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»Bosnien war einmal ein Königreich«, sagt Jasmin Hasanovic. »Wenn wir sterben, brauchen wir kein Paradies. Wir leben schon in einem.« Ich schaue Jasmin ratlos an. War das ein verklärter Rückblick auf vergangene Zeiten? Verblendeter Patriotismus? Oder trockener Humor, gebacken in Zeiten der Not mit ihrer eigenen absurden Komik?
Eigentlich kann das nur Sarkasmus gewesen sein: Bosnien, ein Paradies. Aber was weiß ich schon? Bosnien, denke ich, das war doch der erste Genozid in Europa nach dem Zivilisationsbruch der Deutschen. Der Vielvölkerstaat Jugoslawien war zerfallen, und die Fratze des Rassenhasses zeigte sich ohne Scham.
Jasmin lenkt das Auto in Richtung Süden über die breite Ausfallstraße. Sein Name gehört hier nicht den Frauen, sondern den Männern. Der Bosniake ist ein stämmiger Typ. Glatze, abgebrühtes Lächeln. Nicht fies, eher leicht melancholisch. Auf seinem T‑Shirt steht kein Name einer Metal-Band, sondern »I love Budapest«.
Wir sind unterwegs in der Stadt, die neben Srebrenica wie keine andere für das Grauen des Bosnienkrieges in den neunziger Jahren stand: Sarajevo. Die belagerte Stadt. Wo der Tod vor der Haustür wartete. Wo die Kugeln in die Kinderzimmer flogen.
»Im Krieg wirst du schnell erwachsen«, sagt Jasmin. »Ich war damals zwölf, aber eigentlich war ich schon zwanzig.«
Damals – das war, als serbische Milizen, die Tschetniks, ihre Geschütze auf den Hügeln rund um die Stadt postierten und die bosnischen Muslime von der Außenwelt abschnitten. Als die Welt abends vom Sofa durch den Fernseher auf den Balkan schaute. Sarajevo war 1425 Tage eingekesselt, die längste Belagerung einer Stadt im 20. Jahrhundert.
Sarajevo: ein Name, der tonnenschwere Gewichte trägt. Sein Klang ist immer noch bedrückend, zumindest für einen Reisenden, der nur die Geschichten von damals kennt. Sarajevo, ein Name so aschgrau wie das Gesicht einer trauernden Mutter.
Doch die Zeit näht alle Wunden mit beharrlicher Nadel. Sarajevo heute: eine moderne Sightseeing-Metropole. Der Krieg ist vorbei. Aber er ist trotzdem noch da. Er hat die Fassaden der Häuser versehrt und die Erinnerungen der Menschen.
Wo Scharfschützen einmal Brustkörbe ins Visier nahmen, hängen heute Blumenkästen vor den Fenstern. Ich bin mit Jasmin in den Vorort Butmir gefahren, südlich des Flughafens gelegen. Viele Häuser hier sind frisch gestrichen, Himbeeren und Rosen blühen in den Vorgärten. Schuppen, Gewächshäuser, Wäsche an der Leine, ein Hund bellt: die Idylle der Peripherie. Kein Mensch ist zu sehen. Ab und zu tuckert ein Auto vorbei.
Wir halten vor einem Haus, das komplett unscheinbar aussähe, wären da nicht die vielen Einschusslöcher auf der Fassade. Dazu schäbiger Putz, vernagelte Fenster. Dies ist das Tunnel-Museum, Adresse Ulica tunneli 1, von außen sieht es aus wie ein geplündertes Bauernhaus. Doch ohne das umkämpfte Gebäude würde es das Sarajevo von heute so nicht geben. Hier lag der Eingang zum »Tunnel des Lebens«. Der Name ist verdient.
Der Flughafen von Sarajevo war am Anfang der Blockade der schwächste Punkt des Belagerungsrings und ein Korridor nach draußen. Wollten die Menschen aus der Stadt oder wieder hinein, mussten sie vierhundertfünfzig Meter über das Flugfeld sprinten. Das wurde »fast zu einer sportlichen Disziplin«, steht auf einer Museumstafel. Die UN übernahm den Flughafen 1992 von den Serben, was die Belagerung keineswegs beendete. Zwar wurde eine Luftbrücke eingerichtet, doch der Transfer von Truppen und Zivilisten über das Flugfeld blieb streng verboten. Und so fingen die Bosniaken an, einen Tunnel zu graben.
