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Ich hatte gehörigen Respekt vor der Begegnung mit dem Tod an den Verbrennungsstätten am Ganges. Der Tod ist ein besonders wichtiges Thema in meinem Leben – kein Einfaches. Und so hat es lange gedauert bis ich die Stadt des Lichtes und des Todes aufgesucht habe. Nun hoffte ich, bereit zu sein.
»Und manchmal, während wir so schmerzhaft reifen, dass wir beinahe daran sterben, erhebt sich aus allem, was wir nicht begreifen, ein Gesicht und sieht uns strahlend an« – Rainer Maria Rilke
Kashi – Shivas Stadt des Lichtes – für die gläubigen Hindus ist die Reise nach Varanasi die Pilgerfahrt, die jeder in seinem Leben unternommen haben will. Vergleichbar ist die Bedeutung der Stadt allenfalls mit der Mekkas für die Muslime und Jerusalem für Christen, Juden (und Muslime). 30 % der Bevölkerung der Stadt gehören dem muslimischen Glauben an.
Sie nennen die Stadt Banaras – der Name Benares war zu Zeiten der muslimischen und britischen Herrschaft gebräuchlich und ist weiterhin sehr geläufig. In der Mahabaratha werden weitere Namen aufgeführt. Der ansprechendste ist für mich Anandvan – Wald der Glückseligkeit.
Varanasi gilt als eine der am längsten besiedelten Städte der Welt.
Als ich Varanasi von Haridwar aus mit dem Nachtzug in den Nachmittagsstunden erreichte, schienen sich meine Erwartungen über die Stadt zunächst zu erfüllen. Es gibt wohl keine Stadt in Indien, zu der so viele Horrorgeschichten existieren. Anderseits hatte ich immer wieder Reisende getroffen für die der Besuch in Varanasi DAS Highlight war.
Ich hatte mir vorgenommen, günstig zur Altstadt zu gelangen, mich dann zu einem Hotel durch zu schlagen und all den Schleppern ein Schnippchen zu schlagen. Doch als ich ein wenig gerädert das Bahngleis entlang lief und versuchte, mich für das Kommende zu wappnen, sprach mich ein Rikschafahrer an. Ohne ihm Zusagen zu machen, folgte ich ihm nach draußen. Dort erwartete mich das vertraute Bild großer indischer Städte: von allem zu viel. Modernisierung ohne Plan, eine graue, bleierne Stadt, die zu schnell wuchs.
Der Rikschafahrer blieb mir ein wenig suspekt, doch schließlich willigte ich ein, mir ein Hotel anzusehen. So viel also zum Helden, der sich immer alleine durch kämpfte. Ich wollte nicht kämpfen. Ich wollte einfach nur zu den Ghats, ein schönes Hotel finden, Varanasi erkunden und bald darauf weiterziehen.
Der Beifahrer war ein Sadhu mit einer großflächigen Pigmentstörung im Gesicht, der es nicht für nötig erachtete, mich zu grüßen. Kurze Zeit später hielten wir, so dass sich die beiden eine frische Ladung Pani (Kautabak mit leicht aufputschenden Substanzen) zu Gemüte führen konnten. Der Fahrer eröffnete mir nun:
„you give money to him!“ – „why?“ – „because he is holy man!“ – “well…”.
Natürlich gab ich ihm nichts, doch ich bereute bereits in dieser Rikscha zu sitzen und auch die Monotonie der unendlichen Märkte entlang der Straße, steigerte mein Wohlbefinden nicht. Schließlich fuhren wir durch eine Reihe ausgesprochen enger Gassen. Das letzte Stück mussten wir laufen.
Und nun erwies sich die Wahl des Rikschafahrers und des Hotels wider Erwarten als wahrer Glücksgriff. Zwar gibt es sicherlich schönere Aussichtspunkte auf die Ghats – die Aussicht vom Dach war schön, aber nicht atemberaubend – doch das Hotel konnte mit seiner Ruhe und ausgesprochen sympathischen Angestellten punkten. So würde ich deutlich länger bleiben, als vermutet.
Memento Mori
Ich war gekommen, um die Atmosphäre an den Verbrennungsstätten auf mich wirken zu lassen. Ich wusste nicht, wie ich auf den Anblick brennender Leichen reagieren würde.
