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03.November 2018- El Bolson, Argentinien
Über eine wackeligen Holzblanke steigen wir von dem kleinen Amazonasdampfer, mit dem wir nach unserem Kanuabenteuer von Tabatinga bis hierher gefahren sind, hinab. Kaum haben wir wieder festen Boden unter den Füßen, werden wir voll in das Stadtleben eingesaugt. Autos, Motorräder und Busse brummen hektisch an uns vorbei, HändlerInnen preisen lautstark ihr Obst und Gemüse an.
Manaus – eine Millionenstadt mitten im Dschungel. Ihre Blütezeit hatte die Stadt während des Kautschukbooms als dort vor allem nordamerikanische und europäische Händler, oft durch Ausbeutung von Menschen und Natur, ihre Geschäfte trieben. Nachdem der Boom vorbei war und die Stadt in Armut versank, erklärte die damalige Regierung Manaus Ende der 20er Jahre zur zollfreien Zone, um die Wirtschaft anzukurbeln.
Manaus ist unsere letzte Station auf der Reise durch den Amazonas. Von hier aus verlasse ich den Fluss und fahre über Land weiter Richtung Bolivien. Lisa wird noch eine Weile in Manaus bleiben und ein paar Wochen später nach Buenos Aires kommen. Zuerst überlege ich, die 800 Kilometer lange Strecke über Porto Velho, die bis zur bolivianischen Grenze eigentlich nur durch den Dschungel führt, zu trampen.
Als Jessica, bei der wir in Manaus übernachtet hatten, mich aber fragt „Welche Straße meinst du denn? Davon habe ich noch nie etwas gehört!“ beschließe ich doch lieber einen Bus zu nehmen. Anscheinend ist die Straße kaum befahren und das Trampen mitten durch den unbewohnten Dschungel könnte einige Tage oder gar Wochen dauern. Und tatsächlich. Während der 24 Stunden langen Busfahrt kommt uns kaum ein Auto entgegen, die Straße ist staubig und voll mit Schlaglöchern. Nur ganz langsam quält sich der Bus über diese scheinbar endlose Erdpiste…
Mitten in der Nacht hält der Bus an dem Ufer eines Flusses an, der den Straßenverlauf unterbricht. Hier steigen wir alle aus und warten auf die kleine Fähre, die uns und den Bus auf die andere Seite bringen soll. Während wir warten, kommt langsam der Mond hinter einer dicken, tropischen Regenwolke hervor und taucht den dichten Wald in mattes, silbernes Licht. Plötzlich wird die stille schwarze Oberflächliche des Flusses durchbrochen und eine Familie pinker Delphine taucht schnaubend auf.
Die ganze Szenerie zieht mich in ihren Bann: es scheint, als würde sich der Dschungel nochmal in all seiner Schönheit und Mystik präsentieren wollen, eine Art letzter Abschiedsgruß, bevor es weiter Richtung Hochgebirge geht.
Am nächsten Tag kommen wir bei Abenddämmerung in der brasilianischen Stadt Porto Velho an. Für den Bus ist hier Endstation. Heute werde ich nicht mehr weiter kommen. Also heißt es: Schlafplatz finden. Die Busstation liegt etwas außerhalb, in einem Art Industriegebiet, hier und da schleichen ein paar dunkle Gestalten durch den Dunst der Nacht. In der Ferne sehe ich das Wort „MOTEL“ neongelb aufleuchten. Vielleicht kann ich dort einen Unterschlupf finden. Kein Problem – für 4 Real (etwa einen Euro) kann ich mein Zelt im Innenhof aufschlagen.
Dann geht es weiter über das Grenzstädtchen „Guajará-Merin“ auf die bolivianische Seite Richtung La Paz. Langsam aber stetig verändert sich die Landschaft. Es wird trockener, die grüne Pracht des Dschungels verläuft sich und geht langsam in eine Steppenlandschaft über. Bald schon zeichnen sich am Horizont die Berge der Andenvorläufer ab und schneebedeckte Gipfel werden sichtbar.
