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Rawalpindi ist staubig und laut. Hupender Verkehr zwängt sich ununterbrochen durch die überfüllten Straßen der Stadt. Kleine Gassen und heruntergekommene Häuser prägen das Bild. Fliegende Händler verkaufen Obst und Gemüse auf riesigen, improvisiert zusammengehämmerten Holzkarren. Ganze Straßenzüge sind gesäumt von Sockenverkäufern und Blumenbindern. Hier gibt es alles, von Abführmitteln bis Zahnersatz. Chai Wallahs hetzen von einer Straßenseite zur anderen, um ihre Ware möglichst heiß zum nächsten Kunden zu bringen. Jeder macht hier seine Geschäfte.
Wir lernen Babar kennen. Der Mann mit dem freundlichen Gemüt und dem dicken Schnauzer lässt es sich nicht nehmen, uns sein ganz persönliches Rawalpindi zu zeigen – und das liegt tief in der dunklen Unterwelt. Babar, bis vor kurzem Immobilienmakler, träumt schon seit seiner Kindheit von Mafiageschichten. Während Gleichaltrige Feuerwehrmann oder Polizist werden wollten, hatte Babar nur einen Wunsch: Pate sein. Doch die Karriere im Familiengeschäft, so merkt Babar, entspricht nicht seinem Naturell. Babar ist kein Krimineller, sondern nur ein Sympathisant. Er zieht sich aus dem Geschäft zurück, doch die Mafia bleibt ihm treu.
Noch immer trifft er sich mit Paten und Oberhäuptern der Klans. Auch wir bekommen während unserer Zeit mit Babar die Gelegenheit, mit einem der Mafiabosse Rawalpindis betrunken am Tisch zu sitzen. Unsere neue Bekanntschaft zahlt sich direkt aus: Plötzlich arbeitet der Schneider viel schneller und beim Obsthändler zahlen wir nur noch die Hälfte.
Doch das bleibt nicht unser einziger Kontakt mit der Unterwelt. Babar verschweigt uns kein dunkles Geheimnis der Stadt. Korruption bei Bauprojekten? Da drüben! Illegaler Verkauf von Schmuggelware? Hier entlang! Drogen und Prostitution? Zwei Straßen weiter! Über allem steht die Mafia mit ihrer parallelen Gesetzgebung.
Bei einem unserer Spaziergänge bleiben wir vor riesigen Mauern und einer Menschenmenge stehen, die sich vor ein verschnörkeltes, eisernes Tor drängt. Dutzende Männer haben sich hier versammelt. Sie tragen Blumenketten und kiloschwere Schachteln voller Süßigkeiten in ihren Händen. Auch Babar wird ein Blumenkranz in die Hand gedrückt. Wir befinden uns kurz vor der öffentlichen Gratulation zur Ernennung eines Senators.
Das schwere Eisentor öffnet sich und gibt den Blick auf ein riesiges Grundstück frei. Rosengärten, Springbrunnen, Alleen – und am Ende der langgezogenen Auffahrt eine säulenumringte Villa. Die Menge strömt auf das Grundstück. Konfetti regnet und ein älterer Herr mit schwarz gefärbtem Haar und tief liegenden, braunen Augen nimmt lächelnd Glückwünsche entgegen, wird von allen Seiten mit Blumenketten geschmückt. Der neue Senator.
Wer in Pakistan zum Senator ernannt wird, so flüstert uns Babar zu, hat nur selten eine starke politische Laufbahn hinter sich. Stattdessen ist jede Menge Geld geflossen. Etwa elf Millionen US-Dollar kostet ein Senatorposten für die Regierungspartei. Das ist eine stolze Summe, die von niemandem allein getragen werden kann. Wer also Senator werden möchte, der sucht sich Sponsoren und er sucht in allen Ecken, auch in den dunklen. Die öffentliche Gratulation ist weniger eine Feier für den neu ernannten Senator, als vielmehr eine Vorstellung seiner Finanziers.
