Schiras – Wohnzimmergespräche in der Stadt der schönen Künste

Es ist schön die Wahl zu haben, aber ganz ehr­lich: Manch­mal sind Optio­nen ein­fach läs­tig. Gera­de jetzt müs­sen wir uns zwi­schen zwei Stra­ßen ent­schei­den, die bei­de in Rich­tung der 450 Kilo­me­ter süd­lich gele­ge­nen Stadt Schi­ras füh­ren.

Dort, wo die letz­ten Gebäu­de der Wüs­ten­stadt Yazd in die end­lo­se, stau­bi­ge Wei­te über­ge­hen, posi­tio­nie­ren wir uns am Stra­ßen­rand. Mäßi­ger Ver­kehr rollt unter einem mit wei­ßen Schlei­er­wol­ken geschmück­ten Him­mel. Das mäch­ti­ge Zagros-Gebir­ge erhebt sich in der Fer­ne. Wir ent­schei­den uns für den lin­ken Arm der Kreu­zung, hof­fen, dass hier der Haupt­ver­kehrs­strom vor­bei fließt und war­ten gedul­dig. Den­noch sind wir unsi­cher. Ein Auge bleibt immer auf den rech­ten Arm der Kreu­zung gerich­tet.

Voll­be­setz­te Autos fah­ren an uns vor­bei. Väter, Müt­ter, Kin­der und Kin­des­kin­der betrach­ten uns hin­ter den Glas­schei­ben ihrer Karos­se­rien, win­ken uns zu. Doch obwohl wir ein Schild in die Luft hal­ten, auf dem in per­si­schen Schrift­zei­chen der Name unse­res Ziel­or­tes steht, hält zunächst nie­mand an.

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Die Zeit ver­geht, die Son­ne steigt immer höher den Him­mel hin­auf, als doch noch ein PKW stoppt. Die Nach­richt des Fah­rers ist jedoch ernüch­ternd. Wir hät­ten uns für den fal­schen Weg ent­schie­den, gibt er uns zu ver­ste­hen. Wenn wir nach Schi­ras wol­len, müss­ten wir auf den ande­ren Arm der Kreu­zung wech­seln.

Dank­bar und leicht­gläu­big schul­tern wir unser Gepäck und tra­ben zurück. Doch auch an unse­rer neu­en Posi­ti­on sind wir nicht erfolg­reich. Statt­des­sen erle­ben wir ein Déjà-vu: Erneut hält ein PKW, des­sen Fah­rer uns dar­auf auf­merk­sam macht, dass der Weg nach Schi­ras dem Kreu­zungs­arm fol­ge, den wir gera­de erst ver­las­sen haben. Wir sind ver­wirrt und unschlüs­sig, wie wir uns nun ver­hal­ten sol­len. Doch der Fah­rer des PKWs besteht so ein­dring­lich auf sei­nen Rat­schlag, dass wir letzt­end­lich nach­ge­ben und erneut die Stra­ße wech­seln.

Uns ist klar, dass wir mit die­sem Hin und Her grob fahr­läs­sig han­deln. Anstatt an einer Posi­ti­on auf eine Mit­fahr­ge­le­gen­heit zu war­ten, ver­pas­sen wir ein Auto nach dem ande­ren, weil wir nicht wis­sen, wohin mit uns.

An unse­rer neu­en alten Posi­ti­on ver­har­ren wir eine Wei­le, bis tat­säch­lich wie­der ein PKW hält und wir erneut dar­auf hin­ge­wie­sen wer­den, dass wir auf die ande­re Stra­ße wech­seln soll­ten, um nach Schi­ras zu gelan­gen. Wir füh­len uns in einem schlech­ten Witz. Mir kom­men Aste­rix und der Pas­sier­schein A38 in den Sinn. Doch dies­mal blei­ben wir stur, bedan­ken uns freund­lich für den Hin­weis und bewe­gen uns nicht von der Stel­le.