Inzwischen fahren wir nur noch auf engen Hochlandstraßen. Plötzlich kommt uns in einer Kurve ein voll beladener LKW entgegen. Konzentriert aber geschickt tastet sich der schwere Truck langsam an der Felswand entlang die die Straße nach links hin begrenzt. Rechts geht es steil bergab. Es gibt keine Leitplanke, nichts. Unser Bus hält an. Wohin sollen wir ausweichen?
Der Busfahrer beschließt schließlich, den Bus langsam zurück zu setzten, um dem LKW Platz zu machen. Bestimmt ist der Fahrer diese Manöver schon gewöhnt, mir wird allerdings schwindelig vor Angst. Als die restlichen Passagiere anfangen zu schreien: „Machen Sie sofort die Türen auf damit wir aussteigen können! Wir wollen nicht sterben!“, merke ich, dass meine Angst doch vielleicht nicht so unberechtigt ist. Wir steigen aus und laufen ein paar Meter, bis das gefährliche Stück vorbei ist. Währenddessen manövrieren die beiden ihre Fahrzeuge geschickt aneinander vorbei. Dann steigen wir wieder ein und die Fahrt geht weiter.
Endlich erreichen wir La Paz in Bolivien. Eine magische Stadt, wie von einem anderen Planeten. Auf etwa viertausend Meter Höhe liegt sie eingebettet zwischen spitzen, grauen Berghängen. Am ersten Tag bin ich wie ausgeknockt: die Höhe, das Chaos, die Kälte, die Hektik.
Ich muss erst mal ankommen in dieser neuen Szenerie.
Nur ein paar Tage bleibe ich in dem kleinen Land. Denn eigentlich will ich weiter nach Buenos Aires. Unterwegs hatten wir gehört, dass es dort eine kleine Gemeinschaft in der Nähe der Uni geben soll: Velatropa.
Also trampe ich weiter über die Grenze durch den Norden Argentiniens, vorbei an meterhohen Kakteen, bunten „siete colores“ Bergen, am Pfeiler der den Wendekreis des Steinbocks markiert und weiter durch scheinbar unendlich weitläufiges Land.
In fast jedem Auto werde ich von den FahrerInnen auf einen „Mate“ eingeladen. Mate-Tee besteht aus klein geschnittenen Blättern, die in einem Trinkgefäß (ursprünglich die ausgehöhlte und getrocknete Hülle eines Kürbisses) mit heißem Wasser aufgeschüttet und durch einen metallenen Strohhalm getrunken werden. Das Getränkt ist hier so unverzichtbar wie in Italien der Café.
Ganz beliebt sind hier im Norden neben dem Mate auch Kokablätter, die in höher gelegenen Regionen vor allem gegen die Symptome der Höhenkrankheit gekaut werden. Eduardo, in dessen LKW ich seit ein paar Stunden unterwegs bin, hat eine ganze Tüte unter seinem Sitz verstaut und greift regelmäßig hinein, um sich eine neue Portion in die Backen zu stecken. „Willste auch mal probieren?“ fragt er und streckt mir eine handvoll Blätter entgegen. „Du musst die Blätter zerkauen und dann in deiner Backe lassen. Hält wach und unterdrückt das Hungergefühl.“
Später gesteht er mir, dass unter seiner offiziellen Ladung einige Kilo Kokablätter versteckt liegen, die er weiter im Süden verkaufen will, um sein spärliches Gehalt aufzustocken. Kokablätter für den Eigenkonsum sind hier erlaubt, Mengen die darüber hinaus gehen sind jedoch illegal. Gelassen hält er der Polizei seine Papiere hin, als wir in eine Kontrolle geraten. Mit einem Grinsen im Gesicht fährt er weiter als die Polizei ihn durchwinkt. „Die merken nie was. Keine Sorge…“
Insgesamt fünf Tag brauche ich von der bolivianisch/ argentinischen Grenze bis nach Buenos Aires. Abends schlage ich irgendwo an einem geeigneten Ort mein Zelt auf und trampe erst morgens, bei Tageslicht weiter.
