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Es ist schön die Wahl zu haben, aber ganz ehrlich: Manchmal sind Optionen einfach lästig. Gerade jetzt müssen wir uns zwischen zwei Straßen entscheiden, die beide in Richtung der 450 Kilometer südlich gelegenen Stadt Schiras führen.
Dort, wo die letzten Gebäude der Wüstenstadt Yazd in die endlose, staubige Weite übergehen, positionieren wir uns am Straßenrand. Mäßiger Verkehr rollt unter einem mit weißen Schleierwolken geschmückten Himmel. Das mächtige Zagros-Gebirge erhebt sich in der Ferne. Wir entscheiden uns für den linken Arm der Kreuzung, hoffen, dass hier der Hauptverkehrsstrom vorbei fließt und warten geduldig. Dennoch sind wir unsicher. Ein Auge bleibt immer auf den rechten Arm der Kreuzung gerichtet.
Vollbesetzte Autos fahren an uns vorbei. Väter, Mütter, Kinder und Kindeskinder betrachten uns hinter den Glasscheiben ihrer Karosserien, winken uns zu. Doch obwohl wir ein Schild in die Luft halten, auf dem in persischen Schriftzeichen der Name unseres Zielortes steht, hält zunächst niemand an.
Die Zeit vergeht, die Sonne steigt immer höher den Himmel hinauf, als doch noch ein PKW stoppt. Die Nachricht des Fahrers ist jedoch ernüchternd. Wir hätten uns für den falschen Weg entschieden, gibt er uns zu verstehen. Wenn wir nach Schiras wollen, müssten wir auf den anderen Arm der Kreuzung wechseln.
Dankbar und leichtgläubig schultern wir unser Gepäck und traben zurück. Doch auch an unserer neuen Position sind wir nicht erfolgreich. Stattdessen erleben wir ein Déjà-vu: Erneut hält ein PKW, dessen Fahrer uns darauf aufmerksam macht, dass der Weg nach Schiras dem Kreuzungsarm folge, den wir gerade erst verlassen haben. Wir sind verwirrt und unschlüssig, wie wir uns nun verhalten sollen. Doch der Fahrer des PKWs besteht so eindringlich auf seinen Ratschlag, dass wir letztendlich nachgeben und erneut die Straße wechseln.
Uns ist klar, dass wir mit diesem Hin und Her grob fahrlässig handeln. Anstatt an einer Position auf eine Mitfahrgelegenheit zu warten, verpassen wir ein Auto nach dem anderen, weil wir nicht wissen, wohin mit uns.
An unserer neuen alten Position verharren wir eine Weile, bis tatsächlich wieder ein PKW hält und wir erneut darauf hingewiesen werden, dass wir auf die andere Straße wechseln sollten, um nach Schiras zu gelangen. Wir fühlen uns in einem schlechten Witz. Mir kommen Asterix und der Passierschein A38 in den Sinn. Doch diesmal bleiben wir stur, bedanken uns freundlich für den Hinweis und bewegen uns nicht von der Stelle.
Kopfschüttelnd fährt unser irritierter Helfer davon und wir trotzen dem inneren Selbstzweifel, ob wir hier gerade das Richtige machen. Nach etwa 30 weiteren Minuten hält endlich der vierte PKW und diesmal geht alles gut. Die beiden jungen Männer, in legere Wollpullover gekleidet, sind auf dem Weg in die 20 Kilometer entfernte Ortschaft Taft. Im Auto ist es wie so oft, wenn wir unsere Reisegeschichte erzählen: Unsere Gegenüber geraten vollkommen aus dem Häuschen. Die Idee des individuellen Reisens ohne eigenes Transportmittel ist im Iran so ungewöhnlich, dass wir regelmäßig für verrückt erklärt werden. Dennoch strahlen besonders die Augen der jungen Iraner, wenn wir vom Reisen durch die Welt erzählen. Jeder von ihnen würde gerne mit uns tauschen.
In Taft verabschieden wir uns an der Umgehungsstraße des Ortes und warten auf die nächste Mitfahrgelegenheit. Mittlerweile scheint die Mittagssonne auf die staubige, graue Wüstenerde der Dasht‑e Kavir, Irans großer Salzwüste. Trockene Sträucher schimmern in gelblichem grün. Den Ausläufern des Zagros-Gebirges sind wir nun ganz nah. Kaum eine halbe Stunde vergeht, da quietschen die Bremsen eines LKWs neben uns. Ehsan, der Fahrer, ist auf dem Weg nach Schiras und freut sich über unsere Begleitung für die anstehende fünfstündige Fahrt.