Ein bisschen fürchtete ich, dass es mich umwerfen würde, dass die Angst zurückkehren würde, die mich so lange begleitet und nie ganz verlassen hatte. Die Angst vor dem Tod.
Vielleicht würde ich aber auch Erleichterung empfinden, weil ich inzwischen zu mehr Frieden mit dem Thema gefunden hatte.
Bei uns im Westen ist der Tod ein Tabuthema. Der Jugendwahn hat kaum an Stärke verloren, die Gentechniker träumen von der Verlängerung des Lebens oder gar der Eliminierung des Todes. Viele Alte werden ins Altersheim abgeschoben. Ich hatte die Zustände dort gesehen und sie hatten mich erschüttert.
Wie wollte man einen sanften Tod erleben, wenn man sich nie mit ihm beschäftigt hatte, weil er kollektiv verdrängt wurde?
Nur so kann man den Schrecken erklären, den viele Menschen empfinden, wenn sie unvorbereitet auf ihre letzte Reise gehen.
Wunderbar auch, was Tiziano Terzani im Buch „Der Anfang ist mein Ende“ zum Tod sagt:
„Warum macht das Sterben uns bloß solche Angst? Wo das doch alle getan haben! Milliarden und Abermilliarden von Menschen, Babylonier, Hottentotten, alle. Aber wenn wir selber dran sind – ah! Dann sind wir verloren. Wie ist das möglich? Wo das doch alle getan haben!
Wenn du es dir genau überlegst – und das ist ein schöner Gedanke, den natürlich schon viele angestellt haben -, ist die Erde, auf der wir leben, im Grunde ein riesiger Friedhof. Ein immens großer Friedhof all dessen, was gewesen ist. Wenn wir anfangen würden zu graben, fänden wir überall zu Staub zerfallene Knochen, die Überreste des Lebens.
Kannst du dir vorstellen, wie viele Abermilliarden von Lebewesen auf dieser Erde gestorben sind? Die sind alle da! Wir laufen ständig über einen unendlich großen Friedhof. Das ist seltsam, denn wir stellen uns Friedhöfe immer wie Orte der Trauer vor, Orte des Leidens, der Tränen.
Dieser immense Friedhof aber, die Erde, ist wunderschön! Voller Blumen, die darauf wachsen, mit all den Ameisen und Elefanten, die darüber laufen. Er ist die Natur! Wenn du das so siehst, dass du wieder Teil von all dem wirst, ist das, was von dir bleibt, vielleicht dieses unteilbare Leben, diese Kraft, diese Intelligenz, die du mit einem Bart schmücken und Gott nennen kannst, auch wenn Sie etwas ist, was unser Denken nicht fassen kann, vielleicht der große Geist, der alles zusammenhält.“
Für mich persönlich war der Gedanke, dass wir sterben werden, zu keinem Zeitpunkt ein Tabu. Ich war als Sohn einer Pfarrerin früh mit dem Tod konfrontiert und hatte schon als kleiner Junge gespürt, dass es sich um einen endgültigen Abschied handelt – zumindest in diesem Leben. Doch damals glaubte ich fest an ein Leben nach dem Tod.
Zum Trauma wurde das Thema für mich erst, als ich meinen Glauben in der Pubertät verlor und erleben musste, wie mir geliebte Menschen nach schwerer Krankheit an Krebs starben. Das war zu viel.
Was nach unserem Tod kommen würde, wurde für mich zur zentralen Frage meiner Existenz. Nachdem diese Frage einen 16-jaehrigen nur überfordern konnte, verlor ich nach und nach jede Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Damit verlor ich auch das Fundament meines damaligen Weltbildes und mit ihm allen Lebenssinn. Es folgten Jahre der Wut, Trauer, Verzweiflung, Depression. Es waren Jahre, in denen der Gedanke an den Tod nie sehr fern war. Und der Tod selbst auch nicht.
Heute habe ich zu einer Hoffnung zurückgefunden. Ich werde wohl trotzdem ein Agnostiker bleiben. Manchmal bin ich überzeugt, dass es Etwas Größeres als uns geben muss. Doch noch immer gibt es Momente, in denen mich der Gedanke beschleicht, dass nichts von Bestand sein wird – ein Gedanke, der mich immer noch deprimiert – doch den ich denken kann, ohne ins Bodenlose zu fallen. Das war ein langer Weg.
