Bis ans Ende der Welt: zwischen Aussteiger*innen, Gauchos und ungezähmter Natur

Dezem­ber 2018 – Por­ve­nir, Chi­le

Ein paar Wochen ist es schon her, dass sich Michel­le hier in El Bol­son, einer Klein­stadt in Pata­go­ni­en, von uns ver­ab­schie­det hat um zurück nach Deutsch­land zu flie­gen. Wir sind immer noch hier…

In den 60er Jah­ren migrier­ten Hip­pies und die städ­ti­sche Bohe­me Argen­ti­ni­ens nach El Bol­son. Die Stadt ist seit­her geprägt von gemein­schaft­li­chen Leben, Kunst­hand­werk und wirt­schaft­li­cher Aut­ar­kie.

Das auf den ers­ten Blick unschein­ba­re Dorf am Fuße des Pil­tri­quit­ron in Pata­go­ni­en lässt uns irgend­wie nicht mehr los.
Wir ler­nen direkt eine Men­ge tol­le Leu­te ken­nen, unter ande­rem Joa­quin.

Joa­quin reis­te ein paar Jah­re mit sei­nem Wohn­wa­gen “Rosi­ta“ und sei­nen zwei Hun­den durch Süd­ame­ri­ka, bis vor ein paar Mona­ten ein Baum auf sein Fahr­zeug stürz­te und er sei­ne Rei­se­plä­ne erst mal auf Eis legen muss­te.
Im Aus­tausch für Repa­ra­tur­ar­bei­ten darf Joa­quin in dem alten Wald­haus kos­ten­los woh­nen. „Ihr könnt ger­ne ein paar Tage bei mir woh­nen.“ Die Ein­la­dung hat­ten wir ger­ne ange­nom­men und uns bei Joa­quin in dem Haus direkt hei­misch gefühlt.
Fast zehn Tage ver­brin­gen wir in dem Wald­haus und haben viel Zeit zum lesen, schrei­ben, Joa­quins vega­ne Koch­re­zep­te aus­pro­bie­ren, wan­dern und dis­ku­tie­ren.
Das letz­te Früh­stück: Lei­der hat der Haus­be­sit­zer plötz­lich ande­re Plä­ne. Joa­quin muss aus­zie­hen. Auch wir bei­de suchen uns eine neue Blei­be in El Bol­son und fin­den unse­ren neu­en Freund Eric…

Frühstück im Adamskostüm

Seit ein paar Tagen woh­nen wir bei Eric am süd­li­chen Ende der Klein­stadt. Sie­ben Jah­re ist er ohne Geld durch Süd­ame­ri­ka gereist, hat ein paar Mona­te, wie wir, in der Gemein­schaft Vel­atro­pa gelebt und sich erst vor ein paar Mona­ten hier in El Bol­son nie­der­ge­las­sen.

Sein jet­zi­ges Zuhau­se, eine Hüt­te aus Stroh und Lehm, liegt ver­steckt in einem Hin­ter­hof. Ein klei­nes Häus­chen, aber mit allem, was man so braucht. Sein Blick wan­dert durch den Raum. „Ich muss mich noch dran gewöh­nen wie­der so viel Zeugs zu haben. Eben hat mein gan­zer Besitz noch in einen klei­nen Ruck­sack gepasst.“ Viel Zeugs…damit meint Eric sei­ne fünf Bücher, den Schreib­tisch aus Sperr­holz, das selbst­ge­bau­te Bett und den klei­nen Gas­herd in der Koch­ni­sche. Die Sub­jek­ti­vi­tät unse­rer selbst­ge­schaf­fe­nen Rea­li­tä­ten: Für den einen ist Armut was für den ande­ren ein Leben in Über­fluss ist.

Wir sit­zen zu dritt im Schnei­der­sitz auf einer brau­nen Woll­de­cke, die wir auf dem Boden aus­ge­brei­tet haben. In der Mit­te steht ein gro­ßer Topf mit Por­ridge, den wir uns tei­len. Eric sitzt vor uns so wie ihn die Natur geschaf­fen hat, nackt. „Ist es für euch Okay wenn ich in mei­ner Woh­nung nackt rum lau­fe? Klei­dung schränkt mich ein!“, hat­te er am zwei­ten Tag gefragt. „Kein Pro­blem…“ Zwar war der Anblick frem­der Geni­ta­li­en beim Früh­stück anfangs befremd­lich, aber am Ende ist alle „Nor­ma­li­tät“ doch eben nur eine Sache der Gewöh­nung…

Manch­mal pas­siert es auf Rei­sen, dass zwi­schen all den täg­li­chen, wun­der­ba­ren Begeg­nun­gen, ein Mensch ganz beson­ders her­aus sticht. Eric ist ein sol­cher Mensch. Schon nach zwei Tagen ver­bin­det uns alle drei eine enge Freund­schaft.

Weiter geht’s Richtung Süden

Wir sit­zen bei Lucy und Oscar im Auto, die bei­den haben das Wochen­en­de in El Bol­son ver­bracht und fah­ren jetzt wie­der zurück ins 200 km süd­lich gele­ge­ne Tecka. Die ein­zi­ge Stra­ße weit und breit führt durch das von Glet­schern geform­te Tal. Lucy zeigt rechts aus dem Fens­ter auf den Kie­fer­wald. „Das gan­ze Land was ihr hier seht, gehört Cro­co­di­le Dundee. Die Leu­te haben den ehe­ma­li­gen Mil­lio­när so genannt, weil er hin­ten allei­ne in einer Hüt­te wohnt und nur von der Jagd lebt. Cro­co­di­le Dundee kam vor fünf­und­zwan­zig Jah­ren, kauf­te sich ein rie­si­ges Stück Land und ver­schenk­te sein übri­ges Geld.“

