Im Nebelreich des Rwenzori

Als ich mich auf­rich­te, ist da sofort Schwin­del. Ich erhe­be mich aus dem schma­len Bett und tre­te vor die Tür. Ster­ne am Him­mel, eine mil­de Nacht. Ekel kriecht mei­ne Keh­le hin­auf. Unter Krämp­fen errei­che ich die Sani­tär­ba­ra­cke. Wür­gen setzt ein, mein Gesicht fällt in ein schmut­zi­ges Wasch­be­cken. Der Kör­per win­det sich. Gekrümmt hocke ich danach auf der Toi­let­te.

Ich muss an den Käfer ges­tern den­ken. Schwarz, so groß wie der Nagel mei­nes klei­nen Fin­gers. Nach zehn Gabeln gab mein Abend­essen das Insekt zwi­schen den Nudeln frei, eine unbe­ab­sich­tig­te Pro­te­in­bei­ga­be, mit­ge­kocht. Wo der wohl vor­her geses­sen hat­te? Ich schnipp­te das Tier ins Gras und aß wei­ter.

Nun, mit­ten in der Nacht, der Mor­gen ist noch fern in der ein­zi­gen Unter­kunft von Kil­em­be, einem klei­nen Dorf in Ugan­da, kann ich nir­gend­wo eine Fla­sche Was­ser auf­trei­ben. Alle schla­fen. Aus dem Hahn will ich nicht trin­ken. Also lege ich mich wie­der hin. Beim ers­ten Tages­licht bin ich so dehy­driert, dass ich allein ans Trin­ken den­ken kann. So beginnt mein Trek­king in den Mond­ber­gen.

MYSTISCHE MONDBERGE

Rwenz­ori heißt die­ses Gebir­ge am Rand der immer­feuch­ten Tro­pen, mit ver­glet­scher­ten Gip­feln höher als 5000 Meter. Ein Mys­te­ri­um. Den Kili­man­dscha­ro kennt jeder. Aber wer hat schon vom Mar­ghe­ri­ta Peak gehört? Der Ost­afri­ka­ni­sche Gra­ben­bruch hat die Ber­ge zwi­schen Ugan­da und dem Kon­go auf­ge­fal­tet. Die Euro­pä­er fuh­ren die längs­te Zeit ein­fach vor­bei, und das ist heu­te immer noch so. Weil das höchs­te nicht-vul­ka­ni­sche Gebir­ge in Afri­ka fast immer unsicht­bar bleibt. Ver­bor­gen in Wol­ken.

Der Afri­ka­for­scher Hen­ry Mor­gan Stan­ley glaub­te 1876, eine Wol­ke von sil­ber­ner Far­be zu betrach­ten, als er auf einen Eis­pan­zer des Rwenz­ori schau­te. Pto­le­mä­us soll den Begriff Mond­ber­ge geprägt haben, als er von schnee­be­deck­ten Gip­feln im Her­zen Afri­kas sprach. Die Bakon­jo, die an den Hän­gen des Rwenz­ori leben, haben ihre eige­ne Erklä­rung: Tags­über sind die Ber­ge stets ver­hüllt, nur nachts sieht man sie – bei Mond­schein. Es sei denn, man begibt sich mit­ten hin­ein ins Gebir­ge.

Das Rwenz­ori ist eine der unzu­gäng­lichs­ten Gegen­den des Kon­ti­nents. Schlam­mi­ge Pfa­de füh­ren durch enge Täler und über schlüpf­ri­ge Päs­se, oft mehr Bäche als Wege. Der Kil­em­be Trail wur­de über­haupt erst 2010 für Tou­ris­ten frei­ge­ge­ben. Gum­mi­stie­fel sind in wei­ten Tei­len des Gebir­ges das bes­te Schuh­werk. Über­nach­tet wird in Schutz­hüt­ten ohne Strom und Was­ser oder in Zelt-Camps. Bevor über­haupt die höchs­ten Gip­fel in Sicht­wei­te kom­men, läuft man drei Tage durch men­schen­lee­re Wild­nis.