Ich möchte keinesfalls unsterblich sein. Was für eine furchtbare Vorstellung. Es ist ein Wunder, dass ich dreißig Jahre alt geworden bin. Ich will sicher nicht als 500-Jähriger von meinem 150. Trip nach Indien berichten. Es gibt immer noch Todessehnsucht in mir. Aber der destruktive Teil wird immer kleiner. Doch einst von dieser Erde zu gehen, erscheint mir auch eine Erlösung sein.
Das schmälert den Schmerz der Hinterbliebenen nur unwesentlich und ich weiß nicht, wie tapfer ich dem Tod gegenüberstehen werde.
Entscheidend ist jedoch, was für ein Leben man geführt hat.
Ich will nicht behaupten, ich würde das Leben voll auskosten. Doch es ist sehr intensiv – mit wundervollen und furchtbaren Erfahrungen.
Wer wäre ich, nach mehr zu fragen?
Die Zeit war gekommen, mir ein Bild von den Ghats zu machen. Es unterschied sich stark von meinen Vorstellungen. Ich war davon ausgegangen, dass die Verbrennungsstätten am Ganges dominieren würden – aber das ist nicht der Fall. Es gibt deutlich mehr Badeghats, in denen die Pilger ein Bad in Mother Ganga nehmen, um ihre Sünden rein zu waschen und der Göttin Girlanden und schwimmende Kerzen zu opfern.
Zahllose Boote brechen zu Fahrten über den Fluss auf. Sadhus – Wanderasketen – werden von den Ghats besonders angezogen. Der Tod in Varanasi gilt als besonders verheißungsvoll.
Prächtige Kaufmannshäuser, Villen und Tempel aus dem 18. und 19. Jahrhundert dominieren die Promenade und zeugen von einem anderen Zeitalter.
Es gibt ausschließlich zwei Verbrennungsstätten in der Stadt. Das Harishchandra Ghat; und die deutlich größere und bedeutendere – das Manikarnika Ghat.
Während ich auf den Ghats entlang lief, wurde mir ständig von zwielichtigen, bisweilen finsteren Gestalten Haschisch angeboten – doch nicht nur das – die Palette reichte von (gefaktem) LSD, Meskalin über Opium und Kokain zu Morphinderivaten und dem Pferdeschlafmittel Ketamin. Ich wollte mir nicht im entferntesten vorstellen, was passieren, würde unter Ketamineinfluß an den Verbrennungsstätten zu sein – für Psychedelika war das zweifelsohne auch nicht der richtige Ort – um das mal ganz vorsichtig auszudrücken.
Ich machte mir meine Gedanken über das Bevorstehende. Zweimal hatte ich mich gegen den Trip nach Varanasi entschieden, weil ich mich nicht stark genug fühlte für die Stadt und die Auseinandersetzung mit dem Tod.
Sowohl dem Hinduismus als auch dem Buddhismus gilt die Wiedergeburt als zentraler Bestandteil der Weltanschauung. Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, als ein anderer Mensch wieder zu kehren – noch weniger als Manifestierung als Tier oder Pflanze. Vielleicht bleibt etwas von unserem Bewusstseinskern erhalten – selbst dessen bin ich mir keineswegs sicher.
Dem Gedanken von Karma hingegen kann ich hingegen viel abgewinnen. Dass gute und schlechte Taten unsere Zukunft innerhalb eines Lebens beeinflussen, glaube ich durchaus. Problematisch für mich wird es, wenn dieser an sich schöne Gedanke für die dauerhafte Rechtfertigung von Kastenzugehörigkeit, Armut, Behinderung oder Krankheit herhalten muss.
Dieser Interpretation wohnt ein starker Fatalismus inne.
Die Vorstellung von Shiva, der mit Brahma - dem Schöpfer der Welt und Vishnu - dem „Erhalter“ der Welt, eine Dreiteilung des Göttlichen bildet, wie sie auch im Christentum oder Islam zu finden ist, als Zerstörer der Welt, der zugleich eine neues Zeitalter einläutet, ist mir in der langen Zeit in Indien näher gekommen. Für mich spricht tatsächlich viel dafür, dass wir uns in Kali Yug befinden, einer Zeit des moralischen Verfalls. In der zyklischen Vorstellung des Hinduismus wird diese Periode vom golden age abgelöst – einer Zeit der Erneuerung und der Blüte menschlicher Tugenden.