Willkommen im Velatropaland- ein kleines Universum mitten in Buenos Aires
Velatropa: Ein kleines Universum auf dem Universitätsgelände mitten in der 14-Millionen Metropole Buenos Aires. Wo jetzt Menschen leben und die Natur sich wieder frei entfalten kann, war vor ein paar Jahren noch ein grauer, trister Betonplatz. Restmüll, Bauschutt und städtischer Abfall wurde hier abgeladen, bis eine Gruppe von Studierenden den Platz vom Müll befreit und eine grüne Oase geschaffen hat. Aus einem Teil der Gruppe ist die Gemeinschaft „Velatropa“ entstanden. Seit mehr als zehn Jahren leben hier nun Studierende, KünsterInnen, Reisende…. Es ist ein Ort zum Lernen, Leben und experimentieren.
Als ich in den Gemeinschaft ankomme ist es schon Nachmittag. Ein paar Leute haben sich zum Plenum auf dem Hauptplatz um das Feuer herum versammelt. Ich werd mit herzlichen Umarmungen begrüßt und eingeladen, mich in die Runde dazu zu setzen. Agustin streckt mir einen Mate entgegen und wir kommen schnell ins Gespräch. Er erzählt mir, dass Velatropa gerade in einer schwierigen Situation ist: „Die Uni will, dass wir den Platz räumen. Die wollen hier einen Parkplatz bauen. Dass wir als Studierende hier einen Ort haben, an dem wir unser Wissen direkt im Garten oder im Wald anwenden können, dass wir hier Lebensraum für Tiere, Pflanzen und Menschen geschaffen haben, interessiert die nicht.“ Das ist heute auch das große Thema im Plenum: Wie soll es weitergehen? Was, wenn die Polizei anrückt, um den Platz zu räumen?
Nach dem Plenum zeigt mir Dani in dem kleinen Waldstück neben dem Garten, eine Stelle an der ich mein Zelt aufschlagen kann. Hier stehen, versteckt zwischen dem dichten Grün der Bäume, auch die anderen Zelte in denen einige der VelatropianerInnen leben. Ansonsten gibt es auf dem Gelände noch ein paar bewohnte, aus Naturmaterialien oder Sperrmüll gebaute Häuschen. Zum Beispiel der sogenannte „Tempel“, eine Konstruktion im Eingangsbereich, die komplett aus alten Holzbalken, Fenstern, Autoreifen, Kotflügel, Türen besteht – alles, was in der Stadt sonst auf der Müllhalde gelandet wäre.
Am nächsten Tag krieche noch etwas verschlafen aus dem Schlafsack und mache mich auf den Weg zur Küche. Die „Küche“ ist eigentlich eher ein offener, mit Wellblech überdachter Platz mit zwei Feuerstellen – das Herz der Gemeinschaft. Hier treffen sich alle zum gemeinsamen Frühstück, Mittagessen, zum Matetrinken, zum Plenum oder zum Musikmachen am Abend.
Gestern am Lagerfeuer hatte ich mich mit Cesar kurz über die Organisation von täglichen Aufgaben wie kochen, Holz sammeln etc. unterhalten. Weil Velatropa sich als hierarchiefreier Ort, ohne Führungsperson, Hierarchien oder festen Regeln versteht, gilt einfach das Motto „Wenn du eine Aufgabe siehst, ist es Deine!“
Ich geselle mich zu der kleinen Gruppe, die um die Feuerstelle herum steht und das Frühstück zubereitet. Leyda kündigt gerade einen Workshop zum Thema Permakultur an, zu dem er uns für Freitag einlädt. Vor allem am Wochenende finden hier Workshops und Aktivitäten statt, z.B. gemeinsame Gartenarbeit, Yoga, Herstellung von Naturfarben oder Kurse zum Thema ökologisches Bauen und erneuerbaren Energien.
„Julia, hast du Lust gleich mit mir ein paar T‑shirts und Stoffe zu bedrucken?“ fragt mich Maca, die ihr Siebdruckmaterial bereits auf einem Tisch ausgebreitet hat. Cesar schlägt vor, dass wir uns vorher noch in der Nähe vom Fluss zum Yoga zu treffen.
So läuft das hier: Am Morgen weißt du nicht, was dich erwartet. Alles fließt, alles kreiert sich in dem Moment, in dem es entsteht.
