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Die vergangene Nacht habe ich am Flughafen Tallinn verbracht. Der eignet sich dank offener Bücherschränke, Sofas und Sitzsäcke erstaunlich gut dafür, Zeit totzuschlagen – trotzdem bin ich am nächsten Morgen ordentlich gerädert. Zwischen Flughafentoilette und Bahnsteig versuche ich, mich halbwegs wieder herzustellen, bevor ich schließlich im Abteil vor mich hin vegetiere. Es geht in Richtung Süden, nach Slowenien, in dieses kleine Land zwischen österreichischen, italienischen und slawischen Einflüssen, in dem einen so viel merkwürdig vertraut vorkommt und manches dann plötzlich doch wieder überraschend fremd.
An Schlaf ist nicht zu denken – da ist mir allein schon mein Gepäck zu gefährdet. Und das, obwohl ich ganz alleine im Abteil sitze. Paranoia lässt grüßen. Zwischen dem Versuch, irgendetwas Produktives am Laptop zu arbeiten, und dem Zähneknirschen darüber, dass an jedem Bahnhof die Stromversorgung im Zug ausfällt, versinke ich irgendwo zwischen Halbschlaf und halbwach, kein schönes Gefühl. Doch wir sind noch nicht lange unterwegs, da wache ich plötzlich aus meinem Dämmerzustand auf. Denn da draußen, direkt vor dem Zugfenster, da sind auf einmal die Berge.
Im Zug durch die Berge
Natürlich weiß ich, wie nah München an den Alpen liegt, und dass ich diese auf dem Weg nach Slowenien durchquere. Trotzdem schrecke ich hoch, als die Gipfel neben mir auftauchen, rechts und links, der Zug fährt lautlos hindurch. Vom Fuß der Berge trennen uns nur kleine Dörfer, die aussehen wie Bayern im Bilderbuch, Kirchtürme zwischen großen Bauernhäusern mit breiten Holzbalkonen. Wir biegen um eine Kurve und tauchen ein in eine Nebelwand, über der Sonne hängen plötzlich dunkelgraue Wolken, die vorher hellgrünen Berggipfel sind mit weißem Puder überzogen. Die Felswände werden immer kolossaler, immer eindrucksvoller, immer steiler. Manche scheinen vom Boden aus senkrecht aufzuragen, um dann wieder den Blick auf eine weite Ebene zu öffnen, in der Kühe grasen. Wir durchqueren das schöne Salzburg und fahren am Traum von einem Ort Bad Gastein vorbei, dessen elegante, von früheren Zeiten kündende Grand Hotels und Schlösser sich an die Berghänge ducken.
Ich ärgere mich darüber, dass ich das letzte Mal, als es mich nach Slowenien verschlagen hat, aus München mit dem Nachtbus kam. Eine Bahnreise durch die Alpen ist ein ganz besonderes Erlebnis, bei welchem der Urlaub tatsächlich schon mit dem Betreten des Zuges beginnt. Auf ein Buch oder gar einen Laptop kann man verzichten, der Ausblick ist Unterhaltung genug. Ich klebe mit großen Augen am Fenster und kann endlich verstehen, warum Leute Zug fahren, nur um Zug zu fahren. Alle Übernächtigung, aller Stress, alle Sorgen fallen von mir ab, während ich einfach nur noch nach draußen gucke.
Die Alpen: Berge und Traditionen
In den Bergen halten sich Traditionen länger als in anderen Landstrichen: Kleinteilige Strukturen, einzelne Täler und zugeschneite Pässe machen den Austausch schwierig. Noch dazu muss man sich hier stärker und vehementer gegen die Natur wehren – und kann dennoch die Lösungen, die aus dem Flachland angeboten werden, häufig aufgrund von Steilhängen oder der schlichten Unwirtlichkeit nicht nutzen. Lange Winter gaben den Menschen viel Zeit zum Basteln und Tüfteln. Und nicht zuletzt hat der Tourismus in den letzten Jahren und Jahrzehnten dabei geholfen, verschiedene Traditionen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Ich bin auf einer kleinen Mission, altes Handwerk aufzuspüren. Das ganze vergangene Jahr über habe ich immer wieder Orte besucht, die exemplarisch für eine bestimmte Branche stehen – und es schaffen, bis heute kleine Handwerksbetriebe zu erhalten. Orte, die zeigen, dass Handarbeit eben immer noch seine Berechtigung hat. Orte, an denen Menschen kreativ mit traditionellem Erbe umgehen und sich lieber auf die Ideen ihrer Vorfahren berufen, anstatt jedem neuen Einfluss hinterherzulaufen. Orte, an denen sich das Gute aus der Vergangenheit innovativ mit aktuellen Ideen verbindet.