Vier Monate und vier Tagen schufteten die Männer fast ohne Pause: Sie schweißten Metallstreben in Sarajevos Fabriken, schlugen Bäume in den Wäldern außerhalb der Stadt, legten Starkstrom- und Treibstoffleitungen. Soldaten, Waffen, Munition, Medikamente, Lebensmittel, die Kriegswährung Zigaretten: Alles gelangte durch den Tunnel in die Stadt.
»Für vier Stangen Zigaretten konnte man in der Stadt ein Fahrrad kaufen«, erinnert sich Jasmin. Er selbst beschaffte sich feine Marlboros im Holiday Inn, dem Hotel der Krisenreporter, und verkaufte sie in der Stadt mit Aufschlag weiter. Andere legten die Geschäfte offensichtlich breiter an: »Es gibt ungefähr dreißig Multimillionäre in Sarajevo, von denen einige im Krieg reich wurden. Viele hatten ein großes Interesse an der Belagerung.« Hunderttausende eingeschlossene Menschen waren ein profitträchtiger Markt. Was bedeutet schon dreifacher Preis, wenn es am Nötigsten fehlt? Was, wenn es morgen nichts mehr gibt?
Ich steige hinunter in den Tunnel, von dem heute noch fünfundzwanzig Meter für Touristen geöffnet sind. Das Herz des Museums sieht aus wie ein gewöhnlicher Bergwerksschacht. Längst ins Erdreich gezogen sind Schweiß, Tränen, Blut, Adrenalin und Todesangst, die hier einmal das Mikroklima bildeten.
Im übrigen Museum sind Relikte des Krieges ausgestellt: ein Fahrrad; ein Generator; alte Tretminen; der rostige Lastwagen des »crazy driver«, der die Menschen vom Tunnel weg in die Berge brachte, nachts und ohne Licht; ein Lorenwagen, in dem die Verwundeten transportiert wurden; das ungeliebte Dosenfleisch ICAR der Amerikaner, noch aus Zeiten des Vietnamkriegs, dem in Sarajevo ein ironisches Denkmal errichtet wurde. »Das haben nicht einmal Hunde gegessen«, sagt Jasmin.
Eine Dokumentation zeigt Geschäftsleute mit Hut, Mantel und Aktentasche, die über Straßen spurten, um nicht erschossen zu werden: Kriegsalltag damals, surrealer Irrsinn.
Solche Szenen sind weit weg, wenn man heute durch Sarajevo spaziert. Keine Gefahr geht aus von dieser Stadt. Auch erfolgt die Anreise nicht mehr durch einen Tunnel, sondern ganz convenient mit der Lufthansa ab München oder Wien.
Eine bosnische Kollegin hatte mir vor der Reise versprochen: Du wirst herzensgute Menschen treffen. Sie hat nicht übertrieben. Im Flugzeug komme ich mit Jasmina ins Gespräch, einer Architektin, die in Wien einen Kongress besucht hat. Wo ich hinmüsse, fragt sie. In die Altstadt, wo alle Reisenden übernachten. Ihre Tochter könne mich mitnehmen, sagt sie, die hole sie nämlich ab, da könne ich mir das Geld für das Taxi sparen. So persönlich habe ich mir den Empfang nicht vorgestellt.
Auch Jasmina floh während der Belagerung durch den Lebenstunnel, mit ihren zwei Kindern. «Es war sehr eng.« Das weiß sie noch. Meine unbeholfene Pauschalfrage: Wie ist das Leben heute in Bosnien? Puh. Jasmina überlegt kurz, während ihre Tochter das Auto durch die Nacht lenkt. Es komme nichts voran. »Wenn im Fernsehen auf einem Sender Fußball läuft und auf dem anderen die Politiker reden, dann entscheide ich mich für Fußball.« Die adrette Frau sieht nicht aus wie ein Fußballfan.
Wer Sarajevo betritt, die Stadt in sich aufnehmen will, der beginnt auf dem Bascarsija-Platz mit dem Sebilj-Brunnen in der Mitte. Ein einzelner Baum, umringt von Bänken, trägt grüne Blätter. Dunkle Wolken quellen am Horizont, doch Löcher im Himmel lassen die Sonne durch. Sommerhitze will sich entladen. Großer Trubel, viele Touristen.
