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In der spanischen Stadt Villena steigt eine der buntesten Fiestas des Landes: „Moros y Cristianos“ erinnert an den Sieg der Christen über Nordafrikaner. Das Spektakel ist eine Mischung aus Karneval, Halloween und volksreligiöser Folklore. Vor allem aber geht es darum, die Wirklichkeit auszublenden und ein anderer zu sein.
Zwischen den Zinnen, auf dem „Turm des Tributs“, blitzt ein goldener Spitzhelm hervor. Ein Feldherr verschafft sich mit breiter Brust einen ersten Überblick über die Lage, sein Panzer funkelt in der weichen Spätsommersonne. Unter ihm, als 360-Grad-Panorama, ist eine weite Ebene am Fuße des Berges San Cristóbal zu erkennen – sein neues Reich.
Die Christen, die zu seiner Armee gehören, tragen scheppernde Rüstungen aus Blech und schwere Kettenhemden; ein paar von ihnen schwenken Fahnenstangen, gelbe Fantasiewappen auf rotem Grund flattern im kühlen Wind. Die Soldaten des zukünftigen Herrschers stehen vor dem großen Tor der Burg La Atalaya. In ihre Reihen drängen sich nach und nach etwa ein halbes Dutzend Männer mit blauen Turbanen.
Es ist kurz nach elf Uhr an diesem Septembertag, der Himmel spannt sich wie ein hellblaues Leintuch über das honigfarbene alte Gemäuer, die staubtrockene Luft duftet nach Piniennadeln – und wie es scheint, haben die gottesfürchtigen spanischen Ritter die Burg in Villena bereits jetzt ohne nennenswerte Verluste eingenommen. Zumindest unterhalten sich die Christen friedlich mit ihren Feinden, den Mauren, gegen die sie in einer knappen Stunde, wenn die Glocke der erzdiakonischen Kirche Santiago Zwölf schlägt, noch ein letztes Mal kämpfen müssen, um das „Castillo de los Pies Negros“, wie die Burg auch heißt, mit ihren laut knallenden Pistolensalven endgültig von den nordafrikanischen Eindringlingen zurückzuerobern.
Es ist ein intensiver, von außen nur schwer nachvollziehbarer Dauerrausch, der die etwa 35.000 Einwohner der Stadt Villena in der Provinz Alicante jedes Jahr erfasst, wenn das Festival „Moros y Cristianos“ stattfindet. Sechs Tage dauert es, in ganz Spanien ist es bekannt. Bis zu 15.000 Menschen nehmen an Prozessionen teil, die vom frühen Morgen bis in die hereinbrechende Nacht dauern und mit einem Feuerwerk enden. Bei den Mauren gibt es sieben Untergruppen, die jeweils kleine Einheiten für die Paraden stellen: Es gibt die Moros Viejos, die Moros Nuevos, die Bando Marroquí, die Moros Realistas, Moros Nazaríes, Moros Bereberes und die Piratas. Auch die Christen bieten sieben Festvereine auf, sogenannte „comparsas“: Estudiantes, Marinos Corsarios, Andaluces, Labradores, Ballesteros, Almogávares und die Cristianos. Bei diesen vierzehn Gruppen sind fast alle Bewohner Villenas Mitglieder, entweder aktiv oder passiv, die meisten schon seit dem Kindergartenalter.
Nach jedem Fest beginnen alle „bandos“ von neuem mit den Vorbereitungen für das nächste Spektakel im kommenden Jahr: Sie nähen Kostüme, wählen einen Anführer, tüfteln an Choreographien, proben Musikstücke. Das Leben in Villena dreht sich daher nicht nur an sechs Tagen, sondern fast das ganze Jahr über um dieses eine große Volksfest. Die meisten Touristen, die anreisen, um mitzufeiern, sind Spanier, darum ist „Moros y Cristianos“ für Ausländer wie mich eine gute Gelegenheit, in eine traditionelle Welt einzutauchen, ohne andere Deutsche, Holländer, Engländer, welche im Urlaub oft lieber unter sich bleiben, die Strände am Mittelmeer wie Trupps überrennen, kein Interesse an Kultur haben und die Einheimischen zu Tode nerven. So fremd wie deutsche Residenten beispielsweise den verschlossenen, doch recht provinziellen Mallorquinern bleiben, fühle ich mich in Villena nicht. Ich werde oft angesprochen, keiner distanziert sich von mir, weil ich Deutsche bin.
Für Fernando beginnt die Party schon vor dem offiziellen Start. Ein gerade gekauftes Baguette ist sein imaginärer Taktstock. Gegen zehn Uhr am ersten Tag der Feierlichkeiten mimt der 42-jährige Spanier den Vortänzer einer Gruppe. Vor einer „Panaderia“, einer Bäckerei, dreht er den dünnen langen Brotlaib mit der rechten Hand in der Luft, zuerst vor dem Bauch, dann hinter dem Rücken. Am Ende lässt er das Weißbrot von einer Hand zur anderen wandern, wie ein Jongleur. „Olé“ ruft Fernando, dann umarmt er einen Laternenpfahl, den er mit einer schönen Frau zu verwechseln scheint und verknotet seine Beine wie ein Schlangenmensch im Varieté.
