Ritt des Donnerdrachens

Ich kann mei­nen Blick nicht abwen­den! Von den Berg­spit­zen, die unter und neben uns vor­bei­zie­hen. Erha­ben sitzt der Mount Ever­est, in weiss geklei­det, zwi­schen sei­nen klei­ne­ren Kum­pa­nen. Lhot­se, Makalu und wie sie alle heis­sen. Die Hima­la­ya Berg­ket­te von oben zu sehen ist wahn­sin­nig schön und hat etwas Magi­sches.

Wenig spä­ter folgt ein prä­zi­ser Sink­flug zwi­schen die Berg­flan­ken. Ent­lang des Paro Tals, wel­ches sich wie der Fluss, der jetzt unter uns rauscht und der sich einst sei­nen Weg zwi­schen die Fel­sen gefres­sen hat, den Ber­gen ent­lang win­det. Dann flie­gen wir um eine Rechts­kur­ve Paro an, dabei schei­nen die Flü­gel des Air­bus die Ber­ge links und rechts zu berüh­ren. Ein paar Minu­ten spä­ter rum­peln wir über die Lan­de­bahn, vor­bei an tra­di­tio­nel­len Häu­sern, die nur einen Stein­wurf von der Lan­de­bahn weg ste­hen. „Wel­co­me to Bhu­tan Inter­na­tio­nal Air­port“ Das klei­ne Land sorgt von Anfang an für Spek­ta­kel!

Der Flug­ha­fen ist über­sicht­lich und die Ein­rei­se­for­ma­li­tä­ten sind schnell erle­digt. Dann wer­de ich von Tan­din, mei­nem Rei­se­be­glei­ter, der Betel­nüs­se kau­end auf mich war­tet, herz­lich emp­fan­gen. Auf dem Weg in die Stadt fah­ren wir vor­bei am erha­be­nen Paro Dzong, einer für das Land typi­schen Klos­ter­bur­gen, und mir fällt die tra­di­tio­nel­le Bau­wei­se aller Gebäu­de auf: Jedes Haus hat reich ver­zier­te, höl­zer­ne Dach‑, Fens­ter- und Tür­bal­ken und wirkt als stün­de es schon hun­der­te von Jah­re hier. Sogar im klei­nen, jedoch geschäf­ti­gen Stadt­zen­trum von Paro sind die Häu­ser tra­di­tio­nell. Die Ein­drü­cke kol­li­die­ren mit denen aus Kath­man­du, von wo aus ich erst vor drei Stun­den abge­flo­gen war. Die Stadt ist rie­sig und es wird wild durch­ein­an­der gebaut, das Tra­di­tio­nel­le oft ohne Skru­pel abge­ris­sen und moder­ni­siert. Die Bhu­ta­ner schei­nen beson­ne­ner. Dies nicht ganz ohne Grund: Ihr König­reich ist mit mit sei­nen 38’394 km² klei­ner als die Schweiz und liegt nicht nur zwi­schen den höchs­ten Ber­gen der Welt, son­dern auch zwi­schen den Super­mäch­ten Chi­na und Indi­en ein­ge­bet­tet, die gemein­sam um die 3 Mil­li­ar­den Ein­woh­ner haben. „Ein geo­po­li­ti­scher Alp­traum“ sagt Tan­din und denkt dabei an die einst unab­hän­gi­gen Nach­barn Sik­kim oder Tibet. Daher tue Bhu­tan mit sei­nen knapp 800’000 Bewoh­ner gut dar­an, sei­ne Kul­tur aktiv zu erhal­ten, ist er über­zeugt.

 

 

All Inklu­siv

Wie alle dar­auf­fol­gen­den Näch­te auch, ver­brin­ge ich die ers­te Nacht in einem schi­cken Hotel. Es ist jenes ein­drück­li­che Holz­ge­bäu­de, wel­ches 1974 als ers­tes Hotel des Lan­des gebaut wur­de. Damals wur­den zur Krö­nung des vier­ten Mon­ar­chen, die ers­ten 287 Aus­län­der ins Land gelas­sen und somit das ers­te Hotel Bhu­tans gebaut. Seit­her hat sich das Land der moder­nen Welt nur lang­sam geöff­net. Das Fern­se­hen wur­de zum Bei­spiel in Bhu­tan erst 1999 ein­ge­führt und somit hat sich das König­reich des Don­ner­dra­chens als letz­tes Land der Welt vor die Glot­ze gesetzt. Ich bin von der Ein­zig­ar­tig­keit, die mir über­all ent­ge­gen­kommt fas­zi­niert, gleich­zei­tig aber auch etwas skep­tisch.