Draußen vor der Villa werden Getränke ausgeschenkt, Häppchen serviert. Wir schauen uns auf dem Gelände um und finden uns bald vor der riesigen Eingangstür zur Villa wieder. Bedienstete hetzen hinein und wieder hinaus, ein paar Gäste versammeln sich in der Vorhalle und auch wir treten ein. Plötzlich eilt ein Mann herbei, verspricht uns Chai, und schickt uns energisch in geschlechtergetrennte Säle. Ich finde mich in einem kolossal eingerichteten Wohnzimmer wieder. Ölgemälde hängen an der Wand, ein Kristallleuchter strahlt von der Decke, dicke Teppiche dämpfen meine Schritte, schwere Polstermöbel stehen in der Mitte des Raumes. Es ist totenstill, doch ich bin nicht allein.
Ungefähr 20 Männer sitzen um mich herum, alte und junge, im feinen Anzug oder Lederjacke. Die Meisten tragen Schnurrbärte, buschig oder dünn gestutzt. Was sie eint ist der finstere Blick. Ich lasse mich auf den einzigen freien Platz auf einer Couch nieder, wage ein freundliches „Salam“ und lächle schüchtern in die Runde. Keine Reaktion – und wenn doch, dann nur, weil einige finstere Blicke noch etwas grimmiger werden. Unruhig rutsche ich hin und her, fühle mich fehl am Platz und suche das Weite, noch bevor mich der versprochene Chai erreicht.
Im Nebenzimmer treffe ich Babar in einem vergoldeten, samtbezogenen Ohrensessel sitzend. Hinter ihm faucht ein ausgestopfter Leopard vom Beistelltisch, davor steht ein Familienfoto. Als ich von der merkwürdigen Konstellation, aus der ich gerade flüchtete, erzähle, bricht Babar in Gelächter aus. Ich saß, so erfahre ich, zwischen den wichtigsten Mafiabossen Rawalpindis und Vertretern verschiedenster Klans. Sie alle haben den neuen Senator finanziell unterstützt und sind hier, um daran zu erinnern, wem der Senator seinen Posten verdankt. Tatsächlich huscht der Senator wenig später an uns vorbei ins Zimmer der Männer und kurz danach verlässt die Gruppe geschlossen die Villa. Rawalpindi raubt uns den Atem!
Nach ein paar Tagen sitzen wir in Babars Arbeitszimmer und essen zu Abend. Zusammen mit Emma aus Finnland und Patrick aus Hamburg, ebenfalls Couchsurfer, sind wir heute erstaunlich still und ernüchtert. Der Grund dafür ist simpel und idiotisch zugleich. Beim Versuch ein „Schulweg“-Schild vor einer Schule zu fotografieren, wird Emma von Polizisten verhaftet. Beinahe den ganzen Tag sitzen sie und Babar, den sie um Hilfe bittet, in einer Polizeiwache im Kreuzverhör, werden über Stunden hinweg ausgefragt.
Doch warum diese Strenge? Im Dezember 2014 stürmt die Taliban ein Schulgebäude im rund 170 Kilometer entfernten Peschawar, im Nordwesten Pakistans. 130 Schulkinder werden in einem blutigen Massaker getötet. Es ist der schlimmste Terrorakt in der Geschichte des Landes. Seitdem stehen Schulen im ganzen Land unter besonderer Beobachtung. Scharfschützen lauern auf den Dächern und natürlich ist das Fotografieren der Anlagen strengstens verboten.