Die große Frage bleibt für mich: Sollten diese aufeinander ab folgenden Zyklen von Verfall und Erneuerung wirklich existieren – wofür viel spricht – alle Hochkulturen und Weltmächte gingen durch diesen Prozess – wie wird der Übergang von statten gehen?
Werden wir so weitermachen wie bisher und uns nach und nach selbst die Lebensgrundlage entziehen bis eine Katastrophe uns zum Neustart zwingt?
Oder werden wir uns weiterentwickeln, aus unseren Fehlern lernen, uns gesundschrumpfen, die Totalökonomisierung aller Lebensbereiche überwinden und uns auf die wirklich essentiellen Werte zurück besinnen?
Noch ist unser Schicksal nicht entschieden.
Diese Gedanken hatten mich schon in Haridwar begleitet. Dort war das Ausmaß der Verschmutzung des Ganges deutlicher sichtbar. Ich fragte mich auch immer wieder, wie es vereinbar war, den Fluss als heilig zu verehren, und ihn gleichzeitig mit Dämmen dermaßen zu verschandeln.
ein Bild des Manikarnika Ghats aus einer respektvollen Distanz.
Am Manikarnika Ghat angekommen – der bedeutendsten Verbrennungsstätte, schien zunächst der destruktive Anteil Shivas deutlich präsenter zu sein. Gerade die verfallenen Häuser direkt oberhalb erzeugen eine gespenstische Atmosphäre. Scharen von Fledermäusen hatten sich dort eingenistet. Sie flogen unaufhörlich durch die glaslosen Fenster und ihr Anblick verstärkte den morbiden Eindruck. Unterhalb davon brannten die Feuer für die Toten. Jeder gläubige Hindu möchte hier verbrannt werden, da dieser Ort Erlösung vom Kreislauf der Wiedergeburten verspricht: Moksha – das Äquivalent zu Nirvana.
Ein aufdringlicher Mann begann mit einer Litanei über die Rituale am Ghat. Seine Ausführungen waren durchaus interessant. Ich lauschte ihm einige Zeit, auch wenn das nicht leicht fiel, da er sehr undeutlich sprach und eindeutig Unmengen von Haschisch konsumiert hatte. Zudem wusste ich bereits, was folgen würde. Das Ganze läuft so: schon, wenn man sich dem Ghat nähert, wird man in ein unverfängliches Gespräch verwickelt – erreicht man den Verbrennungsplatz wird man an den Experten verwiesen. Das Ziel dieses Unterfangens ist das Geleit zu einem Hospiz, wo man zu einer Spende genötigt wird, die leider nicht den Sterbenden zu gute kommt. Nachdem ich lange genug seiner monotonen Schilderungen ohne jegliche Affektion gelauscht hatte, bat ich ihn die Luft anzuhalten, weil ich den Ort in Ruhe betrachten wollte. Bei all dem was er über Respekt erzählte, war er der Einzige, der sich respektlos verhielt und aus dem Ort Gewinn schlug. Kurze Zeit später hatte er endlich begriffen, dass mit mir kein Geld zu machen war.
Nachdem ich das Geschehen einige Zeit aus einiger Entfernung betrachtet hatte, begab ich mich auf einen Balkon, von dem aus man direkt auf die Totenfeuer blicken kann. Von dort aus konnte ich beobachten, wie die Angehörigen ihre Verstorbenen auf einer Bambusbahre zum Fluss trugen. Die Haare werden von vielen Angehörigen als Zeichen der Trauer kahl geschoren. Der Leichnam ist in glitzernde Seidentücher gehüllt. Mit dem Wasser des heiligen Flusses wird eine letzte Waschung vollzogen. Danach wird er dem Feuer umgeben. Der älteste Sohn umrundete den Leichnam ein letztes Mal und setzte ihn in Brand. Es dauert zwei bis drei Stunden, bis das Feuer den Körper aufgezehrt hat. Nur Hüft- und Beckenknochen verbleiben. Sie werden dem Ganges übergeben. An einem Punkt wenden sich die Angehörigen ab, um der Seele die Möglichkeit zu geben, Moksha zu erlangen. Solange man sich ihr mit Trauer zuwendet, ist sie auf dieser Erde gefangen.
