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„Kannst du kurz hier warten? Ich muss noch schnell pinkeln.“ sagt der junge Balinese, der mich ins Krankenhaus fahren soll. Ich nicke benommen und ziehe meine Shorts über die nasse Bikini-Hose. Den Knopf kriege ich nicht zu, meine Hände zittern zu sehr. Sie sind voller Blut. Ein Anblick, der mir nicht vertraut ist. Verletzungen, bei denen Blut floss, konnte ich bis jetzt an einer Hand abzählen und sie liegen über fünfzehn Jahre zurück – harmlose Schürfwunden vom Spielplatz. Aber jetzt schmecke ich Eisen. Das Loch in meinem Kopf scheint alles andere als harmlos zu sein. Dieses Mal fließt wirklich Blut. Wie das passieren konnte? Keine Ahnung, ehrlich. In einem Moment werfe ich mich und mein Surfboard in die Welle am Balangan Beach auf Bali, im nächsten werde ich von ihr erfasst – im übernächsten spüre ich einen brennenden Schmerz am Hinterkopf. Das Surfboard ist mir auf den Kopf geknallt. Nicht weiter schlimm, denke ich noch, passiert andauernd. Ich schwinge mich also wieder aufs Board, bereit für die nächste Welle. Nur beiläufig fasse ich mir dann aber doch an den Kopf, so als wolle ich sicher gehen, dass mir kein Vogel drauf gekackt hat.
Erst als ich das Blut sehe, verdünnt mit Salzwasser in meiner Hand, bin ich nicht mehr eins mit dem Meer, sondern kämpfe dagegen an. Ich muss hier raus, muss zum Strand, herrje, wahrscheinlich sogar ins Krankenhaus! Ich paddele unkoordiniert, versuche verzweifelt zum Strand zu gelangen. Wasser prallt in Schüben hart gegen meinen Rücken und zieht mich jedes Mal wieder mit sich, raus ins Meer. Mein Surfbrett reißt an der Leine wie ein wild gewordener Hund. Endlich eilt mein Surflehrer zu Hilfe, nimmt mir das Brett ab und untersucht meinen Kopf, die Gischt spült um unsere Beine. Ich muss mich hinsetzen, damit er gucken kann, bin ich doch ganze zwei Köpfe größer als er.
„Das muss genäht werden.“ sagt er. Alle Umstehenden starren mich an und ich versuche doch tatsächlich, mir ein Lächeln abzuringen.
„Mein Freund hier fährt dich zum Arzt!“ redet mein Surflehrer weiter und deutet auf einen halbstarken Burschen, der sich schnell ein Shirt überwirft – mein Helfer in der Not.
Während der nun auf dem Weg zum Parkplatz kurz im Busch verschwindet, stolpere ich den steinigen Hügel hinab, wo der 68ziger VW-Bus parkt, mit dem ich zum Strand gekommen bin. „Nein, nein, hier lang.“ ruft mein Helfer, knüpft sich die Hose zu und deutet auf ein Moped, das im Schatten einer Palme parkt. „Das ist mein Roller!“ sagt er stolz.
Die Gedanken, die mir jetzt durch den Kopf gehen, sind erstaunlich klar, wenn man bedenkt, dass mir vor wenigen Minuten ein Surfbrett auf den Kopf geknallt ist:
Soll ich auf sein Moped steigen? Oder doch auf einen Krankenwagen bestehen? Gibt es hier überhaupt Krankenwagen? Vielleicht kann ich ein Taxi rufen? Aber das wird ewig brauchen, bis es hier ist. Wie schlimm ist meine Verletzung wirklich? Aua, schlimm genug. Okay. Hat er überhaupt einen Helm dabei?