Kopf­schüt­telnd fährt unser irri­tier­ter Hel­fer davon und wir trot­zen dem inne­ren Selbst­zwei­fel, ob wir hier gera­de das Rich­ti­ge machen. Nach etwa 30 wei­te­ren Minu­ten hält end­lich der vier­te PKW und dies­mal geht alles gut. Die bei­den jun­gen Män­ner, in lege­re Woll­pull­over geklei­det, sind auf dem Weg in die 20 Kilo­me­ter ent­fern­te Ort­schaft Taft. Im Auto ist es wie so oft, wenn wir unse­re Rei­se­ge­schich­te erzäh­len: Unse­re Gegen­über gera­ten voll­kom­men aus dem Häus­chen. Die Idee des indi­vi­du­el­len Rei­sens ohne eige­nes Trans­port­mit­tel ist im Iran so unge­wöhn­lich, dass wir regel­mä­ßig für ver­rückt erklärt wer­den. Den­noch strah­len beson­ders die Augen der jun­gen Ira­ner, wenn wir vom Rei­sen durch die Welt erzäh­len. Jeder von ihnen wür­de ger­ne mit uns tau­schen.

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In Taft ver­ab­schie­den wir uns an der Umge­hungs­stra­ße des Ortes und war­ten auf die nächs­te Mit­fahr­ge­le­gen­heit. Mitt­ler­wei­le scheint die Mit­tags­son­ne auf die stau­bi­ge, graue Wüs­ten­er­de der Dasht‑e Kavir, Irans gro­ßer Salz­wüs­te. Tro­cke­ne Sträu­cher schim­mern in gelb­li­chem grün. Den Aus­läu­fern des Zagros-Gebir­ges sind wir nun ganz nah. Kaum eine hal­be Stun­de ver­geht, da quiet­schen die Brem­sen eines LKWs neben uns. Ehsan, der Fah­rer, ist auf dem Weg nach Schi­ras und freut sich über unse­re Beglei­tung für die anste­hen­de fünf­stün­di­ge Fahrt.

Ein brei­ter Schnurr­bart ver­deckt Ehsans Ober­lip­pe. Über sei­nem run­den Gesicht wach­sen nur noch ver­ein­zel­te, kurz geschnit­te­ne, wei­ße Haa­re. Kräf­ti­ge Unter­ar­me ragen aus den kur­zen Ärmeln sei­nes Hem­des. Ehsan umgibt die Mil­de des Alters. Sei­ne Augen bli­cken uns gelas­sen ent­ge­gen, den Mund umspielt ein lei­ses Lächeln.

Aus den Laut­spre­cher­bo­xen in der Fah­rer­ka­bi­ne dringt tra­di­tio­nel­le ira­ni­sche Musik, lang­sam und leicht schwin­gend. Ein Gas­ko­cher und eine Tee­kan­ne ste­hen zwi­schen Fah­rer- und Bei­fah­rer­sitz bereit. Hin­ter Taft durch­que­ren wir die Ber­ge. Kur­vig führt die Stra­ße zwi­schen nied­ri­gen Berg­ket­ten hin­durch, bis sich erneut eine wei­te Ebe­ne vor uns aus­streckt. Meh­re­re LKWs don­nern mit uns durch die Wüs­te. Immer nach Süd­wes­ten, immer gera­de­aus, immer der glei­ßen­den Nach­mit­tags­son­ne ent­ge­gen. Gemäch­lich aber ste­tig kom­men wir vor­an. Ohne Eile und unauf­halt­sam.

Als wir uns mit­ten in der Wüs­te befin­den, beginnt Ehsan wäh­rend der Fahrt einen dunk­len Klum­pen in der Grö­ße einer Fin­ger­kup­pe zu bear­bei­ten. Er kne­tet die Mas­se, klebt sie an das abge­flach­te Ende eines Metall­stif­tes und erhitzt einen zwei­ten Metall­stab auf dem Gas­ko­cher zu sei­ner Rech­ten. Wäh­rend­des­sen rollt er ein Stück Papier zu einem Rohr und steckt es sich in den Mund. Als ein Ende des Metall­sta­bes auf dem Gas­ko­cher vor Hit­ze glüht, führt ihn Ehsan an die wei­che Mas­se auf dem Metall­stift, die sofort zu qual­men beginnt. Mit dem offe­nen Ende des Papier­roh­res inha­liert er den Rauch. Unser Fah­rer betäubt sich gera­de mit Opi­um.

In der ira­ni­schen Wüs­te ist Opi­um seit Jahr­hun­der­ten ein wert­vol­les Han­dels­gut. Aus Afgha­ni­stan kom­mend, gelangt es über das ira­ni­sche Hoch­land zu den ara­bi­schen und euro­päi­schen Märk­ten. Noch immer ist der Genuss von Opi­um in der Wüs­te all­ge­gen­wär­tig. Ein ums ande­re Mal erhitzt Ehsan den Metall­stab und zieht Rauch durch das Papier­rohr.