Es war mir unmöglich, aus den Gesichtern Emotionen herauszulesen. Am ehesten noch Andacht. Aber keine Trauer, keine Erleichterung, kein Glück über die Erlösung. Vielleicht geschieht das alles deutlich früher. Das ganze Zeremoniell zieht sich über Tage hin. Es ist eine erhebliche Belastung für die meisten Familien, das Feuerholz für den Scheiterhaufen zu kaufen. Ich war erstaunt, wie wenig Emotion ich zunächst empfand.
Da stand ich nun, dicht gedrängt auf dem Balkon. Die Sadhus rauchten Haschisch durch das Chillum. Die Hitze war deutlich spürbar, ganz leicht schien man auch den Geruch verbrannten Fleisches wahrzunehmen. Die Holzkohlefeuer würden die ganze Nacht durchbrennen. Je höher die Kaste des verstorbenen, desto näher am Fluss wird der Leichnam verbrannt. Die meisten werden jedoch auf der Terrasse verbrannt, die auch genutzt wird, wenn der Ganges während des Monsun die Ghats teilweise überschwemmt. Mit der Zeit wurden meine Sinne offener für das Leben an diesem Ort. Der Anblick von Zicklein, Kühen und Wasserbüffeln, die sich ihren Weg durch die unwirkliche Szenerie bahnten und über die bereitliegenden Sandelholzberge stiegen, stellte einen großen Kontrast dar. Sie schienen keinerlei Notiz von der Morbidität dieses Ortes zu nehmen. Das Feuer erzeugte einen ähnlich tranceartigen Effekt wie der Blick in ein schlichtes Lagerfeuer. Die schwimmenden Kerzen auf dem Fluss zeugten von Leben. Auch ich war mir meiner Lebendigkeit an diesem Ort besonders bewusst. Das Gefühl war dem beim Besuch eines Friedhofs ähnlich, auch wenn die Eindrücke hier wesentlich intensiver waren. Doch es stellte sich automatisch eine besondere Achtsamkeit ein. Es war ein Ort, der große Würde ausstrahlte.
Möglicherweise waren all die Gedanken, die ich mir über die Begegnung mit dem Tod in Varanasi gemacht hatte, schlimmer als das, was ich vorfand. Möglicherweise hatten mich aber auch gerade diese Gedanken darauf vorbereitet. In jedem Fall fühle ich mich erleichtert. Es berührt mich, aber es ängstigt mich nicht. Vollständig kann ich meine eigenen Gefühle aber nicht deuten. Es war ein tiefes Gefühl tief in mir vergraben, ich konnte nicht entscheiden, welche Gestalt dieses Gefühl hatte. Nachdem ich schon eine Stunde dort verbracht hatte, wurde es doch noch ein wenig deutlicher. Ich fragte mich, was für ein Leben die Menschen geführt haben mochten. Hatten sie ein erfülltes Leben? Was hinterließen sie? Und ich dachte an die Menschen, die ich im Laufe meines Lebens verloren hatte, und hoffte, dass sie Erlösung gefunden hatten.
Carpe diem
Ich lernte Stina kennen. Zuvor hatte ich zwei Monate lang bis auf zwei kurze Unterhaltungen keinen Kontakt zu anderen Westlern gesucht. Bisweilen war ich sehr einsam gewesen, doch ich hatte auch einige bereichernde Bekanntschaften mit Einheimischen machen dürfen. Besonders in Haridwar war ich sehr verwöhnt worden. Dennoch blieb es etwas anderes – beides auf seine Weise sehr schön. Nach der langen Pause eines wirklich intensiven Gespräches und der tiefgreifenden Erfahrungen am Manikarnika Ghat sorgten dafür, dass die Begegnung von Anfang an besonders war. Sie war ausgesprochen offen zu mir, vertraute mir vom ersten Moment an. Das alles öffnete auch mich noch weiter. Seit ich mein erstes Buch veröffentlicht habe, hatte ich nicht mehr so intensiv von der Vergangenheit gesprochen. Und es war einer der seltenen Fälle, in der in meiner Erzählung tiefe Emotionen mit schwangen – ich neige dazu, von diesen dunklen Zeiten sehr affektisoliert zu sprechen. Nun legten wir alles auf den Tisch. Von Anfang an war klar, dass sie einen Freund hatte, der auf sie wartete und so war die Grenze dieser Begegnung eindeutig. Es gab nicht den geringsten Grund, sich zu verstellen und das führte dazu, dass wir uns ausgesprochen nahe kamen. Es war eine wunderbare Begegnung und wir schufen uns für einige Tage eine eigene Welt, in der wir verweilten, wann immer wir wollten und unserer eigenen Wege gingen, wenn es sich richtig anfühlte. Wir lachten bisweilen Tränen und ich kann mich nicht entsinnen mit besonders vielen Menschen so irre Gespräche geführt zu haben. Sie repräsentierte das Leben und wir sprachen über Liebe, Leben und Tod und alles was sonst zählte.