Nein, hat er nicht. Trotzdem startet er jetzt den Motor und ich soll hinten drauf. Ein stechender Schmerz fährt mir durch den Kopf, ich springe auf, sende ein Stoßgebet gen Himmel. Gott, wenn du mich hier heil raus bringst, verspreche ich dir, dass ich diesen Blödsinn in Zukunft sein lasse! Und ich weiß genau, was ich mit „diesem Blödsinn“ meine. Seit einer ganzen Weile schon. Ich meine diesen Blödsinn, mich selbst finden zu wollen, indem ich in fremde Länder reise, von deren Sprache und Kultur ich keine Ahnung habe. Diesen Blödsinn, mich austesten zu wollen in Situationen, denen ich nicht gewachsen bin. Diesen Blödsinn, vor meinem Leben davonzulaufen und flüchtige Begegnungen zu feiern, anstatt langfristige Beziehungen aufzubauen.
So bin ich auch hier gelandet, in einem Surfcamp auf Bali, wo ich „den Traum“ leben wollte. Welchen Traum? Na, den Traum. Den Traum, den wir alle haben, an schlechten Tagen, wenn wir in einem grauen Büro vor unserem Computer sitzen und anfangen, Bilder vom Paradies zu googeln. Dann träumen wir davon, einfach abzuhauen, auszubrechen aus der Routine, ein neues Leben anzufangen; surfen, tauchen oder segeln zu lernen und dort zu arbeiten wo andere Urlaub machen. Diesem Traum tatsächlich nachgeben, das machen die wenigsten – was wohl der Grund dafür ist, dass mich viele meiner Freunde für mutig halten. „Du hast alles richtig gemacht,“ höre ich häufig.
Pustekuchen. Nichts an dieser Situation ist richtig. Alles ist so verkehrt wie es nur verkehrt sein kann. Ich war noch nie ernsthaft verletzt. Ich war noch nie in der Notaufnahme. Und jetzt bin ich schnurstracks auf dem Weg dorthin, auf dem Rücken eines rostigen Rollers, den ein balinesischer Surferboy durch die chaotischen Straßen steuert, während mein Blut auf sein weißes Shirt tropft. Tatsächlich formuliere ich genau diesen Satz in genau diesem Moment, bastele in Gedanken schon an der Story, die dieses Erlebnis einmal werden wird. Und ich erinnere mich an einen Unfall, der letzte Woche passiert ist. Einer der Surflehrer war von einem Roller genau wie diesem hier gestürzt und hatte sich dabei den Kiefer gebrochen und sechs Zähne ausgeschlagen. Er landete in einem lokalen Krankenhaus und die hygienischen Zustände, die dort herrschten, waren so bedenklich wie die auf einem öffentlichen Klo am Bahnhof Zoo.
Davor habe ich Angst.
Mein Helfer ( ich kenne immer noch nicht seinen Namen) parkt jetzt den Roller in der Einfahrt eines Kiosks. Wenn das hier das Krankenhaus ist, möchte ich lieber gleich sterben, denke ich. Und ein Krankenhaus ist es auch nicht, aber eine Arztpraxis. Wir gehen rein und ich denke sogar daran, mir die Schuhe an der Türschwelle auszuziehen. Mein Helfer spricht auf Indonesisch mit einer Dame in weiß, die mir dann gestikuliert, mich auf eine Liege zu setzen. Dann folgt der Moment, in dem ich nicht mehr anders kann: Ich fange bitterlich an zu weinen, als sich die Ärztin über mich beugt, meinen Kopf begutachtet und dann mit weit aufgerissenen Augen ihren eigenen schüttelt. Und auch wenn ich sie nicht verstehe, verstehe ich doch was sie sagt:
„Ach du Scheiße. Nee, nee, nee, da kann ich nix machen. Die muss sofort in ein richtiges Krankenhaus.“
Mir ist schwindelig. Ich habe nicht die Kraft, auf einen Krankenwagen oder zumindest auf ein Taxi zu bestehen. Die wilde Fahrt geht also weiter. Meine Tränen trocknen im Fahrtwind, hinterlassen salzige Schlieren auf der Haut. Ich kralle mich fester ans weiße Shirt, will nur noch nach Hause. Aber das geht jetzt nicht.