Die Alpen sind so ein Ort: Im Allgäu tüfteln die Menschen nach dem Vorbild der »Mächler« fleißig an kreativen Lösungen. In den verschiedensten Teilen der Region wird nach Möglichkeiten gefahndet, die Umwelt zu schonen – teils mit alten, teils mit neuen Ideen. Und überall ist der Stolz auf die heimischen Traditionen zu spüren, und die Lust, sie aufleben zu lassen und mit Besuchern zu teilen.
Das elegante Bled
Das slowenische Bled ist so traumhaft hübsch, dass einem der Atem stockt. Nicht nur, dass hier ein kleiner See zwischen Bergen eingeklemmt hinter einem Dorf liegt. Es reicht auch nicht, dass über diesem Dorf eine alte Burg an der Spitze einer senkrechten Felswand aufragt. Nein, dazu kommt noch die kleine runde Insel an der Westseite, deren geringe Größe fast vollkommen von einer Kirche und der dort hinführenden Treppe eingenommen wird. Kleine Boote bringen einen hinüber, die weder durch Motor noch durch normales Rudern gesteuert werden: Das Handwerk der Männer, die die Pletnas genannten traditionellen Boote stehend mit Hilfe zwei langer flacher Paddel von Ufer zu Ufer bringen, muss mühsam erlernt werden.
Ein Gefühl wie Grand Budapest Hotel
Verständlich, dass hier in Bled bereits so manche Könige und Staatschefs residierten. Tito nahm bei Bled eine riesige Villa in Besitz. Die anderen ließen sich in den Grand Hotels nieder. Selbst heute bestehen noch einige davon – das Hotel Toplice beispielsweise, das man ob seiner prominenten Lage direkt am See kaum übersehen kann, ist mittlerweile ganze 85 Jahre alt. Man versucht, Traditionen aufrecht zu erhalten, und merkt doch, wie dies manchmal mit dem modernen Bedürfnis nach Luxus und Bequemlichkeit in Konflikt tritt. Belohnt wird das Hotel jedoch mit ungefähr 80 Stammgästen, die jedes Jahr für mehrere Wochen hier einziehen – wer sich mit diesem Gedanken im Hinterkopf beim Sitzen im herrschaftlichen Wintergarten nicht an Wes Andersons Grand Budapest Hotel erinnert fühlt und von längst vergangenen Zeiten zu träumen beginnt, muss ein Herz aus Stein haben.
Der gemütlich-elegante Ruf des Ortes, der im kleinen Slowenien nur eine kurze Autofahrt von der Hauptstadt entfernt liegt, lockt natürlich auch einheimische Tagesbesucher an. Am Wochenende quälen sich lange Autoschlangen durch Bled. »Ich nenn‹ das immer den ›Cremeschnittenstau‹ «, meint Alexandra, die aus der Schweiz stammt, aber bereits seit einigen Jahren in der Nähe von Bled lebt und mich durch den Ort führt. Cremeschnitte, oder slowenisch Kremšnite, eine mehr als mächtige Torte, die aus Blätterteig, Sahne und einer puddingartigen Masse besteht, das ist das kulinarische Wahrzeichen von Bled. Wer aus Ljubljana zu Besuch kommt, ist beinahe in der Pflicht, sich eine in den traditionsreichen Cafés rund um den See zu bestellen.
127 Nägel in Kropa
Fährt man von Bled 15 Kilometer nach Kropa, so bietet sich ein vollkommen anderes Bild. Hier ist es vorbei mit dem mondänen Spazieren am Seeufer – das Dorf ist seit dem 14. Jahrhundert für die Produktion von Nägeln bekannt. 127 verschiedene Arten von Nägeln wurden hier hergestellt. Die mit 80 Zentimeter längsten halten vermutlich heute noch Pflöcke in Venedig zusammen. Bis zu fünf Männer brauchte es, um sie herzustellen – mit einer unglaublichen Geschwindigkeit von zwei Nägeln pro Minute. Die kleinsten Nägel maßen gerade mal einen Zentimeter und wurden an die typischen Schweizer Bergschuhe gehämmert. Sie wurden sogar bis 1952 per Hand hergestellt – der komplizierte Kopf machte die maschinelle Herstellung unmöglich.