Manche sitzen auf Plastikstühlen in einem der Imbisse und essen Cevapi, Hackfleisch-Röllchen mit Brot und Zwiebeln, sonst nichts, der Salat ist mehr Dekoration. Oder sie durchschreiten die Menge mit Trekkingsandalen und Bauchtasche, sicher aus gutem Grund sehr eilig. Kinder jagen Tauben, ohne sie je zu erwischen. Wenn ein Mädchen sorglos Brot auf den Boden wirft, wenden sich die Hälse um. Der Mann mit der Futtertonne macht ein großartiges Geschäft. Heiteres Durcheinander.
Modegeschmack heißt für die bosnischen Männer, teure Markenstücke irgendwie zu kombinieren. Wichtig ist, dass etwas wie Armani auf dem Shirt steht. Plakative Statusberichte auf dem Weg nach oben, baldigen Erfolg ankündigend.
Ich sitze da in der Sommerhitze und trinke Kaffee – der ist wichtig hier. Drei Rituale kennt der Tag in Sarajevo, erklärt mir eine Bosnierin: Morning coffee, gossip coffee, fuck off coffee (Man verdünnt nur noch mit Wasser, um dem Gegenüber zu zeigen: Es ist Zeit zu gehen).
Starbucks gibt es hier nicht, denn keiner will Kaffee im Pappbecher, den man verhuscht und abwesend im Gehen trinkt. Man will am besten sitzen und plaudern, zumindest aber sitzen. Ich habe das Privileg, für mich zu sein und doch in Gesellschaft. Merak, sagen sie hier, kaum zu übersetzen. Es heißt so etwas wie: den Moment genießen.
Rund um den Bascarsija-Platz im osmanischen Altstadt-Viertel erinnert Sarajevo tatsächlich an Istanbul. In der Fußgängerzone mit Fassaden im Gründerzeitstil, keine zehn Minuten entfernt, ist es Budapest. Weiter im Süden drückt sich die sozialistische Vorstadt-Architektur grau gen Himmel. In Sarajevo spaziert man durch Jahrhunderte, die große Reiche schufen und wieder zerfallen ließen. Die Stadt an der Miljacka altert stromaufwärts. Ich laufe in zwei Richtungen durch die Geschichte.
Die Osmanen kamen im 15. Jahrhundert und brachten den Islam auf den Balkan. Sie errichteten die Kaisermoschee, noch heute Sitz des bosnischen Großmuftis; die Karawanserei mit dem alten Baum im Hof; und die Altstadt, grob gemauerte Häuser, Aufbauten aus Holz, darüber Schrägdächer mit roten Schindeln, in den kleinen Läden Kupferservice, wohin man auch schaut. Aus dem Dorf wurde damals eine Stadt. Ihr Name geht auf das türkische Wort saray zurück, für Palast. So sah der Stadthalter wohl seine Ansiedlung.
Die k.u.k. Monarchie verwebte Sarajevo mit den Geschicken der europäischen Großmächte: Bosnien ging 1878 an Österreich-Ungarn. Büchereien entstanden in Sarajevo, Schulen, Theater, eine Universität, die erste Tram Europas. Ich setze mich in den verblassten Schatten dieser Epoche, ins elegante Hotel Europa, und trinke im Saal im Erdgeschoss einen Kaffee. Mittlerweile heißt die feine Adresse Hotel Europe, klingt internationaler.
Europa, welche Pracht! Und welche Abgründe. Das Völkersterben des Ersten Weltkriegs nahm in Sarajevo seinen Anfang – durch einen Schuss. Der serbische Extremist Gavrilo Princip ermordete auf der Lateinerbrücke den österreich-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand, und wegen einer völlig wahnwitzigen Bündnispolitik der Großmächte stand bald ganz Europa in Flammen. Die Donaumonarchie ging ebenso unter wie das Osmanische Reich. Sarajevo hat die fremden Mächte abgeschüttelt und gleichermaßen in sich aufgenommen.
An das folgenreiche Attentat von 1914 erinnert eine Steintafel, die man leicht übersieht. Das angeschlossene Museum ist etwas bemitleidenswert. Autos brettern vorbei, geschichtsvergessen, wie mir sinnloser Weise scheint, und die Miljacka schleppt sich als dürrer Strom durch hitzeschwere Luft.