Sich als Rei­sen­der in Bhu­tan auf­zu­hal­ten, kos­tet pro Tag min­des­tens 250 US-Dol­lar. Die auf den ers­ten Blick hohen Kos­ten ent­hal­ten den Lohn für den loka­len Rei­se­lei­ter, ohne den es nicht mög­lich ist das Land zu berei­sen, das Begleit­fahr­zeug, sämt­li­che Mahl­zei­ten und Hotel­über­nach­tun­gen (mind. in 3 Ster­ne Hotels), sowie alle Ein­trit­te in Tem­pel, Muse­en und Natio­nal­parks. In mei­nem Fall kom­men für die Motor­rad­mie­te und das Ben­zin pro Tag zusätz­li­che Kos­ten hin­zu.

Ich fra­ge mich, wie es wäre, wenn jedes Land so viel pro Tag ver­lan­gen wür­de? Was ist hier so spe­zi­ell, dass die­ser Preis gerecht­fer­tigt ist? Was bekommt man als Rei­sen­der für die­ses Geld wirk­lich gebo­ten? Wozu ver­wen­det die Regie­rung die­se Ein­nah­men? Und war­um darf ich nicht allei­ne her­um­rei­sen? Fra­gen, auf die ich in den nächs­ten Wochen eine Ant­wort bekom­men wer­de. Jetzt aber freue ich mich erst mal auf 10 Tage Motor­rad­fah­ren und schla­fe erschöpft von der lan­gen Anrei­se schnell ein.

 

 

Ver­gan­gen­heit und Zukunft sind heu­te

Mei­ne letz­te Enfield fuhr ich vor 20 Jah­ren. Ich kauf­te das Ding in Chen­nai und fuhr damit wäh­rend meh­re­ren Mona­ten quer durch Indi­en. Die neu­en Roy­al Enfield Bul­lets, die nun vor uns ste­hen, sind etwas moder­ner. Frü­her wur­de mit dem lin­ken Fuss gebremst und mit dem rech­ten geschal­tet. Die Bul­let mit der ich jetzt unter­wegs bin, ist im Gegen­satz dazu so zu fah­ren wie jedes ande­re Motor­rad auch. Und eben doch auch nicht. Das Geräusch, wel­ches die Maschi­nen machen, sobald wir den Schlüs­sel in der Zün­dung dre­hen, klingt nach Nost­al­gie und bringt mich zum Lächeln. „Toll nicht?“ pflich­tet litt­le Tan­din mei­ner Begeis­te­rung bei und setzt sich den Helm auf. Tan­din ist, wie fast jeder Name in Bhu­tan, ein so häu­fi­ger Name, dass mein Motor­rad­be­glei­ter und Ange­stell­ter des Rei­se­lei­ters, des gros­sen Tan­dins, der Ein­fach­heit hal­ber von allen litt­le Tan­din genannt wird. Sowie­so kennt man in Dzongkha, der Lan­des­spra­che nur rund 50 Namen. Bereits da zeigt sich mir zum ers­ten Mal, wie wich­tig Tra­di­tio­nen den Men­schen hier sind.

 

 