BOTANIKER UND DRAUFGÄNGER

Sich allein in die­ses Gebir­ge zu bege­ben, wäre Wahn­sinn. Zwei Trek­king­agen­tu­ren vor Ort bie­ten Tou­ren an. Sechs bis neun Tage, mit Mar­ghe­ri­ta Peak oder ohne. Eine Hand­voll Trä­ger gehö­ren zu jeder Mann­schaft, denn jeder Koch­topf, jede Rübe und jede Por­ti­on Reis muss in die Ber­ge hin­ein getra­gen wer­den. Ich ver­zeh­re mich zunächst ein­mal nach Was­ser, das in den kom­men­den Tagen im Über­fluss vor­han­den sein wird.

Erlö­sung am Mor­gen: Das Hos­tel erwacht. Ich bekom­me etwas zu trin­ken. Die Son­ne zieht auf über Kil­em­be.

Zwei Berg­füh­rer beglei­ten mich auf der Tour. Richard, 33, ein sanft­mü­ti­ger jun­ger Mann, kennt die latei­ni­schen Namen vie­ler Pflan­zen. Samu­el, 31, erzählt davon, wie er als Sol­dat in der ugan­di­schen Armee den War­lord Kony gejagt hat. Begrü­ßung zum Früh­stück. Wir che­cken die Aus­rüs­tung, dann geht es los. Ich glau­be, mich über Nacht ent­gif­tet zu haben. Ich kann lau­fen.

Die Hän­ge erhe­ben sich steil rund ums Dorf. Auf den Fel­dern pflan­zen die Men­schen Boh­nen, Kaf­fee und Mani­ok an. Wir spa­zie­ren vor­bei an einer Schu­le und den Wohn­ba­ra­cken einer Minen­ge­sell­schaft, die hier Kup­fer schürft. Im Fluss lie­gen die Trüm­mer einer Brü­cke, von Hoch­was­ser zer­stört.

Wei­ter oben: Got­tes­dienst in einer Kapel­le. Ein älte­rer Herr kommt uns in sei­nem dunk­len Sonn­tags­an­zug ent­ge­gen, wahr­schein­lich ist es sein ein­zi­ger. Der Gen­tle­man, des­sen Hemd nie pral­le Taschen hat­te, grüßt höf­lich.

SCHÜTTELFROST IM SCHLAFSACK

Noch bewe­gen wir uns am Ran­de des Gebir­ges, in der Zivi­li­sa­ti­on. Warm ist die Luft hier auf 1400 Metern. Wo die Bewirt­schaf­tung des Lan­des endet, mar­kiert ein Schild die Gren­ze des Rwenz­ori Moun­ta­ins Natio­nal Parks. »Kil­em­be Rou­te – Ent­ry Point«. In einem klei­nen Ran­ger-Häus­chen muss ich ein For­mu­lar aus­fül­len, alles auf eige­ne Gefahr und so. Drau­ßen posiert ein jun­ger Typ, fast noch ein Jugend­li­cher, mit sei­ner Kalasch­ni­kow für mei­nen Foto­ap­pa­rat.

Über­schwäng­lich wächst die Vege­ta­ti­on. Lia­nen umschlin­gen die Tro­pen­bäu­me des Berg­walds. Schmet­ter­lin­ge, Vogel­ge­zwit­scher, der Nyam­wam­ba rauscht rechts des Weges. Wir über­que­ren den Fluss über eine Brü­cke, dahin­ter nimmt das Geräusch des Was­sers rasch ab. In Keh­ren stei­gen wir nun die Hän­ge hin­auf.

Fast wie ent­lang einer Linie gezo­gen ändert sich die Land­schaft. Meter­hoch steht plötz­lich der Bam­bus­wald, die zwei­te Vege­ta­ti­ons­stu­fe des Rwenz­ori. Wir sei­en jetzt also unge­fähr 2500 Meter hoch, erklärt Richard. Haus­hoch und dicht säu­men die Stäm­me den gewun­de­nen Pfad. Ich lau­fe wie durch die Kulis­se eines fern­öst­li­chen Krie­ger­epos, im Haus der flie­gen­den Dol­che, doch kein Wurf­mes­ser zer­schnei­det die immer noch schwül-war­me Luft an den unte­ren Hän­gen des Rwenz­ori.

Wir errei­chen das Lager kurz vor den ers­ten Trop­fen. Als der Regen ein­mal ein­ge­setzt hat, hört er nicht mehr auf. Die tro­cke­ne Erde ver­wan­delt er in Matsch. Nebel umhüllt unse­ren Schlaf­platz auf 3134 Metern, das Kal­ala­ma Camp. Wir befin­den uns hier genau auf der Schwel­le zum urzeit­li­chen Reich aus Nebel und Was­ser: Rwenz­ori. Regen­ma­cher, Wol­ken­kö­nig.