Und wohin strebt der Zeitenfluss in Sarajevo? Nach Mekka, fürchten manche. Die Saudis investieren kräftig in die Stadt. Sie kaufen Land, ziehen Villen hoch.
Den 74 Meter hohen Wolkenkratzer in Sarajevos City mit dreistöckiger Mall und Luxushotel hat die saudische Al-Shiddi-Gruppe gebaut, für 50 Millionen Euro. Im Nordosten der Stadt entsteht eine gated community für reiche Saudis, Emiratis, Kuwaitis und Kataris. Der Herrscher Ras al-Khaimahs, Scheich Sa’ud ibn Saqr al-Qasimi, hat in den Bergen oberhalb der Stadt das »Sunnyland« errichten lassen, ein Ausflugsareal mit Sommerrodelbahn.
Die Golfaraber, Bewohner der Wüste, schätzen das muslimische Sarajevo für ihre Glaubensbrüder – und für die frische Luft, das satte Grün in den Hängen. Das arme Bosnien ist außerdem lächerlich günstig für sie.
Der Einfluss der neuen Gäste vom Golf ist in Sarajevo nicht zu übersehen. Die Wasserpfeife erlebt seit wenigen Jahren eine Renaissance, sehr zu meiner Freude. Überall kann man nargile rauchen, bekommt dann aber meist kein Bier. In meinem Hotel gehen Männer in Dishdasha und voll verschleierte Frauen ein und aus. Die Araber sind nicht unwillkommen in der Stadt, denn sie bringen Geld, und das zählt erst einmal. Aber sie treten oft auf wie neue Herren.
Auf dem Bascarsija-Platz bückt sich eine Frau im Niqab hinunter zu den Tauben, am Arm eine Designerhandtasche. Andere arabische Frauen tragen nur Kopftuch, zu riesigen Luxus-Sonnenbrillen, als müssten sie sich auf dem Weg ins Café prominentengleich vor Paparazzi verstecken. Ein arabischer Tourist schiebt einen Kinderwagen, darin aber nur Einkaufstüten. Der Junge muss laufen. Viele arabische Männer haben ihre traditionelle Tracht in der Heimat gelassen und sehen nun aus wie Beach Boys: dünne Ärmchen in grellen T‑Shirts. Die Söhne neben mir am Tisch schauen verwöhnt und unbefriedigt. Zur Bedienung sagen sie nicht bitte und danke, sondern »Ketchup!« Sie spucken nur einzelne Worte aus wie verdorbenes Fleisch.
Viele Araber sind natürlich harmlos und nett. Sie bringen bloß mit, was die meisten anderen Touristen auch im Gepäck haben: eine erfreulich pralle Reisekasse, eine Portion Unbeholfenheit und ein paar krude heimatliche Überzeugungen, über die man als Einheimischer nur milde den Kopf schüttelt. Aber ein paar Dinge laufen in Bosnien schon grundsätzlich anders als auf der arabischen Halbinsel.
Die Araber seien die schlimmsten, erzählt Amina, eine junge Bosnierin mit Kopftuch und riesigen, strahlenden Augen. Sie könnten nicht kommunizieren und würden sofort anzüglich, als wüssten sie nicht, wie man sich einer Frau nähert, die ihnen nicht zugewiesen wurde. Ob sie mit der Hand manchmal an sich heruntergehe, solche Dinge fragten die Typen gleich im dritten Satz. Indiskutabel sei das und ein ziemliches Trauerspiel. Ein Kuwaiti, erzählt Amina, habe sie allen Ernstes auf der Stelle heiraten wollen, wegen der Augen. Sie habe nur gelacht. »Ich trage mein Kopftuch aus Überzeugung«, sagt die blitzgescheite junge Frau. Wir sitzen in der Altstadt bei einer Wasserpfeife zusammen.
Amina hat sich das Englisch selbst beigebracht, im Gespräch mit Touristen. Sie arbeitet für eine Forstfirma, Logistik. Sie hat also Glück gehabt. Die Perspektiven für junge Leute sind schlecht. Es gebe da einen Witz. Warum ist der Kaffee in Bosnien so gut? Weil er überall von Studenten mit so guten Uni-Abschlüssen gemacht wird.