Die Son­ne scheint und wir ver­las­sen die Haupt­stadt Thim­phu, wo uns die Motor­rä­der aus­ge­hän­digt wur­den, auf der Haupt­stras­se in Rich­tung Osten. Noch sind die Stras­sen geteert und in gutem Zustand. Rechts und links tür­men sich Ber­ge auf und auch wir stei­gen Kur­ve um Kur­ve höher. Die 500 CC Maschi­nen machen locker mit und bald habe ich mich auch an die Gang­schal­tung der Bul­let gewohnt. Die Moto­ren dröh­nen lieb­lich in mei­nen Ohren, am Stras­sen­rand ste­hen Föh­ren und Kie­fer Spa­lier und die kur­ven­rei­che Stras­se macht gros­sen Spass. Bloss eine Stun­de spä­ter haben wir den 3’125 Meter hohen Dochu-La erreicht. Der ers­te Pass ist geschafft. Wir sind rela­tiv früh dran und so ist die Fern­sicht noch klar. Die bei­den Tan­dins zei­gen auf die Sie­ben­tau­sen­der, deren schnee­be­deck­te Gip­fel in der Fer­ne glän­zen. Über­all flat­tern bud­dhis­ti­sche Gebets­fah­nen im Wind und wie auf einem rie­si­gen Ver­kehrs­krei­sel ste­hen in der Mit­te 108 Stu­pas. Bud­dhis­mus, so wird schnell klar, ist in Bhu­tan nicht nur eine Reli­gi­on. Es ist eine Lebens­wei­se und über­all prä­sent.

 

 

Hin­ter dem Pass wird der Ver­kehr merk­lich ruhi­ger. Unten im Tal ange­kom­men, geht es dem Fluss ent­lang. Flüs­se prä­gen, nebst Berg und Wald, das Land­schafts­bild Bhu­tans am meis­ten. Sie ent­sprin­gen den Glet­schern im Nor­den des Lan­des und sind glas­klar. Wie ein tür­kis­far­be­nes Band zieht sich Puna Tsa­ng Chu mal wild, mal ruhig durchs Tal.

Hier besu­chen wird laut den bei­den Tan­dins das schöns­te und ältes­te Klos­ter des Lan­des. Der Dzong von Punak­ha zählt zu den Wich­tigs­ten des Lan­des Neben ein paar Rei­sen­den besu­chen über­wie­gend in Trach­ten geklei­de­te Frau­en und Män­ner, die Tem­pel­an­la­ge.

Die hohen weis­sen Mau­ern leuch­ten im Son­nen­licht und wie wir über die brei­te Tür­schwel­le am Ein­gang tre­ten, lan­den wir schein­bar in der Ver­gan­gen­heit. Die Mön­che leben hier nach den glei­chen Ritua­len wie im 17. Jahr­hun­dert, als die Klos­ter­an­la­ge ent­stand. Aus dem Tem­pel drin­gen ein­lul­len­de Man­tras, die immer wie­der vom Klang der Muschel­hör­ner und Getrom­mel unter­bro­chen wer­den. But­ter­lam­pen fla­ckern vor beein­dru­cken­den Got­tes­bil­dern und die Mön­che sin­gen sich mit dem Ober­kör­per wie­gend schein­bar in eine Art Tran­ce­zu­stand. Tritt man aus dem Tem­pel­raum in den Innen­hof der mäch­ti­gen Anla­ge, weicht der reli­giö­se Ernst der Mön­che einer Unbe­schwert­heit. Sie albern mit­ein­an­der her­um und hie und da fliegt ein Gewand­zip­fel durch die Luft, wenn ein Novi­ze vor dem ande­ren im Spiel davon­rennt.

Wer genau hin­schaut, erkennt, dass die meist jun­gen Mön­che unter den tra­di­tio­nel­len roten Roben Snea­k­ers und ein Mobil­te­le­fon tra­gen. Die Bhu­ta­ner schei­nen Ver­gan­gen­heit und Zukunft gleich­zei­tig zu leben. „Wenn wir unse­re Tra­di­tio­nen nicht schüt­zen, ver­lie­ren wir unse­re Iden­ti­tät,“ beant­wor­tet Tan­din mei­ne Fra­ge nach dem Ein­fluss aus dem Wes­ten, der mit der Ver­brei­tung des mobi­len Inter­nets schnel­ler vor­an­schrei­tet als je zuvor. Daher sei das Land sehr dar­auf bedacht Tra­di­tio­nen aktiv auf­recht zu hal­ten. „Natür­lich weiss die jün­ge­re Gene­ra­ti­on mehr über das Leben aus­ser­halb Bhu­tans. Aber was uns aus­macht, ist die Art und Wei­se wie Bhu­tan Ent­wick­lun­gen annimmt und sie mit den tra­di­tio­nel­len Wer­ten zu einer neu­en Tra­di­ti­on ver­schmilzt, ohne sei­ne Ver­gan­gen­heit zu ver­ges­sen.“

