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190 Meter schraubt sich der Turning Torso, Malmös Wahrzeichen, in die Höhe – damit ist er der höchste Wolkenkratzer in ganz Skandinavien. Es wundert mich, dass er so alleine dasteht, ohne Anschluss an „Malmhattan“, an die modernen Bürogebäude am Wasser. Und noch mehr wundert es mich, als ich erfahre, dass das einen guten Grund hat: Der Turning Torso ist kein Prestigeprojekt einer großen Bank, sondern ein Wohngebäude, entworfen von Santiago Calatrava, der sonst Brücken, Bahnhöfe und Museen baut, die weltweit Preise gewinnen. In diesem Kunstwerk kann man wohnen – und das sogar zur Miete und mit gutem Gewissen.
Nachhaltigkeit im Westhafen
Denn das dritthöchste Wohngebäude Europas ist nach verschiedenen Nachhaltigkeitsstandards erbaut worden, genauso wie das gesamte umliegende Wohnviertel Westhafen. Seit 2001 entsteht hier eine Art Testgrund für nachhaltige Stadtentwicklung. Die Entwicklung des Viertels verläuft anhand der Tests ganz neuer Technologien. Zunächst ging es darum, Westhafen komplett mit lokal erzeugten erneuerbaren Energien zu versorgen und die Gegend direkt am Meer sicher für Stürme und starke Regenfälle zu machen. Dafür lud man verschiedene Architekten aus aller Welt ein und schaffte es, sie im Rahmen der internationalen Bauausstellung Bo01 in direkte Konkurrenz zu setzen: Wer würde am nachhaltigsten bauen, und wer würde dies am besten und am günstigsten schaffen?
Gleichzeitig bemühte man sich darum, nicht ein Viertel voller einzelner Prestigeprojekte zu erbauen, sondern die einzelnen Immobilienfirmen gemeinsam an einen Tisch zu setzen. Anfangs war das nicht einfach, wer möchte schon mit seiner Konkurrenz kooperieren?! Doch unter dem Motto „der gute Dialog“ konnte man zeigen, dass das gemeinsame Arbeiten für alle einen Vorteil brachte.
Heute ist man schon einen großen Schritt weiter und betrachtet in den Neubauten im Westhafen nicht nur die Stromversorgung, sondern schafft ein integriertes System, das auch Heizung und Klimaanlagen einschließt. Man testet Funktionen, mit Hilfe derer die Bewohner ihren eigenen Energieverbrauch per Smartphone abrufen und kontrollieren können. In Zukunft sollen es hier 20.000 Menschen extrem einfach haben, ein klimaschonendes oder gar klimaneutrales Leben zu führen.
Die Krise als Chance
Dass Malmö heute in keinem Ranking für Nachhaltigkeit und innovative Stadtentwicklung fehlen darf, ist eigentlich einem Zufall geschuldet. Der Bürgermeister Malmös zwischen 1994 und 2013 hatte 1992 an der Konferenz der Vereinten Nationen teilgenommen, bei der unter anderem die Agenda 21 beschlossen wurde – und war davon so begeistert, dass er beschloss, Malmö zu einer Stadt der Nachhaltigkeit umzubauen. Seine Idee kam zu einem guten Zeitpunkt, denn die ehemalige Industriestadt Malmö war in den achtziger Jahren eher von Hoffnungslosigkeit und einem regelrechten Exodus der Jüngeren geprägt – in fünf Jahren waren mit der Schließung der großen Werften 30 Prozent aller Arbeitsplätze verloren gegangen.
Wo viel verschwindet, ist viel Platz für Neues – und einen Neuanfang. 1998 wurde die Universität gegründet und bekam direkt einen Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit, IT und Umweltwissenschaften. Malmö wurde die erste große Stadt in Schweden, die ihre Bewohner dazu verpflichtete, Biomüll zu trennen, und nutzte das daraus gewonnene Gas für den Betrieb öffentlicher Verkehrsmittel. Fahrradwege wurden ausgebaut, heute passiert jede vierte Fortbewegung innerhalb der Stadt per Fahrrad. Man baute Grünflächen aus und beließ es längst nicht bei den wenigen Vorzeigevierteln, sondern bemühte sich auch darum, die Plattenbauviertel am Stadtrand attraktiver zu gestalten. Die Verbindung nach Kopenhagen über die Öresund-Brücke tat ihr Übriges. In den neunziger Jahren wuchs die Stadt erstmals wieder, 2015 knackte sie die 300.000 Einwohner-Marke.