Ein breiter Schnurrbart verdeckt Ehsans Oberlippe. Über seinem runden Gesicht wachsen nur noch vereinzelte, kurz geschnittene, weiße Haare. Kräftige Unterarme ragen aus den kurzen Ärmeln seines Hemdes. Ehsan umgibt die Milde des Alters. Seine Augen blicken uns gelassen entgegen, den Mund umspielt ein leises Lächeln.
Aus den Lautsprecherboxen in der Fahrerkabine dringt traditionelle iranische Musik, langsam und leicht schwingend. Ein Gaskocher und eine Teekanne stehen zwischen Fahrer- und Beifahrersitz bereit. Hinter Taft durchqueren wir die Berge. Kurvig führt die Straße zwischen niedrigen Bergketten hindurch, bis sich erneut eine weite Ebene vor uns ausstreckt. Mehrere LKWs donnern mit uns durch die Wüste. Immer nach Südwesten, immer geradeaus, immer der gleißenden Nachmittagssonne entgegen. Gemächlich aber stetig kommen wir voran. Ohne Eile und unaufhaltsam.
Als wir uns mitten in der Wüste befinden, beginnt Ehsan während der Fahrt einen dunklen Klumpen in der Größe einer Fingerkuppe zu bearbeiten. Er knetet die Masse, klebt sie an das abgeflachte Ende eines Metallstiftes und erhitzt einen zweiten Metallstab auf dem Gaskocher zu seiner Rechten. Währenddessen rollt er ein Stück Papier zu einem Rohr und steckt es sich in den Mund. Als ein Ende des Metallstabes auf dem Gaskocher vor Hitze glüht, führt ihn Ehsan an die weiche Masse auf dem Metallstift, die sofort zu qualmen beginnt. Mit dem offenen Ende des Papierrohres inhaliert er den Rauch. Unser Fahrer betäubt sich gerade mit Opium.
In der iranischen Wüste ist Opium seit Jahrhunderten ein wertvolles Handelsgut. Aus Afghanistan kommend, gelangt es über das iranische Hochland zu den arabischen und europäischen Märkten. Noch immer ist der Genuss von Opium in der Wüste allgegenwärtig. Ein ums andere Mal erhitzt Ehsan den Metallstab und zieht Rauch durch das Papierrohr.
Opium gilt in der Medizin als schmerzlindernde Substanz. Darüber hinaus wird es seit jeher als Rauschmittel verwendet. Einmal im Körper, so heißt es, wirkt Opium belebend auf den Geist und regt die Phantasie an. Es ist aber auch ein Liebeselixier, das Körper und Geist mit der Welt versöhnt. Innere Ausgeglichenheit macht sich breit, die die Wahrnehmung von Schmerzen und Sorgen mindert.
Ehsans Opiumvorrat schwindet dahin und noch immer rollen wir durch die endlos scheinende Weite. Vielleicht ist es der Rausch, vielleicht ist es die Langeweile in der Wüste, die Ehsan plötzlich zur Redseligkeit veranlasst. Seit geraumer Zeit beschäftigt sich Ehsan nicht nur mit dem Fahren und Rauchen, sondern auch mit seinem Handy. Immer wieder summt das kleine Gerät und empfängt Nachrichten. Währenddessen erzählt uns Ehsan von den zwei Frauen in seinem Leben. Die eine, die er einst heiratete und die andere, die Geliebte, die ihn nun mit Kurzmitteilungen belagert. Bei beiden findet er sein Glück nicht. Stattdessen ist dieses Dreiecksverhältnis kompliziert, anstrengend und nichts, womit man sich im Opiumrausch beschäftigen möchte. So surrt das Handy noch ein paar Mal unbeachtet vor sich hin, bevor es endlich Ruhe gibt.
200 Kilometer von Yazd entfernt treffen wir auf die Schnellstraße, die die beiden Großstädte Isfahan und Schiras miteinander verbindet. Zwei Spuren führen in jede Richtung. Von hier sind es noch drei Stunden bis zu unserem Ziel. Wir biegen nach Süden ab, haben nun erneut Bergketten zu unserer Linken und fahren über tadellosen Asphalt und in deutlich dichterem Verkehr auf Schiras zu.