Ich weiss sofort was Tan­din meint. Was pas­siert, wenn Ent­wick­lungs­län­der nur nach vor­ne schau­en, ohne sich ihrer eige­nen Wer­te wirk­lich bewusst zu sein, sah und sehe ich immer wie­der in Sri Lan­ka, mei­ner alten Hei­mat. Alte Tra­di­tio­nen haben kei­nen Platz mehr. Ein Punkt mehr, war­um ich den „kul­tu­rel­len Pro­tek­tio­nis­mus“ des klei­nen König­rei­ches lang­sam zu ver­ste­hen begin­ne.

 

 

Demo­kra­tie wider Wil­len

Bevor es am nächs­ten Tag wei­ter in Rich­tung Osten geht, erkun­di­gen wir das Gaza Tal. Die Rei­se­fel­der sind jetzt im Dezem­ber braun, weil die Ern­te im Herbst ein­ge­holt wor­den ist, aber der Him­mel ist klar und das Wet­ter tro­cken. Wir kom­men nur lang­sam vor­wärts, die Enfields rum­peln durch Schlag­lö­cher und wir müs­sen immer wie­der wegen Maul­tie­ren, die auf der Stras­se her­um­lüm­meln abbrem­sen. Aber die Aus­sich­ten sind so atem­be­rau­bend, dass das lang­sa­me Tem­po kei­ne Rol­le spielt. Wir befin­den uns im Gebiet des gröss­ten Natio­nal­park Bhu­tans. In den Wäl­dern sol­len noch Tiger, rote Pan­das und wei­ter oben auf den Berg­spit­zen sogar Schnee­leo­par­den her­um­strei­fen. Alle öko­no­mi­schen Inter­es­sen wer­den in Bhu­tan dem Natur­schutz unter­ge­ord­net; so ste­hen 42% des Lan­des unter Schutz und es wird streng dar­auf geach­tet, dass 72% des Lan­des von Wald bedeckt sind. Der vier­te König habe die­se Regeln ein­ge­führt, erzählt Tan­din beim Lunch. Die end­los schei­nen­den Wäl­der, die sich über die Berg­hän­ge ent­lang der Stras­se zie­hen, absor­bie­ren sogar drei­mal mehr Schad­stof­fe, als das Land pro­du­ziert. Somit bleibt Bhu­tan das ein­zi­ge Koh­len­di­oxid nega­ti­ve Land der Welt.

Tan­din deu­tet auf das Bild des aktu­el­len 5. Königs, Jig­me Khe­sar Nam­gyel Wang­chuck, wel­ches im klei­nen Restau­rant an der Wand hängt und fährt fort: „Ich bin mit ihm zur Schu­le gegan­gen. Er erhielt immer die glei­chen Auf­ga­ben und Tests wir wir ande­ren auch.“ Tan­din ging nicht nur mit dem zukünf­ti­gen König in die glei­che Klas­se, er war sogar einer der vier klügs­ten Schü­ler, die immer um den Prin­zen her­um sein muss­ten. „Neu­lich traf ich den König per Zufall in einem Hotel und er hat mich tat­säch­lich noch erkannt!“

„Und wie ist er so?“ fra­ge ich und erhal­ten eine Ant­wort, die mir wohl fast jede und jeder hier geben wür­de: „Er war ein intel­li­gen­ter Stu­dent und ist heu­te ein dyna­mi­scher König, den wir alle ver­eh­ren.“ Auch der erst 20-jäh­ri­ge litt­le Tan­din nickt und sagt: „Unser König hat eine wun­der­ba­re Aus­strah­lung. Sei­ne Aura ist sehr schön.“ Wenn die Eng­län­der die Queen ver­eh­ren, dann ver­göt­tern die Men­schen Bhu­tans ihre Königs­fa­mi­lie vol­ler Ehr­furcht. Jig­me Khe­sar Nam­gyel Wang­chuck und sein Vater sind durch­aus beson­de­re Män­ner. Bei sei­nem Amts­an­tritt 2006 über­nahm der aktu­el­le 5. König von sei­nem Vater nicht nur das Amt, son­dern auch die vom Vater dik­tier­te Auf­la­ge die Mon­ar­chie abzu­schaf­fen und, not­ta bene, gegen den Wil­len des Vol­kes die Demo­kra­tie ein­ge­führt. Aber wenn der König befielt, man müs­se ab jetzt wäh­len gehen, so wir dies gemacht. Heu­te ist die Demo­kra­tie 10 Jah­re jung und wür­de wohl in einer demo­kra­ti­schen Abstim­mung vom Volk selbst wie­der abge­schafft wer­den. „Wir hät­ten immer noch lie­ber den König,“ sagen mei­ne Rei­se­be­glei­ter uni­so­no und spre­chen damit für eine Mehr­heit der Bevöl­ke­rung.