Über dem Eingang steht „Emergency Room“ – es ist ein westliches Krankenhaus. Drinnen spricht man trotzdem nur gebrochen Englisch, mein Helfer übersetzt. Dann geht alles ganz schnell. Im Handumdrehen liege ich auf einem Operationstisch, der nur durch dünne Vorhänge vom nächsten getrennt ist. Eine Krankenschwester rollt scheppernd ein Metalltischchen mit medizinischem Instrument um die Ecke, ich werfe einen Blick drauf, sieht relativ sauber aus, aber was weiß ich schon? Dann schiebt man mir ein Formular unter die Nase, das meine Unterschrift verlangt und in etwa folgendes besagt:
„Wir wissen zu diesem Zeitpunkt nicht genau, was die OP kostet, aber wenn Sie wollen, dass wir weitermachen, dann müssen Sie jetzt unterschreiben.“
Ich zögere. Aber was habe ich schon für eine Wahl? Ein anderes Krankenhaus aufsuchen? Wer weiß wie weit das weg ist und wahrscheinlich machen die das da genauso. Und mal ehrlich – wie teuer kann’s schon werden? Ich unterschreibe also und die Krankenschwester wirft mir flink ein grünes Operationsdeckchen über den Kopf, der nun seitlich auf dem Tisch liegt. Mein Helfer steht neben mir, hält meine Hand, Wasser tropft noch immer von seiner Badehose. Er unterhält sich mit dem Arzt, dessen Füße ich sehen kann, weiße Plastik-Pantoffeln. Die beiden scherzen und lachen auf Indonesisch, ich spüre ein Brennen auf meiner Kopfhaut, rieche Alkohol. Ich weiß wirklich nicht, was daran witzig sein soll.
Der Arzt presst mit dem Handrücken auf meinen Kopf, setzt die Nadel an. Das Unangenehme daran, wenn dir der Kopf genäht wird, ist die Tatsache, dass du den Faden hörst, wie er durch deine Kopfhaut gezogen wird. Ich spüre die Nadel, wie sie die beiden Hautfetzen wieder zusammennäht. Stich eins. Ach, so fühlt sich das also an. Stich zwei. Hoffentlich müssen die mir nicht den Kopf rasieren. Stich drei. AUA! Hätte ich nicht eigentlich eine Narkose kriegen müssen? Stich vier. VIER Stiche?! Wirklich? Na, Gott sei Dank kann keiner die Narbe sehen. Stich fünf. Heilige Scheiße! Wann ist das endlich vorbei?
Mein Helfer tätschelt mir die Schulter. »Yeah! Du hast es geschafft. Geht’s dir gut?« „Ich will rauchen,“ sage ich, obwohl ich doch gar nicht mehr rauche. „Aber nicht hier drin,“ antwortet er und lacht. Ich setze mich vorsichtig auf, das Kopfkissen ist blutdurchtränkt, aber alle meine Haare sind noch dran. Hallelujah!
Und dann fällt’s mir endlich auf:
„Ich weiß ja nicht mal deinen Namen…“sage ich und lächele schwach.
„Ich heiße Samo. Und wie heißt du überhaupt?“
„Gesa. Freut mich dich kennenzulernen, Samo. Du bist ein echter Lebensretter.“
Und was wie eine Liebesgeschichte beginnt, endet schließlich mit einer Krankenhausrechnung von zwei Millionen Rupien, Schmerztabletten für die nächsten Tage und einer geteilten Zigarette vor der Tür, die mir nicht schmeckt. Samo besteht noch darauf, mich mit dem Roller nach Hause zu fahren, aber dieses Mal nehme ich ein Taxi.
Für heute hatte ich wirklich genug Abenteuer.
Hati-Hati… übersetzt: Immer langsam mit den jungen Pferden!