Opi­um gilt in der Medi­zin als schmerz­lin­dern­de Sub­stanz. Dar­über hin­aus wird es seit jeher als Rausch­mit­tel ver­wen­det. Ein­mal im Kör­per, so heißt es, wirkt Opi­um bele­bend auf den Geist und regt die Phan­ta­sie an. Es ist aber auch ein Lie­bes­eli­xier, das Kör­per und Geist mit der Welt ver­söhnt. Inne­re Aus­ge­gli­chen­heit macht sich breit, die die Wahr­neh­mung von Schmer­zen und Sor­gen min­dert.

 

Schiras, Iran

Ehsans Opi­um­vor­rat schwin­det dahin und noch immer rol­len wir durch die end­los schei­nen­de Wei­te. Viel­leicht ist es der Rausch, viel­leicht ist es die Lan­ge­wei­le in der Wüs­te, die Ehsan plötz­lich zur Red­se­lig­keit ver­an­lasst. Seit gerau­mer Zeit beschäf­tigt sich Ehsan nicht nur mit dem Fah­ren und Rau­chen, son­dern auch mit sei­nem Han­dy. Immer wie­der summt das klei­ne Gerät und emp­fängt Nach­rich­ten. Wäh­rend­des­sen erzählt uns Ehsan von den zwei Frau­en in sei­nem Leben. Die eine, die er einst hei­ra­te­te und die ande­re, die Gelieb­te, die ihn nun mit Kurz­mit­tei­lun­gen bela­gert. Bei bei­den fin­det er sein Glück nicht. Statt­des­sen ist die­ses Drei­ecks­ver­hält­nis kom­pli­ziert, anstren­gend und nichts, womit man sich im Opi­um­rausch beschäf­ti­gen möch­te. So surrt das Han­dy noch ein paar Mal unbe­ach­tet vor sich hin, bevor es end­lich Ruhe gibt.

200 Kilo­me­ter von Yazd ent­fernt tref­fen wir auf die Schnell­stra­ße, die die bei­den Groß­städ­te Isfa­han und Schi­ras mit­ein­an­der ver­bin­det. Zwei Spu­ren füh­ren in jede Rich­tung. Von hier sind es noch drei Stun­den bis zu unse­rem Ziel. Wir bie­gen nach Süden ab, haben nun erneut Berg­ket­ten zu unse­rer Lin­ken und fah­ren über tadel­lo­sen Asphalt und in deut­lich dich­te­rem Ver­kehr auf Schi­ras zu.

Gegen 17 Uhr errei­chen wir das Bal­lungs­ge­biet der Zwei-Mil­lio­nen-Metro­po­le und inner­lich fan­ge ich kurz dar­auf an zu flu­chen. In Schi­ras, Haupt­stadt der süd­ira­ni­schen Pro­vinz Fars, schei­nen die Men­schen Gefal­len dar­an zu fin­den, auf dem Mit­tel­strei­fen zu fah­ren und somit gleich zwei Spu­ren zu blo­ckie­ren. Jetzt ste­cken wir mit unse­rem Las­ter in einem Fei­er­abend­ver­kehr fest, der es auf uns abge­se­hen zu haben scheint. Wir wer­den geschnit­ten und aus­ge­bremst, so oft es nur geht. Doch Ehsan bleibt ent­spannt, das Opi­um wirkt noch immer nach. Nur ab und an lässt er die tie­fe Fan­fa­re sei­nes Gefährts über dem Asphalt dröh­nen und macht so sein Recht zur Stra­ßen­nut­zung gel­tend.

Eine Stun­de quä­len wir uns durch den Ver­kehr, bis wir das tro­cke­ne Fluss­bett des Khoshk über­que­ren und auf die süd­li­che Stadt­sei­te wech­seln. Hier end­lich errei­chen wir unser Ziel. Freund­schaft­lich ver­ab­schie­den wir uns von unse­rer Mit­fahr­ge­le­gen­heit, wün­schen uns gegen­sei­tig viel Glück und Ehsan lässt zum Abschied noch ein­mal die Fan­fa­re sei­nes LKWs ertö­nen, bevor er in den Stra­ßen der Stadt ver­schwin­det.

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Mitt­ler­wei­le ist es Nacht gewor­den. Müde und hung­rig von der Fahrt tref­fen wir unse­ren Gast­ge­ber Ash­kan, der uns herz­lich in Schi­ras will­kom­men heißt.