 

 

Ein­la­dung zum But­ter­tee

Es ist mein vier­ter Tag in Bhu­tan. Umso wei­ter gegen Osten wir fah­ren, umso weni­ger ande­re Rei­sen­de tref­fen wir, den nur ein Bruch­teil der Besu­cher neh­men sich die Zeit so weit zu fah­ren. In einer Art Ebe­ne, wo das Tal für ein­mal etwas brei­ter ist und Chi­li­fel­der sich ent­lang des Flus­ses rei­hen, dre­he ich und fah­re ein Stück zurück, um ein Foto zu schies­sen. Ein Mann der zu Fuss unter­wegs ist, beginnt mit mir zu Spre­chen. Ein paar Kin­der gesel­len sich dazu und wir kom­men ein­fach ins Gespräch, da alle ein wenig Eng­lisch spre­chen. Nach einer Wei­le ver­ab­schie­de ich mich und will los­fah­ren. Ich stei­ge auf und zie­he Helm und Hand­schu­he (es ist emp­find­lich frisch) an. Als ich das Motor­rad star­te, fühlt es sich unge­wohnt an. „War­um ist die Maschi­ne plötz­lich so schwer­fäl­lig?“, fra­ge ich mich und sehe dann im Rück­spie­gel das ver­schmitz­te Grin­sen des Man­nes auf­blit­zen, mit dem ich eben gespro­chen habe. Wir ver­fal­len bei­de in schal­len­des Geläch­ter über sei­ne Zuver­sicht, dass der Frem­de ihn schon nach Hau­se fah­ren wer­de. Ich erklä­re ihm, dass ich lei­der in ande­re Rich­tung unter­wegs bin. Als er laut lachend wie­der abge­stie­gen ist und ich win­kend davon­ge­fah­ren bin, über­le­ge ich es mir doch anders. Ich infor­mie­re mei­ne bei­den Tan­dins und wir fah­ren zurück, um dem Mann mit- und sei­ne Ein­la­dung zum Tee anzu­neh­men. Dank den bei­den Män­nern, die mich beglei­ten, erhal­te ich beim Besuch von Sonams Haus vie­le Ein­bli­cke ins Leben der ein­fa­chen Leu­te.

Jedes bhu­ta­ni­sche Haus besteht aus drei Stock­wer­ken. Unten ist der Stall, in der Mit­te sind die eigent­li­chen Wohn­räu­me und im obers­ten Stock wer­den Vor­rä­te auf­be­wahrt. Wobei hier eini­ge Vor­rä­te auch direkt über den Herd­plat­ten bau­meln. Ein paar geräu­cher­te Zie­gen­bei­ne hän­gen von der Die­le her­un­ter. An der Küchen­wand ste­cken metal­le­ne Schöpf­kel­len mit ver­zier­ten Stie­len. Im Ofen fla­ckert ein Feu­er, die Tee­kan­ne, aus­ge­beult aber glück­lich, bringt in ihrem Bauch das Was­ser für den But­ter­tee lang­sam zum Kochen. Wür­de da nicht noch der Stab­mi­xer im Regal ste­hen und ein klei­nes Radio zwi­schen den Holz­bal­ken ein­ge­klemmt sein, ich wür­de wie­der glau­ben mich in der Ver­gan­gen­heit zu befin­den. Wie auch im Klos­ter ver­schmel­zen hier Ver­gan­gen­heit und Zukunft zu einem. Als ich beim Ver­las­sen des Hau­ses den dicken Vor­hang bei­sei­te­schie­be, sehe ich am Tür­knopf ein schon fast antik erschei­nen­des Vor­hän­ge­schloss. „Wie alt ist das Schloss?“ fra­ge ich Sonam. Er zuckt die Schul­tern. „So alt wie das Haus.“ „Und wie alt ist das Haus?“ Er zuckt noch­mals mit dem Schul­tern. „Ich weiss es nicht, es stand schon immer da.“ Es scheint fast als wür­den die Men­schen hier den Lauf der Zeit nicht so ernst neh­men wie in der rest­li­chen Welt.