Die vier, fünf Stun­den Auf­stieg des Tages habe ich gut ver­kraf­tet. Ich habe unter­wegs ein Sand­wich mit Käse und Ei geges­sen, einen Apfel, eine Bana­ne. Nun ent­facht unse­re Mann­schaft unter den Pla­nen eines Gemein­schafts­zelts ein Feu­er, setzt eine Pfan­ne auf. Ich schaf­fe drei Löf­fel vom Reis mit Gemü­se, das in etwas ran­zi­gem Spei­se­öl aus einer Plas­tik­fla­sche zube­rei­tet wur­de. Mein Kör­per will nicht. Er bräuch­te aber, nach dem lan­gen Marsch. Und des­halb klappt er zusam­men. Mir wird kalt, ich bekom­me Schüt­tel­frost und krie­che in mei­nen Schlaf­sack. Mehr als eine Stun­de lie­ge ich mit schlot­tern­den Zäh­nen da, drau­ßen ist es schon pech­schwarz. Dann kann ich ein­schla­fen.

IN EINEM LAND VOR UNSERER ZEIT

Am Mor­gen füh­le ich mich bes­ser. Richard reicht mir eine Scha­le Por­ridge, die ein­zi­ge Mahl­zeit, die ich auf die­ser Tour mit Sicher­heit essen kann. Der Regen hat in der Nacht auf­ge­hört. Vom Camp aus führt die Rou­te durch ein Hoch­tal wei­ter ins Gebir­ge hin­ein. Im Nord­wes­ten sind nur Wol­ken zu sehen.

Auf der zwei­ten Tages­etap­pe ver­ste­he ich, war­um Gum­mi­stie­fel prak­ti­scher sind als Berg­schu­he. Immer wie­der sin­ken die Füße im Schlamm ein. Schwomp schwomp, stun­den­lang, das ist der Sound des Rwenz­ori. Hin­ter jedem Fels und jeder Wur­zel, in jeder Spal­te und in jedem Loch gluckst und plät­schert es. Wir durch­wa­ten ein­sa­me Sümp­fe. Die Feuch­tig­keit sorgt für prä­his­to­risch anmu­ten­den Bewuchs. Lobe­li­en und Sene­zi­en ragen vier Meter in die Höhe. Hei­de­kraut wächst wild in alle Rich­tun­gen, bizar­re Rie­sen­ge­wäch­se wie aus einer urzeit­li­chen Welt. Flech­ten hän­gen von den Ästen der Bäu­me wie Bär­te schweig­sa­mer Natur­geis­ter, die mythi­sche Geheim­nis­se hüten. In jedem Moment, scheint es, könn­te ein Flug­sauri­er aus dem Nebel her­vor­schie­ßen.

Wir erstei­gen den Tal­schluss und errei­chen eine Hoch­ebe­ne, die von Grä­sern und Stroh­blu­men durch­setzt ist. Wir haben die Baum­gren­ze hin­ter uns gelas­sen. Müh­sam ist der Weg. Ich ver­su­che, auf die Gras­bü­schel zu tre­ten, doch oft ist der Schritt zu kurz und endet im Was­ser. Also den Fuß hin­aus­zie­hen. Schwooooomp. Das kos­tet Kraft. Die Stun­den zie­hen sich. Jede mei­ner Kal­ku­la­tio­nen zu Weg­stre­cke und Geh­zeit erweist sich als falsch.

FÜR EINE HANDVOLL DOLLAR

Ich brin­ge den Tag trotz der Stra­pa­zen ganz gut hin­ter mich. Nach­mit­tags im Buga­ta Camp, auf 4062 Metern, beschenkt uns das Rwenz­ori mit einem sel­te­nen Schau­spiel: Die Wol­ken ver­zie­hen sich. Son­ne fällt in das Namus­an­gi-Tal mit sei­nen Glet­scher­seen, die jetzt schon unter uns lie­gen, wie Spie­gel.