Ash­kan ist gera­de ein­mal 24 Jah­re alt und wohnt zusam­men mit sei­nem Kum­pel Hamid in einer Zwei­zim­mer­woh­nung irgend­wo im Rand­ge­biet der Stadt. Zusam­men errei­chen wir die umzäun­te Hoch­haus­sied­lung, in wel­cher der jun­ge Mann zuhau­se ist. Wir stei­gen ein paar Stock­wer­ke durch ein dunk­les Trep­pen­haus hin­auf, öff­nen eine Tür und ste­hen mit­ten in einem Wohn­zim­mer. Vor uns auf einem dicken beige­far­be­nen Tep­pich sitzt bereits eine klei­ne Grup­pe jun­ger Men­schen, hei­ter im Gespräch ver­tieft. Wir tref­fen Hamid und Hamed, Amin, San­jay, Omid, Hadi und Jua­na, eine Couch­sur­fe­rin aus Chi­na, die gera­de dabei sind, das Abend­essen vor­zu­be­rei­ten. Als wir uns dazu gesel­len, bricht uns ein freu­di­ges Stim­men­ge­wirr aus Will­kom­mens­grü­ßen ent­ge­gen. Wir wer­den bereits erwar­tet.

Erstaun­lich schnell wer­den wir auf­ge­nom­men. Die natür­li­che Distanz des Frem­den haben wir an der Tür­schwel­le abge­legt und füh­len uns augen­blick­lich von Freun­den umge­ben.

Da nun zu vie­le Per­so­nen im Wohn­zim­mer Platz bean­spru­chen, ver­le­gen wir die Vor­be­rei­tung für das gemein­sa­me Essen auf den Küchen­bo­den. Typisch ira­nisch gibt es in der Woh­nung kaum hüft­ho­he Arbeits­un­ter­la­gen. Die ein­zi­ge vor­han­de­ne Arbeits­flä­che in der klei­nen, sau­be­ren Küche ist mit frisch gewa­sche­nem, zum Trock­nen gela­ger­ten Geschirr belegt.

Couchsurfing, Schiras, Iran

Auf der Aus­leg­wa­re sit­zend schnei­den wir Salat und Auber­gi­nen, befrei­en Knob­lauch­ze­hen von ihrer Haut, wür­feln Toma­ten und file­tie­ren Papri­ka. Amin ser­viert aus Plas­tik­fla­schen, deren Auf­schrift alko­hol­frei­es isla­mi­sches Bier bewirbt, selbst­ge­brann­tes Hoch­pro­zen­ti­ges. Mitt­ler­wei­le ist der Genuss von Alko­hol für uns nichts Unge­wohn­tes mehr im Iran. Den­noch bin ich immer wie­der über­rascht mit wel­cher Selbst­ver­ständ­lich­keit Bier, Wein und Schnaps über­all in ira­ni­schen Hin­ter­zim­mern her­ge­stellt wer­den. Unser Rei­se­füh­rer zeich­net dage­gen ein ganz ande­res Sze­na­rio. Hier heißt es:

„Try to think of your trip to Iran as a cle­an­sing expe­ri­ence for your body, away from nasty alco­ho­lic toxins. This way you’ll feel bet­ter about not being able to get a drink.”

Wir sind weit davon ent­fernt. Egal ob Whis­key in Arda­bil, Rosi­nen­schnaps in Rasht, Bier in Tehe­ran oder wie jetzt, irgend­ein hoch­pro­zen­ti­ges, nicht genau zu iden­ti­fi­zie­ren­des Getränk in Schi­ras – Alko­hol scheint immer zugäng­lich zu sein. So viel wie im Iran haben wir auf unse­rer Rei­se bis­her nir­gend­wo getrun­ken. Das ist vor allem des­halb bemer­kens­wert, weil im Iran ein strik­tes Alko­hol­ver­bot besteht. Zuwi­der­hand­lun­gen bestraft der Staat mit 80 Peit­schen­hie­ben, Geld­bu­ße und Gefäng­nis­auf­ent­halt. Selbst die Todes­stra­fe ist mög­lich, soll­te man drei Mal mit Alko­hol erwischt wer­den.