 

 

Glau­be oder Aber­glau­be?

Schnell sind Tan­din und litt­le Tan­din zu mei­nen Freun­den gewor­den und in den Gesprä­chen mit ihnen wird mir klar: Sie sind nicht etwa wie die Rei­se­be­glei­ter in Chi­na, die äus­sers­te Spit­ze eines Über­wa­chungs­staa­tes. Nein, sie sind offi­zi­el­le Gast­ge­ber ihres beson­de­ren Lan­des, sie über­set­zen mehr als nur die Spra­che. Sie sind Wis­sens­ver­mitt­ler und Geschich­ten­er­zäh­ler. „Die­ser behaar­te Penis, den du an fast allen Häu­sern ange­malt siehst,“ beginnt die Geschich­te heu­te, „er ist ein Sym­bol für Frucht­bar­keit und hält das Böse fern.“ Begrün­der der zahl­rei­chen Phal­lus­sym­bo­le ist Drug­pa Kyn­ley, bekannt als der Hei­li­ge Narr, der den Men­schen in Bhu­tan im 15. Jahr­hun­dert lern­te, dass Spi­ri­tua­li­tät und Lust kei­ne Gegen­sät­ze sind und dies bes­ser sei, als die Dop­pel­mo­ral der Reli­gi­on. In jeg­li­chen Geschich­ten, die vom tibe­ti­schen Mönch erzäh­len, geht es um Sex und Alko­hol. Mit sei­nem Penis soll er einst sogar einen Dämon in die Flucht geschla­gen haben und so ist seit­her das Phal­lus­sym­bol zu einem der wich­tigs­ten Sinn­bil­der der klei­nen Nati­on gewor­den. Zwi­schen Aber­glau­be und Glau­be wird in Bhu­tan eine dün­ne Linie gezo­gen. Die Ernst­haf­tig­keit mit der Tan­din die Geschich­te des omni­prä­sen­ten männ­li­chen Glie­des erzählt, deu­tet dar­auf hin, dass auch er an die Schutz­kraft des Bild­nis­ses glaubt.

Ande­re Gedan­ken, wie das Men­schen durch ein Unglück zu Aus­sät­zi­gen wer­den und man nichts mehr von ihnen anneh­men darf, sind hin­ge­gen schwie­ri­ger. Da kann es durch­aus vor­kom­men, dass sich der in Oxford stu­dier­te König dem Pro­blem per­sön­lich annimmt. Eine alte Frau wur­de von ihrer Dorf­ge­mein­schaft aus­ge­schlos­sen, weil sie zur Gif­ti­gen, einer Hexe, erklärt wor­den war. Wer sie berührt oder etwas in ihrem Haus isst, wird ster­ben, glaub­te das gesam­te Dorf und zum Schluss auch sie selbst. Als der König von der Geschich­te erfuhr, mach­te er sich auf ins Dorf, setz­te sich in die Küche der Frau und befahl ihr, ihm etwas zu Essen zu ser­vie­ren. Er ass Eier und trank Alko­hol, laut Legen­de die zwei gif­tigs­ten Din­ge über­haupt, und sag­te zur Frau: “Dein Speis und Trank tötet nie­man­den. Soll­te je wie­der jemand zu dir so was sagen, ant­wor­te ihnen der König höchst per­sön­lich hät­te in dei­nem Haus geges­sen.“ Was wie ein Mär­chen klingt, ist in Bhu­tan Rea­li­tät. „That’s how our King is!“ sagen sie und begin­nen bereits mit der nächs­ten Geschich­te. Die Hoch­ach­tung fürs Königs­haus, das schein­bar so vie­les rich­tig­macht, steckt lang­sam auch mich an.