Nachhaltigkeit auf Schwedisch, das heißt, Nachhaltigkeit ein bisschen weiter gedacht. Hier geht es nicht nur um Umwelt, sondern auch um Soziales, und das auf vielen verschiedenen Ebenen. Im Westhafen liegt ein Altenheim neben einem Studentenwohnheim, insgesamt muss es im Viertel immer einen gewissen Anteil an Mietwohnungen geben – so möchte man garantieren, dass möglichst verschiedene Bevölkerungsgruppen Tür an Tür miteinander leben. Der Biomüll für die Gasaufbereitung wird in der Gegend mit Schläuchen aus unterirdischen Sammelbecken gesaugt – nicht nur, weil es praktisch ist, sondern auch, um den Müllmännern eine angenehmere Arbeitsumgebung zu bieten.
„Malmhattan“ – offen für alle
Ein Stück weiter, aber auch am Meer, liegt Malmös neues In-Viertel Malmö Live. Man betritt es über eine Brücke, auf der tatsächlich klassische Musik läuft, die extra hierfür von einem Orchester eingespielt wurde. Dahinter schließt sich ein Weg an, in dessen Steinplatten in verschiedensten Sprachen Texte über das Meer eingraviert sind. Der Kern von Malmö Live, der gleichnamige Gebäudekomplex, ist Konzertsaal, Hotel und Kongressgebäude in einem – und möchte zusätzlich eine Art öffentlichen Raum darstellen, der von jeder und jedem genutzt werden kann. Und tatsächlich, man fühlt sich hier nicht fehl am Platz, wenn man einfach spazieren geht oder sich kurz auf einen der bequemen Sessel fallen lässt.
Draußen kann man entspannt auf den Treppen am Wasser sitzen. Hier fällt mal wieder auf, wie jung Malmö ist – fast die Hälfte der Einwohner ist jünger als 35. Und wie hip – mit so gut wie jedem, den ich hier sehe, wäre ich auf den ersten Blick echt gerne befreundet. Je länger ich in der Stadt bin, desto mehr frage ich mich, ob daran nicht irgendetwas faul sein muss, zu schön, um wahr zu sein. Gebäude wie Malmö Live mögen jedem offen stehen, doch ist es letztendlich nicht so, dass sich trotzdem nur ein bestimmter Teil der Stadtbevölkerung hier wiederfindet? Kann so schicke moderne Architektur, unterlegt mit Orchestertönen und dekoriert mit weltmännischen Sprachspielen, wirklich alle Menschen anziehen – oder fühlen sich manche davon nicht umso stärker abgeschreckt? Eine Frage, die sich in zwei Tagen Malmö wohl kaum beantworten lässt.
Ab nach Rosengård!
Möglich ist jedoch ein Abstecher in einen Teil von Malmö, der vollkommen anders aussieht und in dem sich wohl auch vollkommen andere Menschen wiederfinden. Die Plattenbausiedlungen am Rande Malmös sind in Schweden und wohl auch in ganz Europa eher weniger für Nachhaltigkeit und Innovativität bekannt, sondern werden mit Schießereien, Bandenkriminalität und hoher Arbeitslosigkeit in Verbindung gebracht – allen voran wohl Rosengård.
So wie viele weitere Wohnsiedlungen wurde Rosengård am Rande Malmös in den sechziger und siebziger Jahren im Rahmen des „Millionenprogramms“ der schwedischen Regierung gebaut. Wohnungsmangel führte zu schnell errichteten Plattenbauten, die häufig von schlechter Qualität waren und sich isoliert am Stadtrand befanden. Im Verlauf der Zeit wurden die Wohnungen in den Millionenprogramm-Vierteln immer unattraktiver und schließlich zu einem Sammelbecken für Familien, die sich das Wohnen in anderen Gegenden nicht mehr leisten konnten.
Rosengård ist allerdings selbst im Vergleich mit anderen Millionenprojekt-Gegenden ein Extrembeispiel. 86% der Einwohner haben einen Migrationshintergrund, 62% sind arbeitslos, nur etwa 60% schließen überhaupt die in Schweden neunjährige Grundschule ab. Zu gewaltsamen Tötungen oder Zusammenstößen zwischen Jugendlichen und Polizei kommt es hier regelmäßig, und das Problem scheint eher zu- als abzunehmen. Angeblich hat Malmö eine dreimal höhere Mordrate als London, und der Grund liegt in Rosengård. Gleichzeitig werden die rechtsextremen Schwedendemokraten immer erfolgreicher. In der Region, in der Malmö liegt, konnten sie 2014 ihre größten Erfolge verbuchen.
