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Ähnlich wie bei der weltbekannten Christus-Statue von Rio wacht auch in Tiflis eine gewaltige Plastik auf einem schroffen Felsen über das Schicksal der Stadt unter ihr. Es ist die gut gebaute „Mutter Georgiens“. Bezeichnend: die Tiefstrahler zu ihren Füßen hängen schräg an einem verrosteten Eisengerüst.
Tiflis ist eine schöne Stadt. Das lässt sich nicht bestreiten und von einem der zahlreichen Hügel erkennt man das besonders gut. Hübsche Gebäude im Jugendstil säumen die Prachtstraßen, die wie Adern durch die Millionenstadt führen. Wenn man steil hinabschaut, erkennt man die typischen Holzbalkone der Altstadt und die seltsam gewölbten Dächer der Schwefelbäder, von denen schon der russische Dichter Alexander Pushkin begeistert schrieb. Überall gibt es größere und kleinere Parks, die zum Verweilen einladen. Und natürlich sind auch die vielen kleinen und großen Kirchen in ihrem georgisch orthodoxen Baustil nicht zu übersehen.
Zeitreise zu den Filmen Fellinis
In einem kürzlich erschienenen Reise-Essay vergleicht Stephan Wackwitz, seines Zeichens Leiter des Goethe-Instituts in Tiflis, die Kaukasus-Republik Georgien mit dem Italien der 1960er-Jahre – dem Italien, das Federico Fellini in seinen großen Filmen (zum Beispiel 8½) nachzeichnete. Als Historiker bin ich kein Freund von solchen Vergleichen, denn in der Regel sind sie bestenfalls falsch und im schlimmsten Fall problematisch. Als ich das Buch „Die vergessene Mitte der Welt“ zur Vorbereitung der Reise und des Interviews auf meinem Blog las, hatte ich deswegen ab dem ersten Kapitel auch ein leichtes Unbehagen.
Doch kaum spazierte ich durch die alte Bausubstanz von Tiflis, begann ich zu verstehen, was Wackwitz meinte. Wie in den Filmen Fellinis, die ja teilweise nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden waren, ist auch das heutige Tiflis eine Stadt voller Ruinen. Sie sind zwar nicht das Resultat eines mörderischen Kriegs, sondern die Folge eines wirtschaftlichen Abschwungs und jahrelanger Vernachlässigung. Aber das sieht man ihnen auf den ersten Blick nicht an.
Auch aus einem anderen Grund gleicht Tiflis diesen Filmen. Hier wie auch bei Fellini klaffen Vormoderne und Hypermoderne aufeinander: Gerade hinter der hypermodernen Stadtverwaltung befinden sich Backsteinbauten, die wohl aus der Zeit der Perserstürme stammen müssen. Tiefe Risse ziehen sich durch die schön verzierten Fassaden. Hier und da fehlt eine Wand oder das Dach ist eingestürzt. Bizarr und faszinierend wirken die Vorhänge dieser Bauten, die andeuten, dass hier noch immer Menschen leben.
Kein Geld für eine eigene Wohnung
Für die Renovation fehlt das Geld. Der Durchschnittslohn lag letztes Jahr laut Zahlen der Weltbank bei 3570 US-Dollar. Pro Jahr, wohl verstanden. Da bleibt nichts übrig, um die Fassaden frisch zu streichen oder den bröckelnden Verputz zu erneuern. In den meisten Haushalten leben Familien über mehrere Generationen zusammen, verrät mir Marishage, eine junge Georgierin, mit der ich mich schon vor der Reise per Mail ausgetauscht hatte.
Die 28-Jährige lebt in einem zentrumsnahen Holzhaus aus dem 19. Jahrhundert, zusammen mit Eltern und Großeltern. Wenn sie einmal heiratet, so erzählt sie, werde sie in die Wohnung der Schwiegereltern übersiedeln müssen. „Viele Ehen gehen in diesem Land nicht mangels Liebe kaputt, sondern wegen den schwierigen Wohnverhältnissen.“ Wohl auch ein Grund, wieso die attraktive Georgierin noch immer ledig ist.
Die Aussichten, dass Marishage bald in einer eigenen Wohnung lebt, sind schlecht. Nach Abschluss der Hochschule arbeitete die gut ausgebildete Juristin einige Jahre in einer Kanzlei. Doch das wurde ihr auf Dauer zu anstrengend. „Die Gesetze ändern praktisch jeden Tag. Ich konnte mich bei keinem Fall darauf verlassen, dass die Rechtslage ein paar Wochen später noch die gleiche war.“ Kurzerhand hängte sie die für georgische Verhältnisse gut bezahlte Stelle an den Nagel und unterrichtet nun für monatlich 200 Euro Englisch.
Die bizarre Ästhetik des Verfalls
Tiflis hat mich berührt. Die Stadt berührt mich, weil ich mich auch ein bisschen wie ein Voyeur fühlte. Ich richtete die Kamera nicht hauptsächlich auf die schönen Seiten der Stadt, sondern ich versuchte die Ästhetik des Verfalls einzufangen. Ich blickte durch die offenen Türen in die Korridore der Mehrfamilienhäuser, lichtete die Treppenhäuser ab, die den früheren Glanz der Wohnungen erahnen lassen. Ich machte Nahaufnahmen vom bröckelnden Verputz. Der Zerfall fasziniert mich. Vielleicht weil er die Geschichte der Stadt so authentisch werden lässt.
Tröstend ist, dass es mit dem Land nach Jahren der Stagnation endlich wieder aufwärts geht. Die Wirtschaft wächst seit einigen Jahren und auch der Tourismus gewinnt rasch an Fahrt. Bereits wurden in einigen Stadtteilen ganze Straßenzüge renoviert und dort lässt sich auch erahnen, wieso Tiflis einst als Paris des Ostens bezeichnet wurde. Noch, so erzählt Marishage, sind erst die Fassaden aufgehübscht worden. Die Wohnungen dahinter sind noch immer in einem katastrophalen Zustand. Aber das, so hofft sie, sei nur eine Frage der Zeit.
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Moin.
Wollt mal deine Meinung zum Thema: Mit dem Rad vom kaspischen zum schwarzen Meer hören. Ist das auf georgischer Seite grundsätzlich möglich? Sicherheitslage sollte nach den Angaben ja passen, wenn man Südossetien und Abchasien meidet! Ist campen grundsätzlich möglich?Einfach nur toll geschrieben. Schöne, poetische Fotos. Ich kann das Unbehagen gut verstehen, das der Autor beim Einfangen der »Ästhetik des Verfalls« empfindet, dass er sich »fühlt wie ein Voyeur«. Dieses Gefühl überfällt mich oft auf Reisen nach Osteuropa. Es stammt von dem Bewusstsein, aus einer anderen Perspektive auf die Stadt zu blicken. Da er dies spürt und so liebevoll über den Ort schreibt, ist der Autor kein Voyeur, sondern ein Besucher, der sich wirklich mit der Stadt auseinandersetzt. Auch die Recherche vorab zeugt davon, ebenso die interessante Geschichte von Marishage. Macht Lust, hinzufahren!
Oh, vielen Dank… 🙂
Fesches Mädel, und schönes Bokeh im Hintergrund 😉
Georgien hatte ich noch gar nicht auf dem Reise-Radar, ließe sich aber gut mit Türkei kombinieren, oder?
@Florian:
Für Dich vielleicht noch ganz wichtig: Ich hab in einer Woche weniger als 200 Euro ausgegeben – und machte zwei Tagesausflüge mit dem Taxi.
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