Nichtsdestotrotz plant Emma, selbst ernannte Fotografin, eine Fotoreihe über pakistanische Schulen nach den Anschlägen von Peschawar – selbstverständlich ohne Genehmigung der Autoritäten. Und so kommt, was kommen muss … Erst am Abend dürfen Babar und Emma die Polizeiwache verlassen. Jetzt, während des gemeinsamen Abendessens, sind sie noch immer von den Geschehnissen des Tages geschlaucht. Doch noch bevor wir den letzten Bissen hinuntergeschluckt haben, steht plötzlich die Polizei wie ein zehnköpfiger Drache in unserer Mitte. Die Beamten erwischen uns völlig unvorbereitet. Allein Babar scheint mit dem Besuch der Männer und Frauen gerechnet zu haben. Er ist der Einzige aus unserer Gruppe, der einigermaßen unbefangen reagiert, als die Beamten mit ihren Remington-Flinten und finsteren Blicken ins Haus stürmen.
Es ist kurz vor 22 Uhr, wir sind hundemüde, aber nun beginnen die Autoritäten mit ihrer Hausdurchsuchung. Wir sind den Polizisten suspekt. Sie sind grob, unfreundlich, herablassend. Im Befehlston lassen sie uns wissen, dass wir gerade dabei sind unsere Freiheit einzubüßen. In ihren Augen sind wir Kriminelle. Da passt es ins Bild, dass sie uns vier Ausländer in einem riesigen, mehrstöckigen Haus auffinden, das von nur einem einzigen Pakistani, Babar, bewohnt wird. Etwa zehn leerstehende Betten befinden sich in dem Gebäude verteilt. Für die Beamten ist die Sache klar: Sie sind gerade dabei, eine Spionagezelle auszuheben. Vier Agenten und ein Mittelsmann sind ihnen ins Netz gegangen. Dabei ist Babar lediglich leidenschaftlicher Couchsurfer und Gastgeber.
Dass wir harmlose Touristen sein sollen, können sich die Polizisten jedoch nicht vorstellen und so starten sie einen mehrstündigen Untersuchungsmarathon. Wir müssen alle elektronischen Geräte abgeben: Laptops, Kameras, Handys, Festplatten. Akribisch betrachten die Beamten Tausende Bilder auf unserer Kamera und unseren Festplatten. Wir sehen uns mit Fragen konfrontiert, die wir nicht beantworten können. Wer sind all diese Menschen, mit denen wir auf den Bildern posieren? Wir starten eine Erklärung, versuchen den Beamten begreiflich zu machen, dass wir per Anhalter reisen und mit jeder Mitfahrgelegenheit ein Foto schießen. Aber wer diese Personen sind, wo sie wohnen, welchem Beruf sie genau nachgehen? – Wir zucken nur mit den Achseln.
Natürlich tragen diese dürftigen Informationen nicht dazu bei, unsere Lage zu verbessern. Stattdessen glauben die Polizisten eine Spur gefunden zu haben. Unsere Notizbücher wecken ebenfalls Interesse. In ihnen finden die Beamten zahlreiche pakistanische und iranische Telefonnummern, die wir auf der Straße von Mitfahrgelegenheiten und freundlichen Helfern zugesteckt bekommen haben. Auch das macht uns weiter verdächtig. Wir werden getrennt voneinander verhört. Die Stimmung ist bedrohlich, aggressiv.
Mittlerweile gehen die Beamten dazu über, auch uns zu verdächtigen, Fotos von Schulen geschossen zu haben, obwohl wir nicht einmal in der Nähe eines Schulgebäudes waren. Sie halten uns für Finnen und brüllen immer aggressiver, je häufiger wir ihre Fragen mit Nein beantworten. Sie bezichtigen uns weiterhin der Lüge. Auch der deutsche Reisepass stimmt die Beamten nicht um. Zu ärgerlich, dass in dem Dokument nirgendwo das Wort „Germany“ vermerkt ist.
Schließlich untersuchen die Beamten erneut unsere Festplatten. Wieder klicken sie Tausende Fotos an. Ich fühle immer mehr, dass die Beamten uns hinhalten wollen. Ihre Aktionen und Fragen drehen sich im Kreis, ihre ganze Art ist zermürbend. Ich kann mich schon länger nicht mehr zusammenreißen und Freundlichkeit suggerieren. Meine Antworten auf sich wiederholende Fragen schrumpfen zu genervten, dahingemurmelten Wortfetzen. Es ist mittlerweile weit nach Mitternacht.