 

 

Motor­rad­fah­ren ist hier wie wan­dern

Immer wie­der wird die Stras­se jetzt so schlecht, dass wir im dicken Schlamm ste­cken blei­ben und uns nur lang­sam vor­wärts kämp­fen. Eigent­lich soll­te der Aus­bau der einen Haupt­stras­se, die von West nach Ost führt, Ende 2017 been­det sein. Aber die letz­ten Par­la­ments­wah­len sind Geschich­te und es inter­es­siert nie­man­den der Poli­ti­ker mehr, wann die Bau­ar­bei­ten tat­säch­lich been­det sind. Fürs Aben­teu­er ist es spas­sig. Für die Men­schen, die hier leben etwas weni­ger. Aber prag­ma­tisch wie sie sind, fin­den die Bhu­ta­ner immer eine Lösung. Es dau­ert mal wie­der bis der Bus kommt, weil die Stras­se so schlecht ist? Kein Pro­blem, schnell am Stras­sen­rand ein Feu­er gemacht, um nicht zu frie­ren. So geht Geduld in die­sem Land, zwi­schen den hohen Ber­gen.

Als wir in Rich­tung des 3800 Meter hohen Thum­sin­g­la Pass fah­ren, zieht Nebel über die Bäu­me und wir fah­ren durch eine mys­ti­sche Land­schaft. Es dau­ert nicht lan­ge, dann liegt Schnee. Vor­sich­tig fah­ren wir den Kur­ven ent­lang wei­ter. Redu­zie­ren das Tem­po. Auch sonst fährt man in Bhu­tan nicht schnell, 60kmh ist die vor­ge­schrie­be­ne Höchst­ge­schwin­dig­keit. Denn die Haupt­stras­sen sind hier so eng, wie in Euro­pa klei­ne Feld­we­ge. Zudem gibt es unge­fähr so vie­le Schlag­lö­cher wie Kur­ven, sprich Tau­sen­de.

Wir hol­pern lang­sam durch Schnee und Nebel. Der noch uner­fah­re­ne Motor­rad­fah­rer litt­le Tan­din fährt vor mir und als ich spü­re wie die Räder auf Eis tref­fen, tut Tan­din das­sel­be, bremst ab und fällt hin. Sekun­den­bruch­tei­le spä­ter lie­ge ich eben­falls im Schnee. Wir kämp­fen uns noch ein paar Kilo­me­ter wei­ter, fal­len noch ein paar­mal hin, dann als die Stras­se stei­ler wird und Schnee­ge­stö­ber uns die Sicht ver­deckt, müs­sen wir unser Vor­ha­ben für heu­te abre­chen.

Aber Bhu­tan fas­zi­niert mich als Motor­rad­fah­rer mit sei­nen unend­li­chen Kur­ven – es gibt kei­nen Kilo­me­ter gera­de Stras­sen. Und man fährt meist hoch oder run­ter – auf dem höchs­ten Pass, dem Che­le-La bis auf knapp 4000 Höhen­me­ter – und dabei trifft man auf wenig Ver­kehr. Fast fühlt sich die Motor­rad­tour hier wie eine Wan­de­rung an, weil man sich kon­stant inmit­ten einer ein­drück­li­chen Berg­land­schaft befin­det.

Nach neun Tagen Fahr­spass geht es für mich schliess doch zu Fuss zum High­light, von wel­chem ein jeder schon gehört hat: Takt­sang, das Tiger­nest klebt wie ein Adler­horst an der Fels­wand und ist ein fas­zi­nie­ren­des Klos­ter, das für die Lands­leu­te einer der wich­tigs­ten Pil­ger­or­te ist. Davon zeu­gen die unend­lich vie­len Gebets­fah­nen, die zwi­schen Bäu­me, über den Weg und an die Fel­sen gebun­den sind. Das Flat­tern der Fah­nen beglei­tet den Wan­de­rer, wie das Gezwit­scher der Vögel bis vor die Tore der Anla­ge. Der Weg ist anstren­gend, die Aus­sicht über bewal­de­te Hügel gran­di­os. Das Klos­ter in echt zu sehen, ist fas­zi­nie­rend und über­wäl­ti­gend. Hier hat es ver­hält­nis­mäs­sig vie­le Tou­ris­ten, aber trotz­dem sieht der Rei­sen­de kei­ne Phä­no­me­ne des Mas­sen­tou­ris­mus. Es gibt genau ein klei­nes Restau­rant und auch hier wird haupt­säch­lich die Leib­spei­se aller Bhu­ta­ner ser­viert: Chi­li in Käse­sauce.