Amina ist sehr religiös. Für sich selbst, sagt sie, und ich habe keinen Zweifel daran. Ihre Freundinnen trügen Miniröcke und Spaghetti-Tops, alles kein Problem. Aber sie selbst spare sich auf. Kein Sex vor der Ehe und so. Würde der Vater einen Christen als Freund akzeptieren? Das könnte schwierig werden, sagt Amina. Ihr großer Bruder schaut kurz vorbei. Im nächsten Moment hat er für uns schon gezahlt und ist verschwunden.
Amina ist mit ihrer wertkonservativen Einstellung eher die Ausnahme in Sarajevo. An einem Freitagabend ist Partyvolk auf den Straßen unterwegs, die Bars sind voll. In einem Park treffe ich Mia, 21, die im Moment in Wien studiert, und Amira, 22, in Nürnberg geboren, ein Jahr nach dem Krieg. Beide sind Muslime und trinken billigen Schnaps. Ramadan ist gerade vorbei, da gibt es Nachholbedarf.
Mia hat einen christlich-orthodoxen Freund. Kein Problem sei das. »Die Politiker kommen nicht klar, aber die Menschen schon«, sagt sie. Zwar könnten sich die drei Volksgruppen (muslimische Bosniaken, christlich-orthodoxe Serben, katholische Kroaten) nicht ausstehen, aber man halte es aus miteinander. Will sie nach dem Studium hierbleiben? »Der durchschnittliche Monatslohn sind 400 Euro«, antwortet Mia. Noch ein Schluck aus dem Fläschchen, es schmeckt ganz grausig. Dann brechen sie auf in die Nacht.
Es ist ein Schauspiel: Wie sich die Nacht über Sarajevo legt. Eines Abends steige hinauf zur Gelben Festung, einem beliebten Aussichtspunkt. Holzveranda, Picknicktische unter Bäumen, ein Rundweg entlang der alten Mauer des Kastells. Der Blick fällt in den Talkessel von Sarajevo, verliert sich in der Ferne.
Zuerst gehen die Straßenlaternen an. Die Sonne versinkt hinter den Hügeln im Westen, dann leuchten die Minarette. Um viertel vor neun beginnen die Muezzins mit dem Gebetsruf. Schatten übernimmt das Tal. Letzte Wolken glühen am Himmel wie die Kohle der Wasserpfeifen rund um den Bascarsija-Basar, irgendwo dort unten im Marktviertel.
Der Ruf zum Gebet ist kein Signal für Einkehr und Besinnung, es scheint mir genau andersherum zu sein: Jetzt füllen sich die Straßen, das Nachtleben erwacht, als riefen die Moscheen nicht zu einem religiösen Ritus auf, sondern zu Ausgelassenheit, zu säkularen Freuden. Dann leuchten auch alle Werbebanner und Fassadenlichter. Die Beobachter auf der Gelben Festung aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und vom Golf schauen still dabei zu, wie der Tag langsam abblendet, ohne zu Ende zu gehen.
Ein junger Amerikaner hat leider seinen travel buddy aus dem Hostel wiedererkannt und stellt jetzt lautstark uninteressante Smalltalk-Fragen. Die Penetranz des Gesprächs stört die abendliche Ruhe und steht in einem ungünstigen Verhältnis zur Ahnungslosigkeit des Sprechenden. Er ist der Bar-und-Hostel-Welt junger Backpacker entstiegen auf diesen Hügel, aber gedanklich steckt er noch bei der Frage, wo das günstigste Bier zu bekommen wäre.
Viele Traveller wissen wenig, trotz Internet und Wikipedia. Eine junge Britin beichtet mir: »Als ich nach Sarajevo kam, wusste ich nicht, dass es hier mal einen Krieg gegeben hat.«
Wer einmal in Sarajevo ist, übersieht die Spuren des Krieges nicht. Zwischen Gelber Bastion und osmanischem Viertel erstreckt sich ein Friedhof, einer von vielen in Sarajevo. Die Todestage auf den Grabsteinen berichten von Menschen, die viel zu früh starben.
Der Krieg, er hat damals die ganze Stadt erschüttert. Ich fahre mit dem Bus durch die Trabantenstädte aus sozialistischer Zeit, abseits des Sightseeing-Sarajevos. »B3« steht in riesigen Lettern auf einem Wohnturm, zehn oder fünfzehn Stockwerke hoch. An einem anderen Gebäude prangt das Loch eines Granateinschlags auf der Fassade, so groß wie ein Campingtisch. Niemand hat den Schaden beseitigt, über die Fenster kommt man nicht ran.
