindrucksvoll und die Gruppe steht sofort auf, widerstandslos, aber doch ein wenig irritiert. Zufrieden setzen sich die beiden Alten selbst auf die Mauer und prosten einander zu. Ich muss lächeln, denn ich habe in den letzten Monaten viele solcher Szenen erlebt und beobachtet. Viele Venezianer geben sich alle Mühe, ihre Stadt von jedem Fremdkörper mit Hilfe einer leidenschaftlichen Unfreundlichkeit fernzuhalten. Erst über die letzten Wochen haben einige Menschen hier wohl bemerkt, dass ich mir drei Jahreszeiten lang Zeit gelassen habe für meine Reise durch Venedig. Dies zeigt eine gewisse Wirkung: wenn ich mich mutig traue, verbale Annäherung auf Italienisch zu wagen, antworten sie nicht mehr trotzig auf Englisch. Einer meiner größten Erfolge der letzten Monate.
Während ich so vor meinem Laptop sitze, und am Cappuccino nippend und brioche kauend die Menschen um mich herum beobachte, versuche ich, die Zahl Neun zu begreifen. Und all das, was zwischen meiner Ankunft in einer wundersamen Stadt auf dem Wasser und jener Zahl passiert ist.
Ich habe Venedig gesehen.
Nicht nur besucht und im Vorübergehen mit einem andächtigen Blick gestreift, nein, wirklich: gesehen. Ich habe es an nebligen, grauen Februarmorgen gesehen, wenn sich im vom Acqua Alta überspülten Markusplatz die eigenen Schritte spiegeln, bevor sie ihr Spiegelbild wieder mit Füßen treten. Ich habe es während des Karnevals gesehen, wenn sich wogende Touristenmassen über zu enge Brücken schieben, und die Stadt nur durch die Linse ihres Fotoapparates betrachten. Ich habe es nachts gesehen, still und in sich gekehrt, wenn es nur sich selbst gehört. Und das ist etwas ganz Besonderes, denn Venedig gehört fast nie sich selbst. In diesen Stunden unterhalten sich die engen Gassen flüsternd über all die Menschen, die am Tag ihre Schritte über das Pflaster gelenkt haben.
Wenn Städte eitel sein können, dann ist es Venedig bestimmt. Aber kann ich der Stadt das vorwerfen? Sie ist umgeben von Wasser, in dem sie sich mit jedem neuen Morgen spiegelt, und erfüllt von Menschen, in deren strahlenden Augen sie sich täglich betrachtet. Wenn Städte, versteckt hinter einer imposanten Fassade, abweisend sein können, dann ist Venedig auch das ganz bestimmt. Wie aber sollte diese Stadt anders sein? Unzählige Menschen kommen, um es zu bestaunen und ein Selfie mit la Serenissima zu schießen. Aber nur wenige wollen sehen, was sich hinter der eindrucksvollen Kulisse verbirgt und Venedig verstehen. Venedig braucht keine Komplimente mehr, weil es jedes schon kennt. Was also tue ich hier? Mit welchem Anspruch schreibe ich einige klägliche Beobachtungen über eine Stadt, die Rainer Maria Rilke und Thomas Mann zu geistigen Ergüssen inspirierte? Warum sollte eine Stadt von mir Notiz nehmen, deren Straßen und Kanäle als Schauplatz für Shylock und Antonio dienten? Eine Stadt, in der Ernest Hemingway sich in jenen Bars betrank, in denen derartiges dank schwindelerregender Preise heute unmöglich ist?
Der Grund ist einfach: Ich habe mich verliebt. Es war keine Liebe auf den ersten Blick, nicht einmal auf den zweiten. Ich hatte Venedig schon beurteilt, eingeordnet und interpretiert, und dann – ja, dann hat mich die Stadt plötzlich doch noch eingefangen, still und heimlich und ganz unerwartet. Denn so abweisend Venedig auch sein mag, manchmal wendet es den Kopf und schaut mich an. Wir sehen uns für einige Sekunden in die Augen, dann wendet die Stadt den Blick wieder ab und verschließt sich. Diese Momente geschehen selten. Meistens geschehen sie in Augenblicken, in denen wir allein miteinander sind, Venedig und ich. Erst gestern ist es wieder passiert, auf dem Vaporetto vom Lido zur Haltestelle Accademia. Es war Abend, blaue Stunde, wenn die Stadt nach einem glutheißen Sommernachmittag aus dem Wasser steigt, voll neuer Kraft, und plötzlich einen Hauch des alten Glanzes erahnen lässt. Die Zeit scheint dann immer einen Moment lang stillzustehen: wenn la Serenissima auf die spiegelnde Oberfläche blickt die sie umgibt, und für einen Augenblick alles beschaut. Die Fassade und das, was dahinter ist. Das heute und das gestern, das sich hier so tief in die Steine der Palazzi eingegraben hat, dass es länger zu spüren ist als irgendwo sonst.