Gegen 17 Uhr erreichen wir das Ballungsgebiet der Zwei-Millionen-Metropole und innerlich fange ich kurz darauf an zu fluchen. In Schiras, Hauptstadt der südiranischen Provinz Fars, scheinen die Menschen Gefallen daran zu finden, auf dem Mittelstreifen zu fahren und somit gleich zwei Spuren zu blockieren. Jetzt stecken wir mit unserem Laster in einem Feierabendverkehr fest, der es auf uns abgesehen zu haben scheint. Wir werden geschnitten und ausgebremst, so oft es nur geht. Doch Ehsan bleibt entspannt, das Opium wirkt noch immer nach. Nur ab und an lässt er die tiefe Fanfare seines Gefährts über dem Asphalt dröhnen und macht so sein Recht zur Straßennutzung geltend.
Eine Stunde quälen wir uns durch den Verkehr, bis wir das trockene Flussbett des Khoshk überqueren und auf die südliche Stadtseite wechseln. Hier endlich erreichen wir unser Ziel. Freundschaftlich verabschieden wir uns von unserer Mitfahrgelegenheit, wünschen uns gegenseitig viel Glück und Ehsan lässt zum Abschied noch einmal die Fanfare seines LKWs ertönen, bevor er in den Straßen der Stadt verschwindet.
Mittlerweile ist es Nacht geworden. Müde und hungrig von der Fahrt treffen wir unseren Gastgeber Ashkan, der uns herzlich in Schiras willkommen heißt.
Ashkan ist gerade einmal 24 Jahre alt und wohnt zusammen mit seinem Kumpel Hamid in einer Zweizimmerwohnung irgendwo im Randgebiet der Stadt. Zusammen erreichen wir die umzäunte Hochhaussiedlung, in welcher der junge Mann zuhause ist. Wir steigen ein paar Stockwerke durch ein dunkles Treppenhaus hinauf, öffnen eine Tür und stehen mitten in einem Wohnzimmer. Vor uns auf einem dicken beigefarbenen Teppich sitzt bereits eine kleine Gruppe junger Menschen, heiter im Gespräch vertieft. Wir treffen Hamid und Hamed, Amin, Sanjay, Omid, Hadi und Juana, eine Couchsurferin aus China, die gerade dabei sind, das Abendessen vorzubereiten. Als wir uns dazu gesellen, bricht uns ein freudiges Stimmengewirr aus Willkommensgrüßen entgegen. Wir werden bereits erwartet.
Erstaunlich schnell werden wir aufgenommen. Die natürliche Distanz des Fremden haben wir an der Türschwelle abgelegt und fühlen uns augenblicklich von Freunden umgeben.
Da nun zu viele Personen im Wohnzimmer Platz beanspruchen, verlegen wir die Vorbereitung für das gemeinsame Essen auf den Küchenboden. Typisch iranisch gibt es in der Wohnung kaum hüfthohe Arbeitsunterlagen. Die einzige vorhandene Arbeitsfläche in der kleinen, sauberen Küche ist mit frisch gewaschenem, zum Trocknen gelagerten Geschirr belegt.
Auf der Auslegware sitzend schneiden wir Salat und Auberginen, befreien Knoblauchzehen von ihrer Haut, würfeln Tomaten und filetieren Paprika. Amin serviert aus Plastikflaschen, deren Aufschrift alkoholfreies islamisches Bier bewirbt, selbstgebranntes Hochprozentiges. Mittlerweile ist der Genuss von Alkohol für uns nichts Ungewohntes mehr im Iran. Dennoch bin ich immer wieder überrascht mit welcher Selbstverständlichkeit Bier, Wein und Schnaps überall in iranischen Hinterzimmern hergestellt werden. Unser Reiseführer zeichnet dagegen ein ganz anderes Szenario. Hier heißt es:
„Try to think of your trip to Iran as a cleansing experience for your body, away from nasty alcoholic toxins. This way you’ll feel better about not being able to get a drink.”
Wir sind weit davon entfernt. Egal ob Whiskey in Ardabil, Rosinenschnaps in Rasht, Bier in Teheran oder wie jetzt, irgendein hochprozentiges, nicht genau zu identifizierendes Getränk in Schiras – Alkohol scheint immer zugänglich zu sein. So viel wie im Iran haben wir auf unserer Reise bisher nirgendwo getrunken. Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil im Iran ein striktes Alkoholverbot besteht. Zuwiderhandlungen bestraft der Staat mit 80 Peitschenhieben, Geldbuße und Gefängnisaufenthalt. Selbst die Todesstrafe ist möglich, sollte man drei Mal mit Alkohol erwischt werden.