Jugoslawien zerbrach 1991 – aber eigentlich schon früher. Wie sagt Jasmin Hasanovic? Jugoslawien starb mit Tito. Das war 1980. Danach ging es bergab. Ein Glanzmoment: die Olympischen Winterspiele 1984. Doch die alte Bobbahn in den Wäldern oberhalb der Stadt ist verfallen und schillert ungesund in allen Farben des Schimmels. Das Café Tito, unweit des bosnischen Nationalmuseums, huldigt nostalgiereich der alten Zeit. Kriegsgerät steht im Garten, ein leichter Panzer, eine Haubitze.
Von hier ist man gleich auf der einstigen Sniper Alley. Während der Belagerung war die heutige Hauptverkehrsstraße Zmaja od Bosne ein lebensgefährlicher Ort. Serbische Heckenschützen hockten in den nahen Hochhäusern und nahmen von dort aus Zivilisten ins Visier, auch Kinder. »Warum zwei Kugeln vergeuden?«, fragte damals ein serbischer Scharfschütze die Polizei. »Wenn ich ein Kind töte, dann töte ich auch die Mutter.«
Als ich später in den Südosten des Landes reise, in die Republik Srpska, eine der zwei Entitäten mit eigener Verwaltung und eigenen Gesetzen, da höre ich die Schauergeschichten der anderen Seite: Die Muslime hätten damals Mujaheddin aus Asien angeheuert, erzählt mir ein serbischer Naturfreund. Die hätten mit abgeschnittenen Köpfen Fußball gespielt. Die Wahrheit eines Krieges hängt ganz oft davon ab, wen man fragt.
An diesen Zahlen ist wenig zu rütteln: Im Schnitt fielen während der Belagerung Sarajevos täglich 329 Granaten auf die Stadt, an einem Tag waren es sogar 3777. Am Ende wurden 11.541 Tote identifiziert, darunter 1600 Kinder. Doch was können solche Zahlen fassbar machen? Eigentlich nichts. Das dachte sich auch Jasminko Halilovic – und hatte eine Idee.
Zuerst sammelte der junge Bosnier Kriegsgeschichten von Kindern für ein Buch. Short Storys, oft nur Anekdoten, zwangsläufig lakonisch und bestürzend scharfsichtig: »Sniper killed my brother. It killed my childhood too.« Der Name des Projekts: War Childhood.
Immer mehr Kinder wollten dabei sein, manche schickten auch Fotografien von Gegenständen, die ihnen im Krieg wichtig waren. Doch die passten nicht zum Konzept des Buches. Also, dachte sich Jasminko, müsste man sie ausstellen. Und so eröffnete er 2016 das War Childhood Museum in Sarajevo, fünf Gehminuten vom Sebilj-Brunnen entfernt.
Nicht die großen Zusammenhänge werden in den Räumlichkeiten veranschaulicht, sondern die privaten Tragödien des Krieges – durch ein Kleid, eine vom Granatsplitter aufgeschlitzte Adidas-Mütze oder ein Dosenfleisch (Pâté de Boeuf). Ein Mädchen namens Meliha zeigt einen blauen Stoffhasen, der ihrem Bruder gehörte; der Junge wurde in den Armen der Mutter erschossen. Eine Emina zeigt den gefälschten Pass, mit dem sie in die Heimat zurückkehren konnte. Denisa: ein bunter Kinderzauberstab aus einem Hilfspaket. Abracabdra hätten sie damit gespielt, schreibt das Mädchen, und gehofft, dass auf einen Schlag der Krieg endet. Leider habe das aber noch lange Zeit gedauert.
»Ich habe gelernt, wie stark und widerstandsfähig Kinder sind«, sagt Jasminko, der sieben Jahre an seinem Projekt gearbeitet hat. Das Museum erzähle die Geschichte jener, die überlebten. Vom Leben soll es also berichten und weniger vom Tod.
Viele Bosniaken flohen im Krieg nach Norden, auch nach Deutschland. »Ich denke, Besucher aus Westeuropa verlassen das Museum mit dem Gedanken, dass frühere Kriegskinder heute ihre Mitbürger sind oder als Flüchtlinge in ihre Länder kommen«, sagt Jasminko. »Wenn sie verstehen, was diese Kinder durchgemacht haben, sind sie vielleicht dazu in der Lage, sie bei ihrer Integration zu unterstützen.« Hoffentlich kommt Jasminko so bald nicht nach Deutschland, denke ich, wo »die Ausländer« und »Überfremdung« in diesen Tagen wieder das wichtigste Thema sind. Es könnte ihm das Herz brechen.