Neun Tage noch.
Die Venezianer am Nebentisch stehen auf und nicken mir zu. Einer der vier Männer lächelt sogar freundlich. Ich grüße zurück und muss kurz überlegen. Richtig, wir kennen uns aus dem Paradiso Perdutto, ein Restaurant in Cannareggio wo regelmäßig Livemusik gespielt wird. Bei einem Glas schweren Rotweins diskutierten wir vor ein paar Tagen, ob Venedig dem Untergang geweiht sei, oder nicht. Vielleicht würde die Stadt mich ja doch noch zu einer der ihren machen, wenn ich länger bliebe, statt in neun Tagen abzureisen? Ich erinnere mich an den kalten, norddeutschen Januartag, an dem ich zu Hause abgeflogen bin – raus aus der Komfortzone, auf ins Ungewisse, in das große Abenteuer Erasmussemester in Venedig. Seitdem habe ich viele Dinge geschafft, manche versäumt, goldene Momente für die Erinnerung gesammelt und erdrückende Tage überstanden. Ich bin auf dem Rücken eines geflügelten Löwen nachts durch die Gassen und über das Wasser geflogen und drohte, in den grünen Kanälen von Dorsoduro zusammen mit den Wasserratten unterzugehen. Und bald fliege ich nach Hause, voller Dankbarkeit, Wehmut und irgendwo zwischen Heimweh und Fernweh. Nostalgia heißt das auf Italienisch.
Ich glaube, ich kann gar nicht richtig Abschied nehmen.
Abschiednehmen würde bedeuten, dass ich Venedig hinter mir lassen muss. Wer einmal lange genug hier gewesen ist, hat gelernt, dass man das nicht kann, Venedig hinter sich lassen. Über diese Stadt heißt es oft, alles, was es darüber zu schreiben gibt, ist bereits geschrieben worden. Das halte ich für verkehrt. Alles, was jemand über Venedig schreibt, muss aus einem tiefen Gefühl heraus entstehen, da die Stadt tief berührt. Zugegeben, ein Kurzurlaub in Venedig kann, dank der Massen an Menschen, ziemlich furchtbar sein und hat möglicherweise nicht viel mit einem seelenbewegenden Erlebnis zu tun. Die wirkliche Begegnung mit Venedig braucht ein wenig Zeit. Und es ist noch lange nicht alles geschrieben oder gesagt worden über Venedig – über diesen Ort wird es immer etwas zu schreiben und zu sagen geben. Wie könnte es auch anders sein in einer Stadt, in der die Gassen so verschlungen sind, dass sie einen bisweilen an kein Ziel bringen, nur an eine kleine, moosbewachsene Treppe, deren Stufen ins Wasser führen und durch das beständige Schlagen der Wellen ganz verwittert sind. Manche der Straßen hier sind so klein und versteckt, dass sie nicht einmal einen Namen haben. Wie kann über einen Ort, der so eigenartig und geheimnisvoll ist jemals alles geschrieben werden? Es stimmt, die Architektur und Infrastruktur sind irgendwo ein paar Jahrhunderte zuvor stehen geblieben, als würde die Stadt verzweifelt versuchen sich an ihre alte Größe zu klammern, aus lauter Angst, dass das Wasser mit dem sie überall verschmolzen ist sie sonst verschlingen könnte. Vielleicht ist es aber genau deshalb, dass man glauben mag, wenn es Magie geben sollte auf der Welt, dann müsste sie an einem Ort wie diesem zu Hause sein. Die Seele von Venedig ist noch immer lebendig, ein wenig betagt und langsam vielleicht. Aber nicht stumpf. Sie wächst und verändert sich ganz unmerklich noch weiter und manchmal tut sie leise ein Wunder. Ja, diese Stadt hat mich berührt, und ich hoffe, dass auch ich etwas an dieser Stadt berührt habe, dass wir uns tatsächlich ein paarmal gegenseitig in die Augen geschaut haben.