Zu großem Reichtum hat es Kropa trotz der nach halb Europa exportierten Nägel nicht geschafft. Die Häuser im Ort mögen groß sein, wurden allerdings von bis zu acht Familien gleichzeitig bewohnt. Während Männer an den größeren Nägeln arbeiteten, stellten Frauen und Kinder die kleineren her. Die Lebenserwartung lag zu Kropas Hochzeiten bei nur 35 Jahren. Obwohl die Arbeiter anders als in anderen Teilen des heutigen Slowenien nicht für Kost und Logis, sondern für Lohn arbeiteten, gab es dafür wenig zu kaufen: Das Tal, in dem Kropa liegt, ist so eng, dass das Betreiben von Landwirtschaft nicht möglich ist. Als wir morgens durch das Dorf laufen, mag ich mir gar nicht vorstellen, wie sich das Leben in früheren Zeiten angefühlt haben muss: Auch, wenn die Sonne längst aufgegangen ist und wir später im Nachbardorf im T‑Shirt sitzen, liegt das Tal im Schatten, der Atem gefriert, genauso wie die Finger.
Von den Nägeln zum Kunsthandwerk
Ende des 18. Jahrhunderts begann der Niedergang von Kropa. Zwar konnte der Abschwung durch den Bau der ersten Eisenbahnen in Österreich, deren Schienen Nägel benötigten, noch einmal aufgehalten werden – Ende des 19. Jahrhunderts war es aber endgültig vorbei. Einst eine der hoch entwickelten Industriestädte Europas, brach die Nachfrage nach Nägeln aus Eisen mit dem Aufkommen der Stahlindustrie ein. Die Menschen waren ohne Arbeit, eine Hungersnot brach aus. Die Lösung brachte das Kunstschmiedehandwerk: Von Nägeln stellten die Einwohner von Kropa auf mühevoll dekorierte Fenstergitter und andere Kunstwerke um. Auch die bekannten Drachen, die zum Wahrzeichen für die Hauptstadt Ljubljana wurden, stammen aus Kropa.
Liebeslebkuchen in Radovlijca
Radovlijca liegt auf einer Anhöhe, die Bled vom Tal von Kropa trennt. Hier brennt die Sonne auf belebte Straßen, die von Blumen und den bereits aus Kropa bekannten künstlerischen Fenstergittern gesäumt sind. Der Kontrast könnte kaum größer sein, und passenderweise ist Radovlijca für etwas völlig anderes berühmt: Honig. Die bemalten Holzbretter, die früher als Außenwand der Bienenstöcke dienten, stehen symbolhaft für die ganze Region. Aus dem Honig stellte man unter anderem Lebkuchen her. Im Restaurant Lectar, passenderweise nach den Honigkuchen benannt, macht man das seit mehr als 180 Jahren.
Dabei sind die Lebkuchen an sich gar nicht das Besondere, sondern die Art und Weise, wie sie dekoriert werden. Die aufwändigen Kunstwerke aus roter und weißer Glasur brauchen ganze zwanzig Tage, bis sie fertig sind. Dann halten sie jedoch für die Ewigkeit: Da nur Mehl, Wasser, Honig und Gewürze verbacken werden, können sie bei richtiger Lagerung nicht schlecht werden. Wer Geld hatte, kaufte die aufwändig dekorierten Süßigkeiten zu besonderen Gelegenheiten und verschenkte sie an seine Liebsten. Besonders begehrt waren dabei die Lebkuchenherzen, in deren Mitte ein kleiner Spiegel angebracht war – sie galten als Liebesbeweis und bedeuteten, unschwer zu erraten: »Du bist in meinem Herzen«.
Früher war die Lebkuchenherstellung reine Männersache, heute arbeiten vier Frauen im Keller des Restaurants. Ich könnte stundenlang zusehen, wie die filigranen Muster auf die Kuchen aufgetragen werden – und trotzdem finde ich es irgendwie absurd, Essen über so einen langen Zeitraum aufzuheben. Andererseits, früher wurde schließlich auch Spielzeug aus Mehlmischungen hergestellt. Und wer die Lebkuchen wirklich essen möchte, für den werden auch weniger steinharte unter dem Zusatz von Ei hergestellt.
Rund um Bled
Wer Bled nur als Sommer-Seeoase kennt, sollte sich ruhig einmal in den umliegenden Dörfern umgucken. Ich war erstaunt davon, wie viele verschiedene Geschichten es dort zu entdecken gibt. Jedes Dorf hat seine Eigenarten, seine eigene Historie, und seine gelebten Traditionen. Und so fühlt sich ein Tagesausflug durch die Umgebung wie eine kleine Reise durch die Zeit an.
Antwort
das erste Foto ist sensationell. Danke fürs Teilen.
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