Mit der Zeit lerne ich die BewohnerInnen näher kennen und fange an, in das bunte Velatropauniversum einzutauchen. Hier leben im Moment um die fünfundzwanzig Menschen, die zwischen 18 und 45 Jahre alt sind. Alle mit der gleichen Vision: Einen Ort schaffen, an dem sich Natur und Menschen frei entfalten können, wo ein bewusstes, nachhaltiges Leben gelebt wird. Ein Leben frei von Ausbeutung, Zwängen, Autoritäten und Konsumzwang. Velatropa ist ein Ort zum experimentieren: mit erneuerbaren Energien, Permakultur, Gartenbau, nachhaltigen Bauweisen, Musik, Kunst und dem Leben in Gemeinschaft.
„Ihr habt das Geld, aber wir die Fantasie!!“
Am Nachmittag lädt Velatropa zum Varieté: KünstlerInnen, MusikerInnen, Clowns und JongleurInnen kommen vorbei. Francisco hat eine menge bunter Acrylfarben auf dem Boden ausgebreitet und malt unsere Gesichter an.
Dröhnend fliegen die Flugzeuge über uns hinweg. Am Tag sind es mehr als fünfzig, die im Landeanflug zum nahe gelegenen Flughafen sind. Es fällt mir schwer, mich an den Krach zu gewöhnen.
Vorne, auf der kleinen Bühne baut sich der Clown auch ein Flugzeug zusammen, allerdings aus Holz und einem Hulahupreifen. Er schreit den großen stählernen Vögeln mit der erhobenen Hand hinterher: „Ihr habt das Geld, aber wir die Fantasie!“. Alle Lachen. Ja, wir haben die Fantasie. – dadurch lebt dieser Ort. Hier pulsiert das Leben in bunten Farben. Der Moment ist alles. Und jeder Moment ist eine neue Überraschung.
Abends, kurz bevor die Geschäfte schließen, gehen wir in die Stadt und fragen in den Geschäften nach, ob heute etwas übrig geblieben ist, was sonst im Müll landen würde: Obst, Gemüse, Brot, Kuchen, Gekochtes. Jedes Mal gibt es etwas. Manchmal mehr, manchmal weniger. An manchen Abenden kommen wir mit einem ganzen Einkaufswagen voll mit „recyceltem“ Essen zurück in die Gemeinschaft. Weil nicht viel gekauft werden muss bezahlen wir nur 100 Pesos pro Person, das sind etwas mehr als zwei Euro pro Woche, in die kollektive Lebensmittelkasse ein.
Wir, mehr als fünfundzwanzig Menschen, ernähren uns von dem, was andere in die Mülltonne schmeißen würden.
Als wir wieder zurückkommen sitzen ein paar Leute um das Feuer herum, spielen Gitarre. Währenddessen wird über die Frage diskutiert, wer denn eigentlich in den Häuschen wohnen soll, von denen es fünf Stück auf dem gesamten Gelände gibt. Weil Velatropa sich als hierarchiefreier und selbstorganisierter Ort versteht, werden Entscheidungen im Plenum auf der Basis von Konsensus getroffen, das erfordert Zeit und Geduld. Wir diskutieren viel über diese Frage, kommen zu keinem Ergebnis. Irgendwann wird die Gruppe eine Lösung finden, nach einigen Diskussionen, Reunionen, Plenaren..
Das Leben in Gemeinschaft erfordert Geduld, Ehrlichkeit – vor allem mit sich Selbst- gegenseitiges Verständnis und noch einiges mehr, dass Zeit braucht, um sich zu entwickeln. Velatropa ist ein Experiment. Nicht nur, um zu beobachten und zu experimentieren, wie die Natur sich langsam wieder einen Betonplatz zurückholt. Sondern auch, um sich als Individuum mit sich und dem Leben in Gemeinschaft auseinanderzusetzen.
Bis ans Ende der Welt: Auf geht’s nach Patagonien!
Die Zeit scheint zu fliegen. Lisa ist vor ein paar Tagen in Velatropa angekommen und heute steht der elfte September im Kalender, der Tag an dem unsere Schwester Michelle hier in Argentinien besuchen und ein paar Wochen gemeinsam mit uns reisen wird.
Schweren Herzens, aber mir Vorfreude auf die kommende Zeit, verabschiede ich mich von Velatropa und wir machen uns auf den Weg Richtung Süden, nach Patagonien….
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