Ich sit­ze an der Abbruch­kan­te einer Fels­wand und schaue in die Fer­ne, ernst­haft erschöpft, aber hoff­nungs­voll. Bis das Abend­essen auf­ge­tischt wird. Ich sto­che­re mit mei­ner Gabel im Reis­klum­pen. Es tut mir leid. Samu­el wirft mir einen skep­ti­schen Blick zu. Ich ent­schul­di­ge mich. Ich schä­me mich. Die Trä­ger haben das gan­ze Zeug hier ins Nir­gend­wo geschleppt, und jetzt hat der fei­ne Herr kei­nen Appe­tit. Aber es geht ein­fach nicht. Das habe nichts mit dem Essen zu tun, bekräf­ti­ge ich, es schme­cke ja wirk­lich gut. Aber der Magen wol­le ein­fach nicht. Ich weiß nicht, ob sie mir glau­ben. Ich habe nur gefrüh­stückt.

Von der Agen­tur erhal­ten die Trä­ger – dar­un­ter eine Frau – 4 bis 5 US-Dol­lar pro Tag. Dafür tra­gen sie 20 bis 30 Kilo über Schlamm­pfa­de die Ber­ge hin­auf und hin­ab. Pfer­de oder Esel gibt es nicht. Die Berg­füh­rer bekom­men jeweils 9 bis 12 Dol­lar pro Tag. Erreicht der Kun­de den Mar­ghe­ri­ta-Gip­fel, gibt es einen Bonus.

Das monat­li­che Durch­schnitts­ein­kom­men in Ugan­da liegt bei etwa 55 US-Dol­lar. Fühlt sich die Bezah­lung mei­ner Mann­schaft dadurch bes­ser an? Nicht wirk­lich. Am Ende der Tour ver­dop­pe­le ich die Gehäl­ter durch mein Trink­geld. Auch das zeigt das Gefäl­le. Ich wür­de ger­ne mehr mit Richard und Samu­el plau­dern. Aber abends bin ich wie­der schwach und frös­telnd, weil mir Kalo­rien feh­len, um den Kör­per aus­rei­chend warm zu hal­ten. Ich muss in den Schlaf­sack.

GRENZE IM NIRGENDWO

Tag drei bricht an im Rwenz­ori. Wir über­schrei­ten heu­te den Bam­wan­ja­ra-Pass, der unge­fähr so hoch liegt wie die Spit­ze des Mat­ter­horns. Hin­auf geht es durch einen Bach, teils über gro­be Fels­blö­cke. Oben ange­kom­men, nach rund zwei Stun­den, ist es so kühl, dass Schnee­flo­cken durch die Luft flir­ren. Jen­seits des Pas­ses win­det sich der Pfad in stei­len, mat­schi­gen Ser­pen­ti­nen durch einen Rie­sen­lo­be­li­en-Wald hin­ab.

Wir stei­gen ab in ein ande­res Tal, fern­ab jeder Ansied­lung. Ein­mal, für kaum zwei Minu­ten, schie­ben sich die Wol­ken am Hori­zont im Nor­den aus­ein­an­der, sodass die zacki­gen, leicht ver­schnei­ten Käm­me der Stan­ley-Ber­ge zu sehen sind. In die­sem Mas­siv lie­gen die höchs­ten Gip­fel des Rwenz­ori. Unser Ziel.

Wei­ter unten ruht ein See, ein­ge­fasst ins wil­de Grün der Land­schaft wie ein trü­ber Edel­stein. Die Ebe­ne dahin­ter liegt ver­bor­gen unter dich­ten Quell­wol­ken. Das Tal fällt steil ab, im rech­ten Win­kel zu einem brei­te­ren Tal, in dem wir links oder rechts abbie­gen kön­nen. Ent­schei­den wir uns für links, lau­fen wir in die Demo­kra­ti­sche Repu­blik Kon­go. Jen­seits der Gren­ze, die den ver­meint­lich ber­eis­ba­ren Teil Ost­afri­kas vom soge­nann­ten Kon­flikt­ge­biet trennt, aber nicht mehr als eine fik­ti­ve Linie auf der Land­kar­te ist, liegt die ruhe­lo­se Pro­vinz Nord-Kivu. Das Aus­wär­ti­ge Amt hat für die Regi­on eine Rei­se­war­nung aus­ge­spro­chen. Dort ope­rie­ren ver­schie­de­ne Mili­zen, es herrscht all­ge­mei­ne Gesetz­lo­sig­keit.