Zlatans Erbe
Was sucht man in so einem Viertel? Ganz einfach, das Erbe des wohl bekanntesten Einwohners Malmös. Zlatan Ibrahimovic, der Fußballstar, der seine Berühmtheit nicht nur sportlichen Erfolgen, sondern auch arroganten Sprüchen verdankt, ist hier aufgewachsen. Gegenüber der damaligen Wohnung seiner Familie liegt heute der Zlatan Court, auf dem die Kinder aus der Siedlung kicken. „Man kann einen Jungen aus Rosengård nehmen, aber man kann Rosengård nicht aus einem Jungen nehmen“, prangt über der Brücke, die man durchquert, wenn man dorthin fährt, ein Zitat von Zlatan, und auf der anderen Seite nochmal in aller Deutlichkeit: Home is where your heart is.
Dabei ist man in Malmö gar nicht allzu gut auf den Fußballnationalhelden zu sprechen. Gerade in Rosengård herrscht eher Enttäuschung darüber vor, dass Zlatan nicht mehr für seine Heimat tut. Als er anfing, für internationale Vereine zu spielen, verbrachte er kaum mehr Zeit in Malmö, und kaufte sich trotzdem im schicksten Viertel der Stadt, direkt am Strand, eine protzige Villa, die er auch noch pink streichen ließ.
Doch Zlatan hat tatsächlich – wohl eher unbewusst – ein positives Erbe für sein Heimatviertel hinterlassen: Gäbe es ihn nicht und die Orte, die an ihn erinnern, hätten wir wohl keinen Grund, nach Rosengård zu fahren. Und würden nicht feststellen, dass es hier eigentlich ziemlich hübsch und friedlich aussieht, zumindest in diesem Teil von Rosengård. So wie uns geht es dabei wahrscheinlich vielen Besuchern Malmös, eine tolle Chance für einen in Verruf geratenen Stadtteil.
Insgesamt fällt auf, dass die Stadt sich nicht gerade bemüht, diesen „Schandfleck“ zu verstecken. Im Gegenteil, schön angelegte Radwege oder neu gebaute Spielplätze sollen gerade auch Malmöer, die in anderen Stadtteilen leben, hierher locken.
„Wissensstadt“ Lund
Auch die nahe gelegene Studentenstadt Lund bemüht sich um eine innovative, nachhaltige Entwicklung. Hier gibt es ganz andere Voraussetzungen als in Malmö – auf 117.000 Einwohner kommen 47.000 Studierende. Klar, dass Wissen hier eine große Rolle spielt. Das „Science City“-Projekt der Uni soll am Stadtrand nicht nur Wohnungen für 40.000 Menschen schaffen, sondern auch einen Teilchenbeschleuniger, der mit Hilfe neuer Technologien dreißig mal mehr Kraft entfaltet als bisherige Methoden und an dem Wissenschaftler aus 15 Ländern beteiligt sind. Die bei Experimenten erzeugte Wärme soll in Zukunft unter anderem zum winterlichen Beheizen von Bushaltestellen genutzt werden.
Bisher steht man in diesem ganz neu geplanten Viertel noch auf offenem Feld, doch in etwa zehn Jahren soll alles fertig gestellt werden. In Lund wird jedoch deutlich, dass innovative Stadtentwicklung häufig auch Gegner hat – und selten ganz ohne Diskussion abläuft. Der Boden in diesem Teil der Stadt ist besonders gut, so gab es Kritik über die Pläne, so viel davon unter Bauprojekten verschwinden zu lassen. Mittlerweile wurde in Urban Gardening-Plänen ein gewisser Konsens gefunden. Noch dazu stehen hier alte Bauernhöfe, die für die Wohnungen und wissenschaftlichen Einrichtungen weichen müssen. Dabei soll jedoch auch einiges stehen bleiben – eine alte Mühle beispielsweise wird behalten und renoviert werden und in ein paar Jahren hoffentlich inmitten einer Parklandschaft zwischen den Hightec-Gebäuden stehen.
Keine Stadt ohne Probleme
Malmö und Lund, die Städte der Zukunft? Gerade in Malmö zeigt sich der Kontrast deutlich: Viele innovative Ideen, darunter einige der aktuellsten und spannendsten der Welt, stoßen auf Probleme, wie es sie in jeder großen Stadt gibt – und wohl auch immer schon gab. Das vielleicht Interessanteste in Malmö ist dabei, dass man die Stadt als ein großes Ganzes begreift und sich nicht nur bemüht, einige wenige Stadtteile vorteilhaft auszubauen. Hier steht fest, dass jedes Viertel seine eigenen Bedürfnisse hat und daher auch ganz eigene Lösungen braucht. Und dass es Zeit braucht, bis an einer Stelle erprobte Vorreiterideen auch an anderen Orten umgesetzt werden können.