Wir besuchten gemeinsam das Manikarnika Ghat und sprachen über die Menschen, die wir verloren hatten und die Bedeutung des Todes. Danach begaben wir uns in die verwinkelten Gassen der Altstadt. Wer hier nicht verloren geht, hat sich nicht wirklich hieningewagt. Es gibt an jeder Ecke etwas Neues zu entdecken und die engen Gassen muten mittelalterlich an. In Indien existieren die verschiedenen Zeitepochen nebeneinander her.
Es war eine Überraschung, dass in Varanasi zwei Wochen nach Divali ein weiteres Fest zum Vollmond stattfindet, das nur hier gefeiert wird – Dev-Divali.Tagelang wurde frisch gestrichen:
Die Muslime begehen zum gleichen Zeitpunkt Muharram und so mischen sich unter die Hindus an den Ghats Muslime in feierlichen Gewändern.
Es war ein Glücksfall, dass wir dieses Fest gemeinsam erleben durften. Vor Sonnenaufgang begaben uns zu den Ghats und machten eine Bootfahrt – es war das erste Mal, dass ich die Ghats aus dieser Perspektive betrachten konnte. Bereits zum Sonnenaufgang waren die Ghats gesäumt mit tausenden von Pilgern, die im Ganges badeten. Noch eindrucksvoller war, in den Abendstunden zu den Ghats zurückzukehren, deren Stufen in den letzten Tagen einen frischen Anstrich erhalten hatten und bereits aus allen Nähten zu platzen drohten. Wir unternahmen eine weitere Bootsfahrt. Ich hatte meine Kamera vergessen und das war gut so. Die Gefahr besteht immer, dass man zu viele Bilder macht und vergisst zu schauen.
Und das, was sich uns bot, war DAS Highlight in Varanasi. Die Ghats waren von zehntausenden Kerzen illuminiert. Von außen schien die Menschenmenge einer gewissen Ordnung zu folgen. Nachdem ich ein selbstloses Gebet sowohl für die mir geliebten als auch die mir unbekannten Menschen sprach, brachte ich dem Ganges eine schwimmende Kerze dar. Ich war eins mit meiner Umgebung. Nichts trennte mich mehr. Ich war ergriffen und konnte sehen, dass Stina ähnlich fühlte. Es brauchte keine Worte, um das zu erkennen.
Das Gefühl einer geordneten Menge, verschwand in dem Moment, in dem wir uns unter die Menschen mischten. Wir schlugen uns bis zum Main Ghat durch. Die Atmosphäre war unglaublich intensiv und ließ auch mich leuchten. Doch es blieb eine Herausforderung durch die Menschenmassen zu gelangen und gewaltige Knaller explodierten um uns herum. Raketen stiegen in den Himmel auf. Dies ist, was wir sahen:
Ich fühlte mich leicht, befreit und glücklich. Meine Stimme hatte den sanften Klang tiefen inneren Friedens, meine Bewegungen waren geschmeidig. Ich hatte meinen Frieden gemacht.
Es war der richtige Zeitpunkt zu kommen. Ich war wirklich bereit gewesen! Varanasi wird in meinem Herzen bleiben und ich werde zurückkehren.
Antworten
Ganz großer Text! Ich habe den Text schon vor ein paar Jahren gelesen und bin grade nochmal bei drauf gestoßen. Hut ab, sehr stark!
Herzlichen Dank, Morten! Ich habe euere aktuelle Geschichte aus Varanasi auch sehr gerne gelesen!