Das Rwenz­ori war immer wie­der für Tou­ris­ten gesperrt. Die ugan­di­schen Dik­ta­to­ren Obo­te und Amin mach­ten Rei­sen unmög­lich. Wäh­rend des Zwei­ten Kon­go­kriegs schloss die Regie­rung den Natio­nal­park, weil Rebel­len ihn als Rück­zugs­ge­biet nutz­ten. Erst 2001 wur­de der Park wie­der für aus­län­di­sche Besu­cher geöff­net. Doch die Staats­ge­walt ist hier auch heu­te noch weit weg. Nur die Ran­ger der Ugan­da Wild­life Aut­ho­ri­ty machen in die­ser abge­le­ge­nen Gegend ein­sam ihre Arbeit.

An der Weg­schei­de lau­fen wir rechts, wei­ter hin­ein ins Rwenz­ori, in Rich­tung der ver­hüll­ten Fels­tür­me. Essens­pau­se, wir kau­ern uns zusam­men. Regen zieht durch das Tal. Dich­ter Nebel umhüllt uns. Trost­los könn­te man die­se Umge­bung nen­nen, trü­be, trist, for­lorn, doch ich fin­de sie mys­tisch.

Samu­el erzählt, dass er vie­le Jah­re im Mili­tär war. Und wie sie zwölf, vier­zehn, sechs­zehn Stun­den mar­schier­ten, um Kony auf­zu­spü­ren, den Füh­rer der Lord’s Resis­tance Army, Anfüh­rer einer Räu­ber­ban­de, die Kin­der­sol­da­ten rekru­tier­te und Mas­sa­ker anrich­te­te. Sogar Oba­ma schick­te Spe­zi­al­trup­pen nach Zen­tral­afri­ka, um Kony zu fin­den. Wo der War­lord heu­te steckt, weiß nie­mand.

Samu­el berich­tet auch, wie sie ihre Gewehr­ku­geln mit Nas­horn­pul­ver bestreut hät­ten, irgend­ein Aber­glau­be, wer weiß, ob die Geschich­te stimmt. Aber er erzählt sie mit fes­ter Stim­me und einem durch­drin­gen­den Blick. Dann ver­stummt unser Gespräch. Samu­el macht ein Lied auf sei­nem Han­dy an, ein Tri­but-Song von Jay‑Z für die New Yor­ker Hip­Hop-Legen­de Jam Mas­ter Jay. Krat­zi­ge Raps ver­hal­len im all­um­fas­sen­den Grau. Noch zwei Stun­den, dann sind wir im Hunwick’s Camp, bevor am nächs­ten Tag die letz­te Tages­etap­pe vor der Gip­fel­nacht ansteht.

AM FUSS DES BERGES

Wir sind nun wie­der auf 3974 Metern. Wie­der kann ich kein Abend­essen zu mir neh­men, das macht mir lang­sam Sor­gen. Wir lau­fen jeden Tag vie­le Stun­den, ich brau­che Kalo­rien. Ich wer­de jeden Tag dün­ner und dün­ner, eine schma­le Gestalt in unwirt­li­chen Ber­gen. Der Geruch des Essens ver­lei­det mir den Appe­tit. Der Magen weiß, was er will. Und was nicht.

Im Camp tref­fe ich auf zwei Schwei­zer und ihre Mann­schaft, die ein­zi­gen ande­ren Men­schen, denen wir in den sie­ben Tagen im Rwenz­ori begeg­nen. Sie schen­ken mir ihre Immo­di­um-Tablet­ten. Der Durch­fall sucht mich regel­mä­ßig heim, lei­der auch an die­sem Abend. Immer­hin ist die Luft abends lieb­lich, etwas Son­ne fällt ins Tal.

Am nächs­ten Tag stap­fen wir vor­bei an den Kitan­dara-Seen zum höchs­ten Zelt­la­ger der Tour. Es liegt unweit der Ele­na-Hüt­te, die von den Kun­den der ande­ren Trek­king-Agen­tur genutzt wird. Deren Gäs­te kom­men über den Cen­tral Cir­cuit Trail, wäh­rend wir auf dem Kil­em­be Trail unter­wegs sind. Doch an die­sem Tag dringt nie­mand zum Fuß des gewal­ti­gen Stan­ley-Mas­sivs vor.