Noch dazu wird Nachhaltigkeit hier auf schwedische Art und Weise durchgesetzt, nicht nur in Bezug auf Umwelt, sondern vor allem auf das Soziale. Zumindest theoretisch stehen die coolsten Gebäude der Stadt für alle offen, und man bemüht sich überall in der Stadt, die soziale Segregation, die im vergangenen Jahrhundert stattgefunden hat, rückgängig zu machen. Trotzdem lösen sich Probleme nicht innerhalb von wenigen Jahren auf, nur weil man sich spannende Architekturprojekte vor die Haustür holt.
Am Ende ist jedoch das, was zählt: Malmö und Lund arbeiten kontinuierlich an Lösungen, und beide Städte verlieren dabei zum einen nie die Kreativität, und zum anderen nie den Dialog zu den Einwohnern. Und als Besucherin kann man sich von den vielen innovativen Ideen verzaubern und vielleicht sogar inspirieren lassen.
Und direkt mitmachen – schließlich hat Malmö seit der Ausrichtung des Eurovision Song Contests 2013 auch Nachhaltigkeits-Regeln für Besucher aufgestellt. Darunter: Leitungswasser trinken, Müll trennen, zu Fuß gehen, Radfahren oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen, vegetarisch essen und lokal, bio und fairtrade kaufen.
Stadtplanung in Malmö erleben |
Das Viertel Westhafen lässt sich problemlos zu Fuß erkunden. Spaß macht es auch, sich ein Fahrrad zu mieten, mit dem man durch die verschiedenen Stadtviertel touren und ganz unterschiedliche Eindrücke bekommen kann. Wer nach diesem Artikel Lust auf die Zlatan-Tour bekommen hat, bei der man natürlich nicht nur Rosengård besucht und noch viel mehr über Zlatans Lebensweg erfährt, kann diese hier buchen. Guide Johan spricht übrigens auch sehr gut Deutsch. |
Mit der Fähre nach Malmö |
TT-Line fährt mehrmals täglich von Travemünde und Rostock aus nach Trelleborg in Schweden. Die Fährfahrt hat zwei Vorteile: Zum einen ist die Schiffahrt (und, falls ihr es schafft, euch früh aus den Federn zu quälen, der Sonnenaufgang auf dem Meer!) wirklich ein schönes Erlebnis – und es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass der Urlaub damit beginnt, dass man das Schiff betritt. Und zum anderen lohnt es sich, falls ihr vorhabt, mehr von Schweden zu sehen als nur Malmö, natürlich, das eigene Auto mitzunehmen. Die Preise unterscheiden sich je nach Tag- und Nachtfahrt und gehen von Travemünde aus hin und zurück ab 99 Euro für einen PKW und bis zu fünf Personen los. Zusätzlich gibt es bei TT-Line auch Angebote für Wochenendreisen inklusive Übernachtung nach Malmö und Kopenhagen oder Lund. |
Mehr lesen? |
Über die Fährfahrt von Travemünde nach Trelleborg hat auch Elke vom Meerblog geschrieben. Ihre Tipps für Malmö hat sie übrigens in einem tollen Artikel für einen Sommertag in der Stadtzusammengefasst. Und Sabine vom Looping Magazin zählt zwölf Dinge auf, die man in Malmö nicht verpassen darf – hier findet ihr Teil eins und Teil zwei. |
Antworten
Zwischen dem neuen Westhafen-Viertel mit dem Turning Torso und Zlatans Stadtteil Rosengard liegen wirklich Welten. Ich habe als digitale Nomadin mit Unterbrechungen drei Monate in Malmö und Umgebung verbracht und sie als eine Stadt der vielen Gegensätze empfunden. Malmö ist ein multikultureller Schmelztiegel mit den dazugehörigen Problemen), aber das macht auch den Reiz dieser Stadt aus.
Was für eine Stadt, nachhaltig in Bezug auf Umwelt und Soziales. Da kann sich mancher Stadtplaner eine Scheibe abschneiden!
Nachhaltigkeit auf schwedisch. Darüber muss man nachdenken. Am Besten, ich fahre selber mal hin.
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