Die Stadt, in der sich die Geschichte spiegelt

Rustavi, 25 Kilo­me­ter süd­öst­lich von Tbi­li­si, ist die viert­größ­te Stadt Geor­gi­ens – und zieht wahr­schein­lich trotz­dem kaum aus­län­di­sche Besu­cher an. Wenn jemand kommt, dann wegen des größ­ten Auto­mark­tes im Süd­kau­ka­sus und nicht, weil die Stadt so hübsch ist. Rustavi fin­det sich wohl kaum in einem Rei­se­füh­rer wie­der, und beher­bergt auch kei­ne tou­ris­ti­sche Attrak­ti­on. Trotz­dem ist die Stadt eine Rei­se wert, denn sie illus­triert die Geschich­te Geor­gi­ens wie wohl kei­ne ande­re.

Nach einer rela­tiv kur­zen Masch­rut­ka-Fahrt, vor­bei an den wei­ßen Gip­feln des Gro­ßen Kau­ka­sus, die einen ewi­gen Hin­ter­grund zu fast jeder geor­gi­schen Land­schaft bie­ten, lan­den wir zwi­schen Plat­ten­bau­ten. Plat­te an Plat­te an Plat­te. Und eine davon her­un­ter­ge­kom­me­ner als die ande­re. Dazwi­schen lee­re Spiel­plät­ze, klei­ne Läden im Erd­ge­schoss, eine Bau­stel­le. Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit macht sich breit – unse­re Geor­gi­en-erfah­re­ne Freun­din hat­te die Stadt ganz anders in Erin­ne­rung. »Mit dem Rat­haus und so einem Platz«, erklärt sie einem Pas­san­ten mit Hän­den und Füßen, und die­ser setzt uns glück­li­cher­wei­se direkt in ein Taxi. »Das sind Tou­ris­ten, die wis­sen nichts«, bekommt der Fah­rer als Info über uns, und wir fah­ren erst ein­mal aus der Stadt her­aus, ein paar Minu­ten durchs Nir­gend­wo, bevor wir tat­säch­lich auf einem hüb­schen Platz lan­den, mit gro­ßen Gebäu­den rings­um.

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Wir fin­den her­aus, dass Rustavi aus zwei Tei­len besteht, die äußer­lich rein gar nichts gemein haben. Wäh­rend die eine Hälf­te der Stadt nur Plat­ten­bau­ten beher­bergt, gibt es in der ande­ren haupt­säch­lich gro­ße, teils recht präch­ti­ge Gebäu­de, denen man die Archi­tek­tur der Sowjet-Zeit ansieht. Trotz­dem sind bei­de Tei­le gleich­zei­tig ent­stan­den, als Rustavi 1944 kom­plett neu aus dem Boden gestampft wur­de. Zwar gab es dort bereits vor­her eine Sied­lung, doch das war lan­ge her – seit sei­ner Zer­stö­rung im drei­zehn­ten Jahr­hun­dert bestand der Ort näm­lich nur noch aus Rui­nen. Als ers­tes wur­de in Rustavi das größ­te Stahl­werk des Kau­ka­sus gebaut, 1947 folg­te die tat­säch­li­che Neu­grün­dung der Stadt. Die Ent­wür­fe für den Stadt­kern stamm­ten aus der Hand deut­scher Archi­tek­ten, die als Kriegs­ge­fan­ge­ne in einem Lager bei Rustavi inter­niert waren. Schnell wur­de Rustavi zum größ­ten Indus­trie­stand­ort Geor­gi­ens, mit über 100 Betrie­ben. Eisen, Zement und Stahl wur­den hier her­ge­stellt, Che­mie­pro­duk­te und Krä­ne pro­du­ziert.

So schnell wie der Auf­stieg kam, ging es auch wie­der berg­ab, und auch hier spie­gelt sich die geor­gi­sche Geschich­te in der Stadt: Wäh­rend es dem Land inner­halb der Sowjet­uni­on, vor allem zu Zei­ten Sta­lins, der ja selbst aus Geor­gi­en stamm­te, ver­gleichs­wei­se gut ging, brach die Wirt­schaft 1991 gemein­sam mit der Sowjet­uni­on kom­plett zusam­men. In Rustavi war von der eins­ti­gen »Blü­te« (viel­leicht ein komi­sches Wort, wenn man von Indus­trie­an­la­gen und Che­mie­fa­bri­ken spricht…) bald auch nichts mehr zu spü­ren, von den über hun­dert Betrie­ben über­leb­ten nur drei. Auch, wenn Rustavi sich lang­sam wie­der auf die Bei­ne kämpft und noch immer ein indus­tri­el­les Zen­trum in Geor­gi­en dar­stellt, sind über die Hälf­te der Ein­woh­ner arbeits­los, die Plat­ten­bau­ten, einst ein Zei­chen der Moder­ne, ver­fal­len.

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Wir jeden­falls lan­den nach einem kur­zen Spa­zier­gang in einem Restau­rant mit Hol­ly­wood-The­ma, Schwarz­weiß-Foto­gra­fien an den Wän­den und geor­gi­scher Küche, in dem die Kell­ne­rin gar kein Pro­blem damit hat, uns die gesam­te Kar­te auf Eng­lisch zu über­set­zen, und fin­den Rustavi ganz schön span­nend, wenn auch kuri­os. Soll­tet ihr in Tbi­li­si sein und einen Nach­mit­tag frei haben, lasst den Rei­se­füh­rer links lie­gen und erkun­det Rustavi, es lohnt sich!

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Antworten

  1. Avatar von Kevin

    Tol­le Bil­der. Ich lie­be die­se »typi­sche Ost­block Plat­ten­bau­ten Archi­tek­tur«
    LG kevin

    1. Avatar von Andreas Moser

      Und von innen sind sie oft sehr gemüt­lich.
      Ich habe ein Jahr in Litau­en und ein Jahr in Rumä­ni­en in so einem Plat­ten­bau gewohnt, es waren die gemüt­lichs­ten Woh­nun­gen, die ich je hat­te.

  2. Avatar von Becky

    Wow, was für ein tol­ler Bericht. Ich bin echt berührt.
    Lg aus St. Leon­hard im Pas­sei­er­tal

    1. Avatar von Ariane Kovac

      Dan­ke dir, das freut mich 🙂

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