Abends schie­be ich Reis auf dem Tel­ler her­um. In der Nacht wol­len wir auf den Mar­ghe­ri­ta Peak, auf über 5000 Meter. Ich müs­se essen, sagt Samu­el. »You have to eat.« Aber ich kann nicht. Was soll ich machen? Die Trä­ger erhit­zen Was­ser aus einem Bach über dem Gas­ko­cher, fül­len es in eine Plas­tik­scha­le und stel­len mir den Bot­tich mit einem Stück Sei­fe hin. Ein Fuß­bad, was für ein Luxus! Ich bin durch­ge­fro­ren und hül­le mich in den Schlaf­sack. Es schneit.

WO DIE GÖTTER WOHNEN

Um drei Uhr nachts betritt Richard das manns­ho­he Zelt mit den Stock­bet­ten. Ich weiß, dass es nun Zeit ist, den war­men Schlaf­sack zu ver­las­sen. Dabei sehnt sich mein gesam­ter Kör­per nach Ruhe. »Good mor­ning, Phil­ipp.« Mehr muss Richard nicht sagen. Sein Gesicht sieht aus, als tue es ihm leid, mich wecken zu müs­sen. Er reicht eine Kan­ne Tee und eine Scha­le Por­ridge. Lang­sam zie­he ich mich an. Drau­ßen flir­ren Flo­cken durch den Licht­ke­gel der Stirn­lam­pe.

Wir mar­schie­ren los durch die Dun­kel­heit, berg­an. Das Gestein ist so glatt, als habe es jemand mit Spül­mit­tel ein­ge­schmiert. Die Soh­le hilft wenig. Nach vier Tagen in Gum­mi­stie­feln tra­ge ich zum ers­ten Mal mei­ne Berg­stie­fel. Die Bakon­jo glau­ben, auf den höchs­ten Gip­feln des Rwenz­ori woh­ne das Göt­ter­paar Keta­sam­ba und Nyibi­bu­ya. Wenn es sich bewegt, heißt es, dann lösen sich Stei­ne. Ich hof­fe, dass die Göt­ter noch eine Wei­le fried­lich schla­fen.

Nach gut einer Stun­de sto­ßen wir auf den ers­ten Glet­scher. Er ist kaum steil und ein­fach zu über­que­ren. Spä­ter seilt mich Samu­el über eine durch Stein­schlag gefähr­de­te Fels­rin­ne zum Fuß des Mar­ghe­ri­ta-Glet­schers ab, immer noch bei völ­li­ger Dun­kel­heit. Die­ser Glet­scher führt wie­der­um so steil berg­an, dass wir Steig­ei­sen anzie­hen. Auf dem ver­meint­lich ewi­gen Eis des Rwenz­ori, das in eini­gen Jahr­zehn­ten voll­ends ver­schwun­den sein wird, weicht die Nacht lang­sam zurück. Der Blick reicht nun eini­ge Dut­zend Meter.

Die letz­ten Höhen­me­ter auf den Mar­ghe­ri­ta-Gip­fel füh­ren über ver­schnei­te Fels­blö­cke. Absturz­ge­län­de. Ganz oben steht ein Schild, das mit Eis­kris­tal­len über­zo­gen ist, die noch die Auf­schrift preis­ge­ben: »Wel­co­me to Mar­ghe­ri­ta Peak – 16763 ft. (5109 m) a.s.l. – the hig­hest point in Ugan­da.« Die Lan­des­gren­ze ver­läuft genau über den Gip­fel. Im Wes­ten liegt der Kon­go unter schwe­ren Wol­ken, als woll­te der Him­mel die­sen unru­hi­gen Land­strich vor neu­gie­ri­gen Bli­cken ver­ber­gen.

Hier oben nun, nach fünf Tagen über schlüpf­ri­ge und stei­le Pfa­de, fällt der Blick end­lich weit über das Land, auf schnee­be­deck­te Spit­zen, die in der Fer­ne wie aus Wat­te ragen. Vom höchs­ten Punkt des Gebir­ges zei­gen die umlie­gen­den Ber­ge zumin­dest eini­ge Flan­ken, etwa Alex­an­der Peak. Trotz­dem haben wir die­se Wild­nis nicht erobert. Nichts wur­de hier bezwun­gen. Wir ste­hen auf dem ver­eis­ten Thron des Rwenz­ori, allen Wid­rig­kei­ten zum Trotz, doch die Land­schaft bleibt undurch­schau­bar, gefahr­voll, im Sin­ne des Wor­tes sagen­haft. Nur ein fal­scher Tritt, ein Knacks am Knö­chel, es wäre eine Kata­stro­phe.