Was lasse ich zurück und was nehme ich mit um es zu einem Teil von mir zu machen in diesen Tagen zwischen Venedig und Hamburg?
Es sind wohl viele kleine Dinge. Aber all diese kleinen Dinge lassen sich so zusammenfassen: Einen Teil von Venedig nehme ich mit, um nichts aus den vergangenen Monaten zu vergessen und kein Stück der Erfahrung zu verlieren, um ab und zu die Augen schließen zu können, und auf den Rücken des geflügelten Löwen zu klettern. Ein Teil von mir wird, sozusagen im Gegenzug, hierbleiben – möge Venedig ihn gut aufbewahren und ab und zu durch seine Straßen wandern lassen.
„Und? Wie ist denn nun das wahre Venedig? Fühlst du dich da jetzt richtig zu Hause?“, wurde ich in den letzten Wochen häufig gefragt. Nein, ein zu Hause wird es nicht, mein Venedig. Alles, was es zu einem zu Hause machte, nehme ich bei meiner Abreise mit, verstaue es in meinem Koffer und meinen Erinnerungen. Es sind die wunderbaren Freundschaften, die hier entstanden sind. Es ist diese eine dunkle Gasse, die so schmal ist, dass zwei Menschen nebeneinander nicht hineinpassen, und die mich an so vielen Abenden vom Campo Santa Margherita zum Vaporetto geführt hat - la linia 1, direzione: Lido. Es ist der Tag, an dem die Kellnerin meines Lieblingscafés mich und meine übliche, nachmittägliche Bestellung kannte. Es ist der Blick vom Lido nach Venedig, vor allem morgens, wenn die Stadt vom Nebel fast verschluckt wird, oder die Luft so klar ist, dass die Alpen am Horizont hinter dem Campanile am Markusdom zu sehen sind. Es ist meine liebste Zuflucht vor allem was schwierig war in den letzten Monaten, Torcello, eine kleine Insel auf der die Geschichte Venedigs einst begann. Torcello ist kein Ort, sondern die Seele eines Ortes, die sich, müde und alt, in die Lagune zurückgezogen hat, um dort ganz langsam im alles umgebenden Wasser zu versinken. Dies sind meine Momente, Impressionen meines Venedigs. Aber nichts davon wird die gleiche Bedeutung haben, wenn ich auf einen Besuch zurückkomme, und so weiß ich, dass die Stadt mir kein zu Hause bleiben wird. Sie hat im Laufe der Zeit genug Menschen beherbergt, sie ist ein wenig müde und sehr alt. Aber ich glaube, ich habe eine neue Freundin.
Ja, ich denke, Venedig und ich, wir sind Freunde geworden.
Antworten
Moin,
toller Artikel, wunderbar geschrieben. Freundschaften zu Menschen und Orten brauchen Zeit.
Und ja, es ist ein grosser Schritt, bis die Venezianer nicht mehr auf Englisch antworten 🙂Moin Patrick,
danke dir! Sprichst du da auch aus Erfahrung? 🙂
So eine zauberhafte Liebeserklärung an Venedig, complimenti! Auf meiner Bucketlist steht seit einiger Zeit ein längerer Aufenthalt in der Stadt, um Italienisch zu lernen. Daher habe ich deine Erfahrungen mit großem Interesse gelesen. Mille Grazie!
Bestimmt werden dir auch die verzauberten Seiten Venedigs begegnen. Ganz viel Erfolg, wünsche ich!
Eine wunderschöne Hommage auf Venedig, ich hab’s zwei Mal hintereinander gelesen um ja nichts zu verlieren. Wunderbar und berührend geschrieben. Man bekommt Lust im Jänner aufzubrechen und zu versuchen ob man diese Innigkeit, diesen Glanz und dieses Venedig zu finden vermag. Danke
Vielen Dank für dieses ebenfalls sehr berührende Feedback! Hoffentlich steigt die Stadt bald ganz wörtlich wieder aus dem Wasser, sodass uns ihre Schönheit und den Menschen dort ihr zu Hause erhalten bleibt.
Wow. Mehr kann ich gar nicht sagen…
Danke!
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