Beinahe glücklich scheinen die Polizisten zu sein, als sie unsere Sportkamera mit der stoßsicheren Hülle entdecken. Für die Beamten ist sie der endgültige Beweis unserer Spionagetätigkeit. Das Verhör wird zielgerichteter: Seit wann wir mit Drohnenkameras handeln? Ob wir eine Genehmigung für den Einsatz der Kamera hätten? Die Engstirnigkeit der Beamten ist erschreckend. Andererseits rettet dieser Umstand meine Laune: Ich muss lachen über die Vorstellung, dass ich Spionageausrüstung in Terrorgebiet schmuggeln würde. Unsere Antworten sind dagegen so banal wie ehrlich und schon bald vergeht den Polizisten die Lust an weiteren Fragen. Sie führen ja eh ins Nichts.
Stattdessen entwickeln besonders die weiblichen Beamten reges Interesse an unseren Pflegeprodukten, die sie während der Taschenkontrollen finden. Ganz unverhohlen wollen sie Lippenstifte und Mascara geschenkt bekommen, so als wären wir gute Freunde.
Emma, der wir diese besondere Abendunterhaltung verdanken, zeigt sich während der gesamten Untersuchung sehr kleinlaut. Noch einmal wird es in dieser Nacht verzwickt, als ein Polizist in ihrem Rucksack eine externe Festplatte entdeckt, die sie nicht zur Untersuchung herausrücken wollte. Ein Umstand, der uns weitere Stunden auf den Beinen hält. Erneut wird unser Gepäck kopfüber geleert, jeder Reisverschluss ein weiteres Mal geöffnet, sämtlicher Inhalt herausgeschüttelt.
Gegen 3 Uhr morgens lässt uns die Polizei endlich in Ruhe, nur um uns drei Stunden später erneut zu wecken und mit sofortiger Wirkung des Hauses zu verweisen. Doch viel schlimmer erwischt es Babar. Wir, die Couchsurfer, sind einfach zu viele Ausländer im Haus eines Pakistanis. Dass dieser Pakistani auch noch mehrere Betten besitzt, auf denen er offensichtlich Fremde beherbergt, wirkt auf die Polizisten beinahe wie ein Schuldeingeständnis. Erneut beweisen die Beamten ihre Phantasielosigkeit.
Natürlich fällt ihnen nichts anderes ein, als jede Menge Illegales zu vermuten, wenn Ausländer und Einheimische zusammentreffen. Konsequent konfiszieren sie Babars Haus. Ab sofort und auf unbestimmte Zeit darf er lediglich sein Büro benutzen und muss in ein Hotel ziehen. Wir können nichts tun, weder für unseren Gastgeber noch für uns selbst, und mit gesenkten Blicken und einem resignierten „Allah hafiz“, verabschieden wir uns. Es ist Babars vorerst letzte Zeit in Rawalpindi. Vier Wochen später zieht er nach Karatschi. Doch auch in der Megametropole am Arabischen Meer bleibt er nur ein paar Monate, dann kehrt er Pakistan den Rücken. Mittlerweile lebt Babar in Südostasien.
Auch wir lassen Rawalpindi hinter uns und wollen so viele Kilometer wie möglich zwischen uns und die pakistanische Polizei bringen. Wir fliehen zurück ins nahe Islamabad, wo wir für ein paar Tage verschnaufen, dann machen wir uns auf den Weg in die Berge. Über den Karakorum Highway gelangen wir tief hinein ins Himalajagebirge.
* Personennamen zum Schutz der Betroffenen geändert
Antworten
Irre Geschichte… 🙂
Irres Land! 😀
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