Fernando, der entweder ein Säufer oder ein Psychotiker ist, verzieht bei seiner kleinen Privatvorführung keine Miene. Dieses Fest ist für ihn kein kindisches Vergnügen, es handelt sich um eine ernste Sache. Anfangs bin ich peinlich berührt von seiner skurrilen Darbietung. Doch die wunderlich-würdevolle Art dieses Mannes und die ernsthafte Begeisterung der Teilnehmer am Festzug, die am Nachmittag eine Marienfigur durch die Stadt tragen, haben etwas Ansteckendes. In den kommenden Stunden und Tagen werde ich mich immer stärker mitreißen und schließlich einfach treiben lassen – wie alle anderen auch.
Die Mauren sind bei den katholischen Spaniern erstaunlicherweise beliebter als die Christen. „Ihre Kostüme sind farbenfroher und sie tanzen einfach besser“, sagt Maria, die am zweiten Tag auf einem der harten Plastikstühle am Straßenrand sitzt und auf die „Gran Entrada“, den großen Einzug, wartet. Um punkt Zwölf gab es eine Ansprache des Bürgermeisters, der auf dem Balkon des Rathauses die Gäste willkommen hieß; die lokale Musikgruppe gab die Hymne des Festes zum Besten, einen forschen, gleichzeitig wehmütigen Paso Doble. „Es war super“, sagt die 61-jährige Hausfrau und rückt hinter der roten Absperrung aus Stoff ihren dunkelblauen Faltenrock über den Knien zurecht. Schon fast eine Stunde, seit zwei Uhr am Mittag, harrt sie auf dem Stuhl aus, in der vorderen Reihe an der einzigen Hauptstraße, die durch Villena führt. Und genau dort wird Maria auch sitzenbleiben bis um 16 Uhr die erste Parade beginnt und danach, so lange sie noch kann, „bis elf Uhr nachts stehe ich das bestimmt durch“, meint sie.
Freunde und Verwandte versorgen die älteren Zuschauer in den Stuhlreihen mit Getränken und Tapas. Kinder rennen auf die Straße, sammeln Süßigkeiten und Konfetti vom Boden auf. Ehrengäste sitzen auf Tribünen in Kurven, die mit Blumen und weinroten Vorhängen geschmückt sind. Ab und zu stehen die jüngeren Sitzenden während des stundenlangen Umzugs auf, laufen zu Imbissständen oder holen sich ein Bier in einer Bar. Auf den Balkonen hissen Bewohner die spanische Flagge, manche staunen, andere singen. Wie lange die Menschen den Prozessionen zusehen und mit welcher Begeisterung sie kleine Kunststücke auch in den späten Abendstunden beklatschen, finde ich ebenso bewundernswert wie das Durchhaltevermögen der Marschierenden.
Besonders viel Applaus bekommen die Piraten. Manche haben sich braune Rauschebärte angeklebt oder buschige Augenbrauen, andere sind mit Lidschatten geschminkt, einige besonders Verwegene tragen verruchte Netzstrümpfe zu wippenden Miniröcken. Die Lust, aus der Rolle zu fallen, ein anderer zu sein als im Alltag, ist groß. Stelzenläufer in bonbonbunten Clownskostümen heimsen ebenso Beifall ein wie die stolzen Anführer der Gruppen, die so konzentriert Pirouetten drehen wie ich es am ersten Morgen bei dem gehandicapten Fernando gesehen habe. Als einige Piraten Purzelbäume auf dem Asphalt schlagen, johlen die Fans.
Meine Lieblingsgruppe brüllt keine schauerlichen Schlachtrufe, sondern tanzt geschmeidig und anmutig. Die Frauen lassen ihre weißen Tellerröcke fliegen wie Derwische. Andere „moros“ schlängeln sich bauchtanzend, die Taillen umrahmt von schillerndem Federschmuck, vor die Tribünen. Aus Höflichkeit nehmen sie vor den prominenten Gästen kurz ihre Vogelmasken ab. Meine Frage an Passanten, was Vögel denn nun eigentlich mit den Mauren zu tun haben, ist offenbar zweitrangig und wird mit einem Achselzucken beantwortet. Der Fantasie sind bei diesem Event keine Grenzen gesetzt, denn „wer weiß schon so genau, wie Nordafrikaner vor Jahrhunderten aussahen?“ erklärt mir später die 33-jährige Barfrau Lourdes, die mit einem cremefarbenen Cape und einer langen Schleppe im Vergleich zu den vielen schwarz gekleideten Hexenwesen und den finster dreinblickenden Draufgängern mit Geweihen oder wuscheligen Löwenmähnen auf den Köpfen zu den eleganteren Erscheinungen dieses Abends gehört.