Wäh­rend wir den Schnaps in klei­nen Schlu­cken unse­re Keh­le hin­ab flie­ßen las­sen, ver­wan­deln sich in Töp­fen und Pfan­nen die vor­be­rei­te­ten Lebens­mit­tel lang­sam in duf­ten­de Spei­sen. Unter Jua­nas Anlei­tung berei­ten wir eine chi­ne­si­sche Toma­ten-Eier-Sup­pe zu, schmo­ren Salat, Auber­gi­nen, Kohl und Boh­nen, kochen Kar­tof­feln und Fleisch. Mehr als ein hal­bes Dut­zend ver­schie­de­ne Geschmacks­rich­tun­gen ser­vie­ren wir auf eine, im Wohn­zim­mer aus­ge­brei­te­te Plas­tik­tisch­de­cke. Ihr fehlt die gewohn­te Umge­bung des Tisches; doch das stört nie­man­den von uns. Schüs­seln und Dosen erset­zen die nicht aus­rei­chend vor­han­de­nen Tel­ler.

Wir grei­fen wild durch­ein­an­der, rei­chen Gerich­te durch den Raum, ver­tei­len die Spei­sen an alle Hung­ri­gen. Neben mir sitzt Hamed, ein jun­ger Mann mit hoher Stirn und freund­li­chen Augen hin­ter einer schma­len Horn­bril­le. Über­ra­schen­der Wei­se spricht Hamed aus­ge­spro­chen gutes Deutsch, das er sich im Selbst­stu­di­um ange­eig­net hat. Er träumt davon irgend­wann in Deutsch­land Inge­nieurs­we­sen zu stu­die­ren; vor­aus­ge­setzt er erhält ein ent­spre­chen­des Sti­pen­di­um.

Schiras, Iran

Couchsurfing, Schiras, Iran

Hamed ist sehr inter­es­siert an Deutsch­land, der Lebens­wei­se, Kul­tur sowie Men­ta­li­tät der Bevöl­ke­rung und wir ver­su­chen ihm ein Bild unse­res Hei­mat­lan­des zu ver­schaf­fen. Nach dem Essen lüm­meln wir voll­ge­fut­tert auf dem wei­chen Wohn­zim­mer­tep­pich und den wein­ro­ten Sofas ent­lang der Zim­mer­wän­de. Ein Fern­se­her auf einem rol­len­den Bei­stell­tisch kom­plet­tiert die Aus­stat­tung des Rau­mes.

Omid und Hadi berei­ten einen Joint vor, der wenig spä­ter durchs Wohn­zim­mer wan­dert. Unse­re Gesprä­che krei­sen um das Leben in den vier Wän­den, in denen wir uns befin­den. Obwohl wir bereits seit einem Monat durch den Iran rei­sen, ist die Dis­kre­panz zwi­schen der hin­ter ver­schlos­se­nen Türen zele­brier­ten pri­va­ten Frei­heit um Alko­hol, Mari­hua­na und Obrig­keits­kri­tik und den stren­g­re­li­giö­sen Dog­men des öffent­li­chen Lebens für uns noch immer uner­war­tet.

Als jun­ger Mensch in einer eige­nen Woh­nung zu leben, ist im Iran etwas Unge­wöhn­li­ches, Luxu­riö­ses, Rebel­li­sches. Die Fami­li­en­ban­de sind stark und übli­cher Wei­se leben Kin­der bis zu ihrer Hoch­zeit mit den Eltern. Ash­kan und Hamid bil­den mit ihrer WG eine sel­te­ne Aus­nah­me. Das wis­sen sie und das wis­sen auch ihre Freun­de. Die eige­ne Unab­hän­gig­keit auf weni­gen Qua­drat­me­tern tei­len sie sich des­halb auch mit ihren Gefähr­ten, die oft tage­lang unun­ter­bro­chen blei­ben. So sit­zen sie zusam­men im Wohn­zim­mer und wenn die Nacht her­ein bricht, schla­fen sie hier alle auf dün­nen Matrat­zen. Für die Jungs ist die WG ein Para­dies, ein Schutz vor dem Wäch­ter­blick der ira­ni­schen Gesell­schaft, aber auch vor dem kon­ser­va­ti­ven Eltern­haus, ein Stück ver­wirk­lich­te Frei­heit.