Während wir den Schnaps in kleinen Schlucken unsere Kehle hinab fließen lassen, verwandeln sich in Töpfen und Pfannen die vorbereiteten Lebensmittel langsam in duftende Speisen. Unter Juanas Anleitung bereiten wir eine chinesische Tomaten-Eier-Suppe zu, schmoren Salat, Auberginen, Kohl und Bohnen, kochen Kartoffeln und Fleisch. Mehr als ein halbes Dutzend verschiedene Geschmacksrichtungen servieren wir auf eine, im Wohnzimmer ausgebreitete Plastiktischdecke. Ihr fehlt die gewohnte Umgebung des Tisches; doch das stört niemanden von uns. Schüsseln und Dosen ersetzen die nicht ausreichend vorhandenen Teller.
Wir greifen wild durcheinander, reichen Gerichte durch den Raum, verteilen die Speisen an alle Hungrigen. Neben mir sitzt Hamed, ein junger Mann mit hoher Stirn und freundlichen Augen hinter einer schmalen Hornbrille. Überraschender Weise spricht Hamed ausgesprochen gutes Deutsch, das er sich im Selbststudium angeeignet hat. Er träumt davon irgendwann in Deutschland Ingenieurswesen zu studieren; vorausgesetzt er erhält ein entsprechendes Stipendium.
Hamed ist sehr interessiert an Deutschland, der Lebensweise, Kultur sowie Mentalität der Bevölkerung und wir versuchen ihm ein Bild unseres Heimatlandes zu verschaffen. Nach dem Essen lümmeln wir vollgefuttert auf dem weichen Wohnzimmerteppich und den weinroten Sofas entlang der Zimmerwände. Ein Fernseher auf einem rollenden Beistelltisch komplettiert die Ausstattung des Raumes.
Omid und Hadi bereiten einen Joint vor, der wenig später durchs Wohnzimmer wandert. Unsere Gespräche kreisen um das Leben in den vier Wänden, in denen wir uns befinden. Obwohl wir bereits seit einem Monat durch den Iran reisen, ist die Diskrepanz zwischen der hinter verschlossenen Türen zelebrierten privaten Freiheit um Alkohol, Marihuana und Obrigkeitskritik und den strengreligiösen Dogmen des öffentlichen Lebens für uns noch immer unerwartet.
Als junger Mensch in einer eigenen Wohnung zu leben, ist im Iran etwas Ungewöhnliches, Luxuriöses, Rebellisches. Die Familienbande sind stark und üblicher Weise leben Kinder bis zu ihrer Hochzeit mit den Eltern. Ashkan und Hamid bilden mit ihrer WG eine seltene Ausnahme. Das wissen sie und das wissen auch ihre Freunde. Die eigene Unabhängigkeit auf wenigen Quadratmetern teilen sie sich deshalb auch mit ihren Gefährten, die oft tagelang ununterbrochen bleiben. So sitzen sie zusammen im Wohnzimmer und wenn die Nacht herein bricht, schlafen sie hier alle auf dünnen Matratzen. Für die Jungs ist die WG ein Paradies, ein Schutz vor dem Wächterblick der iranischen Gesellschaft, aber auch vor dem konservativen Elternhaus, ein Stück verwirklichte Freiheit.
In unserer Mitte interessiert sich keiner der Freunde für Religion. Ihre Sorgen tragen viel mehr die Namen Arbeits- und Perspektivlosigkeit, die mit einer historisch schwachen Wirtschaftssituation einher gehen. Seit der islamischen Revolution 1979 hat sich die Bevölkerung im Iran verdoppelt. Fast 70 Prozent der Iraner sind jünger als 30 Jahre. Nur wenige von ihnen finden eine Beschäftigungsmöglichkeit. Auf dem iranischen Arbeitsmarkt fehlen Stellen für Millionen gut ausgebildeter Menschen.
Aber auch das Sozialverhalten leidet in der islamischen Republik. Ständig müssen Ashkan und seine Freunde auf der Hut sein, dass die Nachbarn nicht zu viel von all den ausländischen Gästen mitbekommen, die hier Dank der im Iran verbotenen Plattform Couchsurfing, ein und aus gehen. Das, so versichern die Jungs einstimmig, sei allerdings noch das geringste Problem.
Doch all die Schwierigkeiten der iranischen Wirklichkeit enden an der Türschwelle, weniger als zwei Meter von uns entfernt. Dahinter verlieren sich Ashkan, Hamid und die anderen in der freien Welt, die sie ihre Wohnung nennen. Auf knapp 40m² leisten sie den Repressionen der Außenwelt positiven Widerstand und wir genießen es, in ihrer Gesellschaft zu sein.