Wir ras­ten, trin­ken und atmen durch. Das düs­te­re Wet­ter ver­birgt, dass es Mit­tag gewor­den ist. Ich füh­le mich ent­rückt von allem, das ich ken­ne. Weit ent­fernt liegt mei­ne Welt, jen­seits des Nebel­reichs. Er wun­de­re sich schon, dass ich es hier­her geschafft habe, sagt Samu­el, wo ich doch kaum etwas geges­sen habe. Hof­fent­lich, den­ke ich, rei­chen die Reser­ven für den lan­gen Weg zurück.

DIE STUNDE DES LEOPARDEN

Eigent­lich wol­len wir an die­sem Tag noch bis ins Hunwick’s Camp kom­men. Doch wir errei­chen das Basis­la­ger erst am Nach­mit­tag. Richard und Samu­el begut­ach­ten mich und ent­schei­den, dass wir nicht wei­ter­ge­hen. Ich kann immer noch wenig essen. Vor allem will ich mich nie­der­le­gen und schla­fen. Der Weg zum Gip­fel und zurück ins Zelt­camp hat zehn Stun­den gedau­ert.

Am nächs­ten Tag, auf dem lan­gen Marsch zurück nach Kil­em­be, haben wir eine gewal­ti­ge Weg­stre­cke vor uns. Auf­bruch um sie­ben in der Früh. Wir stap­fen zurück durch das letz­te Hoch­tal, vor­bei an den Kitan­dara-Seen, am Hunwick’s Camp. Wir stei­gen wie­der hin­auf zum Bam­wan­ja­ra-Pass, dort eine Mit­tags­pau­se. Wenn ich nicht lau­fe, fan­ge ich an zu zit­tern. Sand­wich, Apfel, Bana­ne.

Als es Nach­mit­tag gewor­den ist, errei­chen wir das Buga­ta Camp. Hier könn­ten wir über­nach­ten, doch wir müs­sen wei­ter. Es folgt die elen­de, sump­fi­ge Gras­land­schaft. Däm­me­rung fällt über das Land. Wir errei­chen den Tal­schluss, über den wir vor vier Tagen auf­ge­stie­gen sind. Es ist jetzt fast düs­ter, wir schal­ten die Stirn­lam­pen ein. Ich den­ke an den schwar­zen Käfer, an den Schüt­tel­frost im Schlaf­sack, an Schlamm und Rie­sen-Lobe­li­en, an Jam Mas­ter Jay und das Glet­scher­eis. Um die­se Uhr­zeit, sagt Samu­el, gehe der Leo­pard auf Jagd. Aber er inter­es­sie­re sich nicht für die weni­gen Men­schen, die hier vor­bei­kom­men. Man sehe ihn nie. Als wir das Camp errei­chen, schaue ich auf die Uhr: 20.46. Wir sind vier­zehn Stun­den mar­schiert.

Noch eine unge­dusch­te Nacht im Zelt, noch ein­mal Por­ridge, Gum­mi­stie­fel anzie­hen, Ruck­sack packen. Alles klamm und star­rend vor Dreck. Noch ein­mal ein paar Stun­den lau­fen, immer abwärts nun. Hei­de, Far­ne, Bam­bus. Bald strahlt die Son­ne vom Him­mel und trock­net die Klei­dung. In den Büschen ein drei­hör­ni­ges Cha­mä­le­on wie ein Dino­sau­ri­er in Minia­tur, im Baum brüllt ein Colo­bus-Affe. Wir errei­chen die Fel­der, Häu­ser, das Dorf. Im Hos­tel von Kil­em­be war­tet die wahr­schein­lich schöns­te Dusche der Welt. Das Abend­essen schlin­ge ich hin­un­ter. Chi­cken und Pom­mes. Ohne Käfer.

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Antworten

  1. Avatar von Philipp
    Philipp

    Hal­lo Ste­pha­nie,

    Ich den­ke, ca. ‑5 bis ‑8 Grad Kom­fort­zo­ne reicht auf jeden Fall aus.

    Einen guten Trek!

    Phil­ipp

  2. Avatar von Stephanie
    Stephanie

    Hal­lo! Ich wer­de den Trek über­nächs­te Woche star­ten, was mei­nen Sie: muss der Schlaf­sack wirk­lich bis ‑15°C in der Kom­fort­zo­ne haben?

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