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In unse­rer Mit­te inter­es­siert sich kei­ner der Freun­de für Reli­gi­on. Ihre Sor­gen tra­gen viel mehr die Namen Arbeits- und Per­spek­tiv­lo­sig­keit, die mit einer his­to­risch schwa­chen Wirt­schafts­si­tua­ti­on ein­her gehen. Seit der isla­mi­schen Revo­lu­ti­on 1979 hat sich die Bevöl­ke­rung im Iran ver­dop­pelt. Fast 70 Pro­zent der Ira­ner sind jün­ger als 30 Jah­re. Nur weni­ge von ihnen fin­den eine Beschäf­ti­gungs­mög­lich­keit. Auf dem ira­ni­schen Arbeits­markt feh­len Stel­len für Mil­lio­nen gut aus­ge­bil­de­ter Men­schen.

Aber auch das Sozi­al­ver­hal­ten lei­det in der isla­mi­schen Repu­blik. Stän­dig müs­sen Ash­kan und sei­ne Freun­de auf der Hut sein, dass die Nach­barn nicht zu viel von all den aus­län­di­schen Gäs­ten mit­be­kom­men, die hier Dank der im Iran ver­bo­te­nen Platt­form Couch­sur­fing, ein und aus gehen. Das, so ver­si­chern die Jungs ein­stim­mig, sei aller­dings noch das gerings­te Pro­blem.

Doch all die Schwie­rig­kei­ten der ira­ni­schen Wirk­lich­keit enden an der Tür­schwel­le, weni­ger als zwei Meter von uns ent­fernt. Dahin­ter ver­lie­ren sich Ash­kan, Hamid und die ande­ren in der frei­en Welt, die sie ihre Woh­nung nen­nen. Auf knapp 40m² leis­ten sie den Repres­sio­nen der Außen­welt posi­ti­ven Wider­stand und wir genie­ßen es, in ihrer Gesell­schaft zu sein.

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So wie hier haben wir bereits vie­le ira­ni­sche Pri­vat­räu­me ken­nen­ge­lernt. Unge­ach­tet dem Wil­len der Mäch­ti­gen ent­ste­hen in ira­ni­schen Woh­nun­gen oft Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten zum öffent­li­chen Leben. Die Gedan­ken sind frei! Ash­kan, Hamid und all die ande­ren sind auf­ge­schlos­sen, mit kla­rem Ver­stand. Sie kön­nen die Pro­ble­me in ihrem Land benen­nen, kri­tisch kom­men­tie­ren und sach­lich über Poli­tik und Gesell­schaft spre­chen. Das klingt in unse­ren euro­päi­schen Ohren zunächst selbst­ver­ständ­lich, ist es in der ira­ni­schen Wirk­lich­keit aber abso­lut nicht. Wer sich öffent­lich nega­tiv über die Regie­rung äußert, dem dro­hen lan­ge Haft­stra­fen.

Je wei­ter die Nacht vor­an­schrei­tet, je wei­ter sich die Flüs­sig­keit in Amins alko­hol­frei­en Bier­fla­schen dem Boden neigt, je duf­ten­der die Haschisch­wol­ken durchs Wohn­zim­mer glei­ten, des­to amü­san­ter, anek­do­ten­haf­ten wer­den wir. Es stellt sich her­aus, dass Hamed ein vor­züg­li­cher Tän­zer ist und unter tosen­dem Applaus tan­zen er und Jua­na zu ira­ni­scher Volks­mu­sik in unse­rer Mit­te.

Erst als Mit­ter­nacht schon lan­ge hin­ter uns liegt, lich­tet sich unse­re Grup­pe. Wäh­rend Amin und Hamed nach Hau­se gehen, berei­ten Ash­kan und Hamid ihr Schlaf­zim­mer für Jua­na und uns vor. Die übrig­ge­blie­be­nen fünf Jungs machen es sich auf dem wei­chen Tep­pich im Wohn­zim­mer unter dicken Frot­tee­de­cken bequem.

 

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Am nächs­ten Vor­mit­tag erwa­chen wir spät. Schwe­re Regen­trop­fen klat­schen an die Fens­ter­schei­ben, eine dun­kel­graue, tris­te Wol­ken­front hängt über der Stadt. Für unser Früh­stück – Fla­den­brot, Spie­gelei und jede Men­ge süßer Chai – neh­men wir uns Zeit und ler­nen unse­re Gast­ge­ber noch ein biss­chen bes­ser ken­nen.