So wie hier haben wir bereits viele iranische Privaträume kennengelernt. Ungeachtet dem Willen der Mächtigen entstehen in iranischen Wohnungen oft Parallelgesellschaften zum öffentlichen Leben. Die Gedanken sind frei! Ashkan, Hamid und all die anderen sind aufgeschlossen, mit klarem Verstand. Sie können die Probleme in ihrem Land benennen, kritisch kommentieren und sachlich über Politik und Gesellschaft sprechen. Das klingt in unseren europäischen Ohren zunächst selbstverständlich, ist es in der iranischen Wirklichkeit aber absolut nicht. Wer sich öffentlich negativ über die Regierung äußert, dem drohen lange Haftstrafen.
Je weiter die Nacht voranschreitet, je weiter sich die Flüssigkeit in Amins alkoholfreien Bierflaschen dem Boden neigt, je duftender die Haschischwolken durchs Wohnzimmer gleiten, desto amüsanter, anekdotenhaften werden wir. Es stellt sich heraus, dass Hamed ein vorzüglicher Tänzer ist und unter tosendem Applaus tanzen er und Juana zu iranischer Volksmusik in unserer Mitte.
Erst als Mitternacht schon lange hinter uns liegt, lichtet sich unsere Gruppe. Während Amin und Hamed nach Hause gehen, bereiten Ashkan und Hamid ihr Schlafzimmer für Juana und uns vor. Die übriggebliebenen fünf Jungs machen es sich auf dem weichen Teppich im Wohnzimmer unter dicken Frotteedecken bequem.
Am nächsten Vormittag erwachen wir spät. Schwere Regentropfen klatschen an die Fensterscheiben, eine dunkelgraue, triste Wolkenfront hängt über der Stadt. Für unser Frühstück – Fladenbrot, Spiegelei und jede Menge süßer Chai – nehmen wir uns Zeit und lernen unsere Gastgeber noch ein bisschen besser kennen.
Schiras, die südliche Metropole, das kulturelle und intellektuelle Zentrum des Landes, ist ein Auffangbecken für die unterschiedlichen ethnischen Gruppen des Vielvölkerstaates Iran. Auch unsere neuen Freunde kommen aus ganz verschiedenen Ecken des Landes. Hamid, Ashkans Mitbewohner, ist der einzige echte Schirasi, also ein Einheimischer aus Schiras, und zugleich ein lebensfroher Perser. Die Geschichte seines Volkes auf dem Gebiet des heutigen Iran geht bis ins dritte Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zurück. Mittlerweile gehören sechs von zehn Iranern zur Ethnie der Perser, die vor allem in den Großstädten Teheran, Maschhad, Isfahan, Yazd und natürlich Schiras leben. Hamid, mit schulterlangem Haar und Dreitagebart, ist die coole Socke im Wohnzimmer. Immer lässig, immer gut gelaunt, immer einen lockeren Spruch auf den Lippen, aber auch immer um das Wohl der Gäste besorgt, ist er uns absolut sympathisch.
Ganz anders sind dagegen Omid und Hadi. Zwei Luren, deren Volksgruppe ausgehend vom zentralen Zagrosgebirge im Westen des Iran bis in den Südosten des Irak siedelt. Die Luren gelten als sehr stolzes Bergvolk und sind angeblich Nachfahren der ersten Siedler in dieser Region. Sie sprechen ihre eigene Sprache, eine Mischung aus Arabisch und Farsi und werden im Rest des Landes als unseriös und aufbrausend mit einem Hang zur Handgreiflichkeit charakterisiert. Tatsächlich ziehen auch Ashkan, Hamid und Sanjay immer wieder über die angebliche Aggressivität Omids und Hadis her. Machen Witze über Prügeleien und warnen uns lachend, niemals Streit mit den beiden anzufangen.
Dabei wirken Omid und Hadi etwas schüchtern, sprechen wenig, wohl auch, weil ihre Englischkenntnisse nicht ganz mit denen ihrer Freunde mithalten können. Omid trägt sein Haar nach hinten gekämmt, Hadi kurzgeschoren. Beide eint ein durchtriebener Blick, der sie wirklich etwas unberechenbar erscheinen lässt. Doch ihre Gesten zeugen von Zuneigung, ihr Lächeln ist herzlich.