 

Im Land des Glücks

Bereits vor mei­ner Rei­se nach Bhu­tan hat­te ich gehört, dass im klei­nen Land das Brut­to­so­zi­al­glück mehr zählt als das Brut­to­so­zi­al­pro­dukt. Damit soll ein Geleich­ge­wicht zwi­schen mate­ri­el­lem Fort­schritt und spi­ri­tu­el­lem Wohl­erge­hen geschaf­fen wer­den. Anstatt nur das Ver­mö­gen zu mes­sen, wird in Bhu­tan auch dar­auf geach­tet wie sich die Men­schen füh­len. Sind die Bhu­ta­ner also tat­säch­lich glück­li­cher als wir alle ande­ren? Schwie­rig zu sagen. Denn ein Para­dies ist auch Bhu­tan nicht. Das Land macht vie­les rich­tig, zählt aber trotz­dem zu einem der ärms­ten Län­dern Asi­ens. Immer noch lebt mehr als ein Drit­tel der Men­schen in Armut. Noch haben ein Drit­tel der Haus­hal­te kei­nen Strom und es gibt auch hier Kor­rup­ti­on, Dro­gen und Kri­mi­na­li­tät. Aber was viel­leicht einen gros­sen Teil des per­sön­li­chen Glücks der Men­schen hier aus­macht, ist die star­ke Iden­ti­tät mit ihrer Kul­tur. Jede und jeder, dem ich begeg­ne, ist glück­lich in Bhu­tan zu leben. Jedem ist die Natur wich­tig und Bil­dung scheint bis ins hin­ters­te Tal zu rei­chen. Ein Jun­ge irgend­wo in einem klei­nen Dorf spricht in per­fek­tem Eng­lisch mit mir, sei­ne Mut­ter ist eine ein­fa­che Stras­sen­ar­bei­te­rin, der er, als wir die bei­den Tref­fen, gera­de dabei hilft den Stras­sen­gra­ben von Schlamm zu befrei­en.

Ich war auf die­ser Rei­se immer wie­der beein­druckt vom klei­nen König­reich, wel­ches kaum Indus­trie hat und den Natur­schutz als obers­te Prio­ri­tät betrach­tet. Nach 10 Tagen, die täg­lich min­des­tens 250 Dol­lar kos­ten, ver­ste­he ich war­um der Tou­ris­mus durch die hohen Kos­ten begrenzt wird und wie ein Teil des Gel­des direkt für die nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung des Lan­des ver­wen­det wird. Es gibt kei­ne häss­li­chen Hotel­über­bau­un­gen aus Beton­bun­ker, es gibt kei­ne Fast­food-Ket­ten, kei­ne hun­der­te von Rei­se­an­bie­ter, die sich gegen­sei­tig die Prei­se nach unten drü­cken. Es gibt ihn hier bewusst nicht, den Mas­sen­tou­ris­mus, den die Welt der Bhu­ta­ner mit sei­nen ganz eige­nen Wer­ten über­ren­nen wür­de.

Tan­din sag­te ein­mal zu mir: „Wir obli­ga­to­ri­schen Reis­be­glei­ter sind da, um Euch unse­re Kul­tur zu zei­gen und zu ver­mit­teln war­um Bhu­tan, das übri­gens nie kolo­nia­li­siert war, so anders ist. Ich hof­fe, wir machen unse­re Arbeit gut.“ Ja, Tan­din und litt­le Tan­din, das macht ihr. Sehr sogar.

 

Wer Lust hat, kann im November/​ Dezem­ber 2018 Bhu­tan gemein­sam mit Dylan Wick­ra­ma ent­de­cken: www.ride2xplore.com

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