Schi­ras, die süd­li­che Metro­po­le, das kul­tu­rel­le und intel­lek­tu­el­le Zen­trum des Lan­des, ist ein Auf­fang­be­cken für die unter­schied­li­chen eth­ni­schen Grup­pen des Viel­völ­ker­staa­tes Iran. Auch unse­re neu­en Freun­de kom­men aus ganz ver­schie­de­nen Ecken des Lan­des. Hamid, Ash­kans Mit­be­woh­ner, ist der ein­zi­ge ech­te Schi­ra­si, also ein Ein­hei­mi­scher aus Schi­ras, und zugleich ein lebens­fro­her Per­ser. Die Geschich­te sei­nes Vol­kes auf dem Gebiet des heu­ti­gen Iran geht bis ins drit­te Jahr­tau­send vor unse­rer Zeit­rech­nung zurück. Mitt­ler­wei­le gehö­ren sechs von zehn Ira­nern zur Eth­nie der Per­ser, die vor allem in den Groß­städ­ten Tehe­ran, Maschhad, Isfa­han, Yazd und natür­lich Schi­ras leben. Hamid, mit schul­ter­lan­gem Haar und Drei­ta­ge­bart, ist die coo­le Socke im Wohn­zim­mer. Immer läs­sig, immer gut gelaunt, immer einen locke­ren Spruch auf den Lip­pen, aber auch immer um das Wohl der Gäs­te besorgt, ist er uns abso­lut sym­pa­thisch.

Ganz anders sind dage­gen Omid und Hadi. Zwei Luren, deren Volks­grup­pe aus­ge­hend vom zen­tra­len Zagros­ge­bir­ge im Wes­ten des Iran bis in den Süd­os­ten des Irak sie­delt. Die Luren gel­ten als sehr stol­zes Berg­volk und sind angeb­lich Nach­fah­ren der ers­ten Sied­ler in die­ser Regi­on. Sie spre­chen ihre eige­ne Spra­che, eine Mischung aus Ara­bisch und Far­si und wer­den im Rest des Lan­des als unse­ri­ös und auf­brau­send mit einem Hang zur Hand­greif­lich­keit cha­rak­te­ri­siert. Tat­säch­lich zie­hen auch Ash­kan, Hamid und San­jay immer wie­der über die angeb­li­che Aggres­si­vi­tät Omids und Hadis her. Machen Wit­ze über Prü­ge­lei­en und war­nen uns lachend, nie­mals Streit mit den bei­den anzu­fan­gen.

Dabei wir­ken Omid und Hadi etwas schüch­tern, spre­chen wenig, wohl auch, weil ihre Eng­lisch­kennt­nis­se nicht ganz mit denen ihrer Freun­de mit­hal­ten kön­nen. Omid trägt sein Haar nach hin­ten gekämmt, Hadi kurz­ge­scho­ren. Bei­de eint ein durch­trie­be­ner Blick, der sie wirk­lich etwas unbe­re­chen­bar erschei­nen lässt. Doch ihre Ges­ten zeu­gen von Zunei­gung, ihr Lächeln ist herz­lich.

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San­jay, der Vier­te im Bund, ist ein groß­ge­wach­se­ner Aza­ri und Ange­hö­ri­ger der zweit­größ­ten eth­ni­schen Grup­pe im Iran. Aza­ris haben sich bei­na­he über­all im Iran nie­der­ge­las­sen, doch behei­ma­tet sind sie im Nord­wes­ten des Lan­des, rund im Täbris und Arda­bil. Auf­grund ihres tür­ki­schen Dia­lekts wer­den sie im Iran häu­fig als Tür­ken bezeich­net und San­jay macht auch gar kei­nen Hehl dar­aus, dass er sich selbst als Tür­ke sieht.

Die vie­len stol­zen Eth­ni­en des Lan­des ergie­ßen sich immer wie­der im Spott über­ein­an­der und auch zwi­schen den Jungs geht es stän­dig hin und her. San­jay hat beson­de­re Freu­de dar­an, Hamid als fabel­haf­tes Bei­spiel für die Men­schen in Schi­ras zu beschrei­ben: faul und spaß­süch­tig! „Das ist der Grund, war­um uns alle lie­ben“, kon­tert Hamid stets belus­tigt. Die Jungs zie­hen sich gegen­sei­tig immer wie­der auf und machen dar­über hin­aus noch Wit­ze über Kur­den, Ara­ber, Turk­me­nen und alle ande­ren Volks­grup­pen im Iran.