Ich bin nur zufällig über diesen Reisebericht gestolpert, konnte aber nicht aufhören, zu lesen. Dein Bericht hat mich wirklich berührt, da ich ähnliche Erfahrungen in meinem Leben gemacht habe. Vielen Dank, dass du so tiefe Gedanken und Gefühle niedergeschrieben hast.
Liebe Andrea! Herzlichen Dank für Deine Rückmeldung! Ich freue mich immer sehr, wenn meine Offenheit Andere berühren kann, die, wie Du, Ähnliches in ihrem Leben erfahren haben. Gerade, wenn man sich so »nackig« macht, was am Anfang durchaus mit Scham verbunden ist, tut es besonders gut zu erfahren, dass man nicht alleine auf seinem Weg ist. Ganz liebe Grüße! Oleander
Ich fühle mich in jeglicher Weise erinnert an meinen Besuch dieser unglaublichen Stadt im Jahr 1993.
Das ist schön, Anett! Es ist erstaunlich wie sehr die Stadt in ihren Fundamenten stets die Gleiche bleibt, obwohl sich alles an ihrer Oberfläche im rasanten Wandel befindet. Liebe Grüße! Oleander
Hallo. Ich bin durch Zufall auf diese Stadt gekommen. Auf den Flug nach BKK fliegen wir immer über diese Gegend. Ich habe mit Google Earth recherchiert und die Stadt, die ich aus dem Flugzeug gesehen habe gefunden. Sie haben einen wundervollen Bericht über diese Stadt und ihren Bewohner gestaltet. Liebe Grüße aus Ungarn.
Herzlichen Dank und liebe Grüße nach Ungarn!
beeindruckend. zumal ich gerade erst aus Varanasi zurück komme. Vieles war fast indentisch, was ich erlebt und gehört habe. Auch meine Angst vor der Stadt ließ mich diese Reise jahrelang verschieben. Und nun : ich will wieder hin. Mich hat es fasziniert da zu sein und das alles zu erleben. ich plane im Herbst einen erneuten Varanasi-Aufenthalt.
Herzlichen Dank, Uli! Mich zieht es in meinen Gedanken auch immer wieder nach Varanasi und es wir bestimmt nicht mein letzter Aufenthalt dort gewesen sein. Gerade erst wurde ich auch literarisch nach Varanasi getragen. Das Buch »Die Suche nach Indien – eine Reise in die Geheimnisse Bharat Matas« von Dennis Freischlad kann ich sehr empfehlen. Bald geht es mit Ilija Trojanows Reportagen wieder hin. Das muss bis zur nächsten realen Begegnung reichen. Ganz liebe Grüße! Oleander
Alter,was ist das für ein verquirlter Hippie-Kitsch-Geschwafel? Bist du 15 oder was? Hast du dein Poesiealbum verlegt oder wie?
Hi Andy, finde ich unmöglich, wie du den Bericht von Oleander abkanzelst. Der schreibt sich da was von der Seele und du schwafelst so zugedröhnt darüber, als ob dus besser wüsstest.
Fremdschämen! Für dich!
Fahr halt selbst hinb, schaus dir an,. aber nüchtern! Und dann sag was du erlebt hast.…
oh jee ich bin gespannt auf die stadt. nach meinem design projekt in kolkata ist dies mein erster stopp von kolkata nach dehli .. bin gespannt was mich erwarten wird.
aber bis dahin ist es ja noch ein wenig hin! (2 monate noch)
Hallo Jessie!
Leider hat meine Antwort ein wenig warten muessen. Ich denke nicht, dass Du Dir Sorgen wegen Varanasi machen musst. Die meisten Horrorgeschichten entstehen ja dadurch, dass Reisende Varanasi als eines ihrer ersten Ziele ansteuern ohne sich halbwegs an den ganz normalen indischen Wahnsinn geweohnt zu haben… Ich bin sicher, dass Kalkutta Dich auf die Stadt vorbereiten wird. Ich war zwar noch nicht in Kalkutta, aber wenn ich Delhi mit Varanasi vergleiche, dann wuerde ich hundertmal lieber in Varanasi sein. Ich bin gespannt wie es Dir gefallen wird.
Liebe Gruesse! Oleander
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