Die Blasmusik der über 80 Bands bringt mein Zwerchfell am dritten Tag schon kurz vor dem Aufwachen zum Vibrieren: Melodien begleiten die menschliche Ekstase seit jeher. Das ist bei diesem Fest nicht anders. Nur ertönen die ersten Fanfaren und Trommeln hier schon um sieben Uhr in der Früh, also zu einem für einen guten Rauschzustand doch sehr ungünstigen Zeitpunkt. „Diana“ nennen die Spanier diesen brutalen Blitzstart in den Tag. Dass viele erst gegen drei Uhr nachts in ihren Betten waren und spanische Hauswände dünn sind, stört keinen. Im Gegenteil. Der partielle Schlafentzug fördert die Aufmerksamkeit. Ein Kater hätte auch nicht den Hauch einer Chance gegen diese wummernde Katzenmusik, sie pustet den Kopf jedes Schlafenden durch die Gehörgänge frei noch ehe das Gehirn „Diana“ denken kann.
Wie es die Gruppen schaffen, tagelang so diszipliniert ihr Programm durchzuziehen, bleibt mir ein Rätsel. Bis zum Anpfiff, der aus dem Nichts zu kommen scheint, chillen sie und wirken beinahe lethargisch. Männer und Frauen, Mauren wie Christen, schonen offenbar ihre Kräfte und lungern vor ihren Auftritten verstreut in der Nähe des Startpunktes auf einem Platz herum. Spätestens ab dem Tag Nummer Zwei wirken alle vom vielen Feiern etwas derangiert. Sobald aber das Signal zum Start für sie und ihre Gruppe gefallen ist, formieren sie sich binnen Sekunden als hätte ihnen ein Dopingdoktor eine Aufputschspritze verpasst.
Luis und Jerónimo gehören zu den Piraten seit sie Schüler in der ersten Klasse waren. „Ich gehe das ganze Jahr brav in die Kirche, aber hier bin ich von ganzem Herzen ein Maure“, sagt Luis und verzieht zum Beweis sein rundes, freundlich lächelndes Gesicht zu einer furchterregenden Fratze. Schließlich will sich der 35-jährige Postbote, der in einem Nachbarort wohnt, nicht so leicht von den Christen geschlagen geben. Die Mauren seiner Gruppe tragen schwarze Pluderhosen, rote Fes-Hüte und Schnabelschuhe, an ihren Hüften baumeln Krummsäbel. Ein Wallach mit gewellter Mähne trippelt der nächsten Maurengruppe voraus. Seine Reiterin, die eine Horde der „Neuen Mauren“ befehligt, lässt den Schimmel auf den Hinterbeinen stehen und bei Piaffen tänzeln.
Seit 1474 gibt es das Fest zu Ehren der Stadtheiligen „Nuestra Señora de las Virtudes“. Die Jungfrau soll Villena von der Pest befreit haben. In seiner langen Geschichte hat sich der einst tiefreligiöse Brauch stark verändert. Zu Beginn wurde eine Heiligenfigur von echten Soldaten, später von den Provinzmilizen, die zu Zeiten des Königs Philipps II. in der Gegend stationiert waren, durch die Straßen getragen. Irgendwann schlüpften Bürgerinnen und Bürger in ihre Rollen. Bis heute stellen die Umzüge eine ehrfürchtige Wallfahrt nach. Nur geht es in unserer hedonistischen Zeit nicht mehr darum, einer Heiligen zu huldigen, sondern einen Riesenspaß zu haben. Sich zu verkleiden – das reizt fast alle Menschen, überall auf der Welt. Welche wahren Tragödien die Vertreibung der Araber mit sich brachten, interessiert dagegen niemanden. Für Andrés, der bei den „Andalusiern“ als Christ mitläuft, ist „Moros y Cristianos“ so schön „wie Weihnachten“: Alle kommen zusammen.
Der letzte Höhepunkt der Feier steht bevor. Mit der Vertreibung der Mauren von der Burg, die ich vor und während des Schauspiels nicht besichtigen darf, um im dichten Schießpulvernebel nicht zwischen die Fronten zu geraten, endet die „fiesta“. Die Festungsanlage ist durchaus sehenswert: Der rechteckige Bergfried ist in vier Abschnitte gegliedert. Die beiden unteren sind mit einer Stampflehmtechnik erbaut, die beiden oberen aus grob behauenen Steinen. Im ersten Geschoss ist ein almohadisches Sternrippengewölbe erhalten, das auf den arabischen Ursprung hinweist.
Bevor ich abreise, sehe ich mir die Burg La Atalaya von innen an. Den Ausführungen meines Guides zu folgen fällt mir schwer, denn eine Art Trance, die mich scheinbar eingesogen hat wie ein Strudel im Meer und die nur versteht, wer einmal dabei gewesen ist, wirkt nach und lässt mich nicht los. Die Spanier aus dieser Provinz haben meine verloren geglaubte Liebe zum Theater wieder geweckt. Während ich versuche, den komplizierten Erläuterungen und vielen historischen Fakten zu lauschen, fliegen meine Gedanken weit weg, in eine Zeit, in der es Burgfräulein, Prinzen und Ritter gab. Ein fescher Maure spielt in meinem Tagtraum die Hauptrolle. Warum, soll ein Geheimnis bleiben.
Diese Reise wurde vom spanischen Fremdenverkehrsamt unterstützt.
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