Auch Ash­kan ist Teil des Hohns. Er gehört zum noma­di­schen Stamm der Qashqa›i, des­sen Wan­der­rou­ten in der Pro­vinz Fars zwi­schen den Ber­gen des Zagros­ge­bir­ges nörd­lich von Schi­ras und den war­men Ebe­nen am Per­si­schen Golf lie­gen. Bis zu 45 Tagen zie­hen sie mit ihren Her­den vom Som­mer- zum Win­ter­la­ger und legen dabei eine Stre­cke von fast 500 Kilo­me­tern zurück. Bereits seit dem 11. Jahr­hun­dert leben die Qashqa›i im Iran, deren turk­me­ni­sche Vor­fah­ren aus Zen­tral­asi­en hier­her kamen.

Obwohl von staat­li­cher Sei­te viel Druck aus­ge­übt wird, wan­dern noch immer etwa zwei Mil­lio­nen Noma­den durch den Iran. 400.000 von ihnen gehö­ren zum Stamm der Qashqa›i, die stolz und unab­hän­gig ihre Tra­di­tio­nen bewah­ren. Doch ihr Schick­sal ist unge­wiss. Trotz eines sehr genüg­sa­men Lebens­stils kön­nen die meis­ten Mit­glie­der des Stam­mes ihren Kin­dern kaum mehr als eine Behau­sung und Nah­rung bie­ten. Es fehlt an qua­li­fi­zier­ten Kräf­ten, an Leh­rern, Erzie­hern und Aus­bil­dern. Wer es sich leis­ten kann, schickt sei­ne Kin­der des­halb zur Schu­le in die Stadt.

Vakil Basar, Schiras, Iran

Ash­kan ist eines die­ser Kin­der, das von den Wei­den in die Groß­stadt sie­del­te, um eine bes­se­re Aus­bil­dung zu erhal­ten. Die Schu­le hat er bereits been­det, den Mili­tär­dienst hin­ter sich gebracht und nun will er stu­die­ren.

Strah­lend erzählt Ash­kan von sei­nen Eltern, sei­ner Mut­ter, die täg­lich die Zie­gen melkt, von sei­nem Vater, der mit sei­nen Onkeln die Her­den treibt. Er zeigt uns Fotos sei­ner Tan­ten, die sie beim Tep­pich­we­ben abbil­den. Alle Frau­en tra­gen lan­ge, mit hüb­schen Sti­cke­rei­en ver­zier­te Klei­der in leuch­ten­den Far­ben. Es sind die tra­di­tio­nel­len Gewän­der der Qashqa›i, die noch immer zum All­tag gehö­ren. Der Fami­li­en­zu­sam­men­halt der Qashqa›i ist selbst für ira­ni­sche Ver­hält­nis­se beson­ders stark aus­ge­prägt. Die Mit­glie­der des Stam­mes hel­fen sich unter­ein­an­der so gut sie kön­nen. Auch Ash­kan war es nur des­halb mög­lich in die Stadt zu zie­hen, weil er in Schi­ras bei einer Fami­lie sei­nes Stam­mes leben konn­te, die ihn bei allem unter­stütz­te.

Jetzt fühlt er sich jedoch hin und her geris­sen. Er ist dank­bar für die Chan­ce, die ihm gege­ben wur­de, kann sich aber auch kein dau­er­haf­tes Leben als Noma­de vor­stel­len. Ash­kan, der beschei­de­ne, gut­mü­ti­ge Mann, steckt fest zwi­schen der lieb­ge­won­ne­nen Moder­ne und der Loya­li­tät zur Fami­lie.

Wir haben bereits drei Kan­nen Chai auf dem Wohn­zim­mer­bo­den aus­ge­trun­ken, als der Regen über der Stadt lang­sam nach­lässt. Zusam­men mit Ash­kan, Hadi und Jua­na beschlie­ßen wir, Schi­ras zu erkun­den.

Doch davon lest ihr mehr im zwei­ten Teil unse­res Por­träts über Schi­ras, die Stadt der schö­nen Küns­te…

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Antworten

  1. Avatar von Michaela

    Wun­der­schön die­se Bil­der wie­der zu sehen und die Berich­te zu lesen. Ich war das ers­te Mal noch wäh­rend des Kho­mei­ni Regimes in Schi­raz und ande­ren Tei­len des Irans. Damals wur­de man als aus­län­di­sche Frau noch wie das 8. Welt­wun­der bestaunt 🙂 und es war nicht ganz ein­fach zu rei­sen. Nun hat sich ja Gott sei Dank doch schon eini­ges geän­dert.

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