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Bin eben mehr oder weniger durch Zufall auf den Artikel gestoßen, der super geschrieben ist. Was mir jedoch eher weniger gefällt, ist, dass ich auch gerade in Indonesien bin und morgen mit Surfen anfangen wollte… 😉 … was ich auch tun werde, in der Hoffnung, dass mir nichts auf den Kopf fällt 🙂
…Upps. Also, Timo das tut mir jetzt Leid. Aber hey, lass dich dadurch nicht verunsichern. Ich bin einfach ein Tollpatsch, mir passiert sowas gerne mal 🙂
Also, hab viel Spaß beim Surfen und nur nicht gegen das Wasser ankämpfen – das ist der beste Tipp, den ich für dich habe…
Muss mich nochmal zu Wort melden, nachdem ich nun seit einer Woche schon völlig begeistert beim Surfen hängen geblieben bin 😉 Dabei habe ich auch mal ein paar Zeilen zum Surfen verfasst: http://timoaufreisen.rtwblog.de/2013/04/26/die-perfekte-welle/
Und ja… niemals gegen das Wasser kämpfen! 🙂
Horror! So einen Schock möchte man wirklich nie erleben!
Gut, dass du so einen netten »Retter« hattest, ich glaube, so etwas ist immer am wichtigsten in solchen Situationen. Das Gefühl nicht gänzlich allein da zu stehen.Auf jeden Fall, Maike! Ohne ihn wäre ich sicher aufgeschmissen gewesen.
Mensch, du machst Sachen. Gut, dass alles gut ausgegangen ist.… Aber: Ich bin mir ziemlich sicher, dass dein Surfbrett dir zwischen 12 Uhr mittag und 13 Uhr aufn Kopf geknallt ist, wa? Das ist auf Bali die Stunde des Blutgottes (ich glaube er heißt anders, aber so konnte ich es mir merken). Und der will Blut sehen. Deshalb sollte man in dieser Stunde nichts machen, was gefährlich sein könnte. Sagte zumindest unser Taxifahrer (eigtl im Hauptberuf Priester), den wir auf 12 bestellt hatten, um uns nach Ubud zu fahren. Eigentlich dürfe er uns jetzt auch nicht fahren, aber er machts, weil er so besser auf uns aufpassen kann. Und die zwei Unfälle (ja, ich hab Blut gesehen, nein, es war nicht meines, sondern u.a. das eines Mopedfahrers), die wir auf dem Weg nach Ubud gesehen haben, hat er jeweils kommentiert mit: »Ich habe es euch ja gesagt«.
Oh mein Gott, Yvonne! Es war in der Tat Mittag! Hätte ich das bloß vorher gewusst… aber wenigstens kann ich die Narbe unter meinen Locken verstecken 😉
Das erinnnert mich an meinen Krankenhausaufenthalt auf Mauritius, wo ich mich mit Durchfall und fast 40 Grad Fieber drei Tage lang am Antibiotikatropf hing. Man wollte mir unbedingt den Blinddarm rausnehmen, die Schwestern standen schon am Bett mit Rasierzeug und Clipboard, ich hätte unterschreiben sollen, was ich nicht tat, also wurde nix operiert, und nach drei Tagen war der Spuk vorbei. Ich habe meinen Blinddarm heute noch und ausserdem einen zwölfjährigen Sohn, denn zu dem Zeitpunkt damals war ich gerade mal (unwissentlich natürlich) zwei Wochen schwanger, was aber bei all den Untersuchungen dort niemand bemerkt hat. Und dabei war es noch nicht einmal eine staatliche Klinik (in eine solche brächten mich auf Mauritius keine 10 Pferde), sondern eine private. War schon eine sehr spezielle Erfahrung. (!)
Ach du meine Güte, Claudia. Das klingt nach einer schrecklichen Erfahrung. Verglichen damit war mein Ausflug in die Notaufnahme wirklich nur eine Reiseanekdote, über die ich heute lachen kann. Gott sei Dank ist bei dir alles gut gegangen!
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