Dabei hat der stille, schmale Bosnier mit den aristokratischen Gesichtszügen genug Sorgen. Die Situation in Bosnien sei weit entfernt von gut. »Politiker, die während des Krieges an der Macht waren, sind heute immer noch im Amt. Sie nutzen die Medien, um die Menschen zu manipulieren«, klagt Jasminko mir. »Die einzigen, die ihnen trauen, sind ungebildete Wähler und, traurigerweise, einige EU-Funktionäre.«
Der ethnische Riss durch das Land ist tief. Er bestimmt die Politik. Seit dem Dayton-Friedenvertrag besteht das Land aus zwei Gebieten mit eigener Legislative und Exekutive, eine absurde Konstruktion. Die Serben würden sich am liebsten abspalten. Die Kroaten fühlen sich Zagreb näher als Sarajevo. Das ist Bosnien heute: Korruption, Armut, Braindrain.
Als ich mit Jasmin Hasanovic nach dem Besuch beim Tunnel zurück in die Innenstadt aufbreche, stoppt uns an einer Kreuzung ein serbischer Polizist. Wir sind hier schon in der Republik Srpska, die Grenze verläuft südlich der Stadt. Hier im Vorort-Nirgendwo kontrolliert der Beamte nun Fahrzeuge. Ein kaputter Blinker, keine Papiere? Da wird wohl ein Bußgeld fällig, am besten in bar. An unserem Wagen kann der Polizist partout nichts bestanden. »Das Geld macht alles kaputt«, sagt Jasmin später – einer seiner Lieblingssätze.
»Es gab viele Versprechungen auf ein besseres Leben nach dem Krieg. Nichts davon wurde eingehalten, nichts ändert sich«, führt Jasmin die prekäre Situation weiter aus. Es klingt ernüchtert. »Wir verlieren die junge Generation.«
Ob die Volksgruppen noch einmal zu den Waffen greifen könnten, frage ich. Das glaubt er nicht. Die Menschen heute seien vernetzt, sagt Jasmin. Sein Bruder hat eine Serbin geheiratet, der Vater war einverstanden. »Wenn es in den neunziger Jahren Facebook gegeben hätte, wäre es vielleicht nie zum Krieg gekommen.«
Ein Freund habe auf dem sozialen Netzwerk kürzlich folgendes erklärt: »Ich habe drei Söhne. Wenn heute jemand an meine Tür käme und sagte ›Ich brauche sie für einen Krieg‹, dann würde ich den Typen erschießen.« Jasmin schweigt, als wäre dem nichts hinzuzufügen. Wie geht der alte Spruch? Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.
Auch eine religiöse Radikalisierung durch die Saudi-Araber ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Die israelische Zeitung »Haaretz« schrieb kürzlich, warum das muslimische Sarajevo der sicherste Ort für Juden in Europa sei. »Dieses Land ist eines der wenigen, die frei von Antisemitismus sind«, erklärte der Präsident der jüdischen Community der Reporterin.
Schon unter den Osmanen lebten jüdische Familien in der Stadt. Und es waren Muslime, die eines der wichtigsten Bücher des Judentums, die Haggadah, während der Besetzung durch die Nazis versteckten. Heute läuft man in drei Minuten von der Kaisermoschee zur Synagoge der Aschkenasim. Die jüdische Gemeinde wächst im »Jerusalem Europas«, wie es oft heißt.
Und so macht Bosnien irgendwie weiter als das, was es ist: ein dysfunktionales Land mit einer wahrlich sehenswerten Hauptstadt. Sarajevo ist Geschichtsbuch und Mahnmal, Multikulti-Metropole und Partystadt, Trendziel junger Globetrotter und Heimat eines liberalen und weltoffenen Islams, dessen Existenz von so vielen Hetzern in Zweifel gezogen wird. Arabischen Judenhassern sollte die Stadt ein Vorbild sein. »Wir sind Muslime, aber du kannst leben, wie du willst«, sagt Jasmin Hasanovic, bevor wir uns voneinander verabschieden.
Nein, Bosnien ist nicht das Paradies, denke ich. Aber Sarajevo ist ein kleines Wunder.
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