Sanjay, der Vierte im Bund, ist ein großgewachsener Azari und Angehöriger der zweitgrößten ethnischen Gruppe im Iran. Azaris haben sich beinahe überall im Iran niedergelassen, doch beheimatet sind sie im Nordwesten des Landes, rund im Täbris und Ardabil. Aufgrund ihres türkischen Dialekts werden sie im Iran häufig als Türken bezeichnet und Sanjay macht auch gar keinen Hehl daraus, dass er sich selbst als Türke sieht.
Die vielen stolzen Ethnien des Landes ergießen sich immer wieder im Spott übereinander und auch zwischen den Jungs geht es ständig hin und her. Sanjay hat besondere Freude daran, Hamid als fabelhaftes Beispiel für die Menschen in Schiras zu beschreiben: faul und spaßsüchtig! „Das ist der Grund, warum uns alle lieben“, kontert Hamid stets belustigt. Die Jungs ziehen sich gegenseitig immer wieder auf und machen darüber hinaus noch Witze über Kurden, Araber, Turkmenen und alle anderen Volksgruppen im Iran.
Auch Ashkan ist Teil des Hohns. Er gehört zum nomadischen Stamm der Qashqa›i, dessen Wanderrouten in der Provinz Fars zwischen den Bergen des Zagrosgebirges nördlich von Schiras und den warmen Ebenen am Persischen Golf liegen. Bis zu 45 Tagen ziehen sie mit ihren Herden vom Sommer- zum Winterlager und legen dabei eine Strecke von fast 500 Kilometern zurück. Bereits seit dem 11. Jahrhundert leben die Qashqa›i im Iran, deren turkmenische Vorfahren aus Zentralasien hierher kamen.
Obwohl von staatlicher Seite viel Druck ausgeübt wird, wandern noch immer etwa zwei Millionen Nomaden durch den Iran. 400.000 von ihnen gehören zum Stamm der Qashqa›i, die stolz und unabhängig ihre Traditionen bewahren. Doch ihr Schicksal ist ungewiss. Trotz eines sehr genügsamen Lebensstils können die meisten Mitglieder des Stammes ihren Kindern kaum mehr als eine Behausung und Nahrung bieten. Es fehlt an qualifizierten Kräften, an Lehrern, Erziehern und Ausbildern. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder deshalb zur Schule in die Stadt.
Ashkan ist eines dieser Kinder, das von den Weiden in die Großstadt siedelte, um eine bessere Ausbildung zu erhalten. Die Schule hat er bereits beendet, den Militärdienst hinter sich gebracht und nun will er studieren.
Strahlend erzählt Ashkan von seinen Eltern, seiner Mutter, die täglich die Ziegen melkt, von seinem Vater, der mit seinen Onkeln die Herden treibt. Er zeigt uns Fotos seiner Tanten, die sie beim Teppichweben abbilden. Alle Frauen tragen lange, mit hübschen Stickereien verzierte Kleider in leuchtenden Farben. Es sind die traditionellen Gewänder der Qashqa›i, die noch immer zum Alltag gehören. Der Familienzusammenhalt der Qashqa›i ist selbst für iranische Verhältnisse besonders stark ausgeprägt. Die Mitglieder des Stammes helfen sich untereinander so gut sie können. Auch Ashkan war es nur deshalb möglich in die Stadt zu ziehen, weil er in Schiras bei einer Familie seines Stammes leben konnte, die ihn bei allem unterstützte.
Jetzt fühlt er sich jedoch hin und her gerissen. Er ist dankbar für die Chance, die ihm gegeben wurde, kann sich aber auch kein dauerhaftes Leben als Nomade vorstellen. Ashkan, der bescheidene, gutmütige Mann, steckt fest zwischen der liebgewonnenen Moderne und der Loyalität zur Familie.
Wir haben bereits drei Kannen Chai auf dem Wohnzimmerboden ausgetrunken, als der Regen über der Stadt langsam nachlässt. Zusammen mit Ashkan, Hadi und Juana beschließen wir, Schiras zu erkunden.
Doch davon lest ihr mehr im zweiten Teil unseres Porträts über Schiras, die Stadt der schönen Künste…
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Wunderschön diese Bilder wieder zu sehen und die Berichte zu lesen. Ich war das erste Mal noch während des Khomeini Regimes in Schiraz und anderen Teilen des Irans. Damals wurde man als ausländische Frau noch wie das 8. Weltwunder bestaunt 🙂 und es war nicht ganz einfach zu reisen. Nun hat sich ja Gott sei Dank doch schon einiges geändert.
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