„Hier­zu gibt’s auch ne Geschich­te“, sagt dies­mal Oskar und fährt ein biss­chen lang­sa­mer an einer schma­len Ein­fahrt vor­bei. „Ihr kennt doch bestimmt die berühm­ten Bank­räu­ber Butch Cass­idy, Sun­dance Kid und Etta Place. Wenn man der Ein­fahrt hier folgt, kommt man zu der klei­nen Hüt­te wo sich die drei Jah­re­lang ver­steckt hiel­ten.“

Pata­go­ni­en ist ein Magnet für alle Arten von Aus­stei­ge­rIn­nen – nicht nur geld­mü­de Mil­lio­nä­re und ehe­ma­li­ge Die­be nut­zen die Abge­le­gen­heit die­ses Fleck­chens Erde, um ein unge­stör­tes Dasein zu leben. Argen­ti­ni­en war nach dem zwei­ten Welt­krieg auch Zufluchts­staat für zahl­rei­che Nazis und NS-Füh­rer. Zwei der bekann­tes­ten waren Adolf Eich­mann und Josef Men­ge­le. Noch heu­te gibt es hier hier gan­ze (Ex-)Nazi-Gemeinschaften, deren All­tag nach den „Deut­schen Wer­ten“ aus­ge­rich­tet ist und wo der Geburts­tag Hit­lers ein Fei­er­tag ist.

Wüs­ten­land­schaft Argen­ti­nens: Weil sich die im Süd­pa­zi­fik gebil­de­ten Wol­ken an der West­sei­te der Anden – also in Chi­le – abreg­nen, kommt es hier auf der öst­li­chen Sei­te kaum zu Nie­der­schlag. Mit über 600.000 km² ist die Pata­go­ni­sche Step­pe die größ­te Wüs­te Ame­ri­kas.

In der Wüste ausgesetzt

Mitt­ler­wei­le sind wir schon so weit im Süden, dass es selbst im Som­mer kaum wär­mer als zwölf Grad wird. Drau­ßen tost der Wind. Wir sit­zen bei Gon­za­lez in der war­men Last­wa­gen­ka­bi­ne und trin­ken Mate – das natio­na­le Tee­ge­tränk der Argen­ti­ni­er. Gon­za­lez hat­te uns vor ein paar Stun­den in Rio Mayo ein­ge­sam­melt und ist seit zwei Tagen unter­wegs nach Cal­a­fa­te um dort einen Super­markt mit Obst und Gemü­se zu belie­fern. Auch wir sind auf dem Weg nach Cal­a­fa­te, aber es ist schon dun­kel und wir sind müde von dem lan­gen Tramp­tag. „Gon­za­lez. Kannst du anhal­ten und uns raus las­sen? Wir wol­len hier schla­fen.“ Er blickt uns skep­tisch von der Sei­te an. „Das meint ihr nicht wirk­lich ernst oder? Ich lass euch doch nicht ein­fach mit­ten in der Wüs­te raus. Ihr seid doch ver­rückt!“ Zwan­zig Minu­ten braucht es, bis wir ihn davon über­zeugt haben, dass wir wirk­lich hier drau­ßen schla­fen wol­len. Er hält – wenn auch wider­wil­lig – an. „Dass euch ja nichts pas­siert!“

Wir bedan­ken uns, wün­schen ihm eine gute Nacht und mar­schie­ren in die stock­fins­te­re Wüs­te. Als die roten Rück­lich­ter hin­ter dem Hori­zont ver­schwin­den bleibt nur die Stil­le. Und die Ster­ne. Und die Freu­de über die Frei­heit, die Frei­heit unge­bun­den durch die Welt zie­hen zu kön­nen, ohne Plä­ne, ohne Ver­ab­re­dun­gen, ohne Hotel­bu­chung.

 

Die Lüge vom gelobten Land

Kurz vor El Cal­a­fa­te wer­den wir von Ema­nu­el ein­ge­sam­melt. Sei­ne Urgroß­el­tern waren die ers­ten Sied­le­rIn­nen von El Cal­a­fa­te, soge­nann­te Pio­nie­re. „Das rie­si­ge unbe­sie­del­te Gebiet im Süden Argen­ti­ni­ens war für die Regie­rung von Anfang an ein Pro­blem. Wie soll­ten die Gren­zen zu Chi­le behaup­tet wer­den, wenn es kei­ne Leu­te gab? Nach dem Mot­to „regie­ren heißt bevöl­kern“ rief der Staat einen offi­zi­el­len Plan ins Leben, der spe­zi­ell dar­auf abziel­te, Sied­ler anzu­zie­hen. Mit gro­ßen Ver­spre­chun­gen wur­den die Men­schen in die­se kar­ge Gegend gelockt“, erzählt uns Ema­nu­el.

„Gan­ze Fami­li­en lie­ßen ihr Leben im Nor­den hin­ter sich, ver­stau­ten ihr Hab und Gut in Pfer­de­wa­gen und mach­ten sich auf den Weg gen Süden. Meh­re­re Mona­te dau­er­te die stra­pa­ziö­se Rei­se durch weg­lo­ses Gelän­de. Die­je­ni­gen, die die Odys­see über­leb­ten, fan­den sich bei ihrer Ankunft in einem unwirt­li­chen und dem Men­schen nicht wohl geson­ne­nen Land gegen­über. Die Vor­rä­te und Kräf­te waren zu aus­ge­zehrt, um wie­der zurück zu gehen. Und so blie­ben die meis­ten, die hier her gekom­men waren.“

Zur Grenz­be­stim­mung – und das war gesetz­lich gül­ti­ge Pra­xis – wur­de fol­gen­de Metho­de ange­wen­det: Alles was der Pio­nier von sei­nem Stand­punkt aus mit dem Auge sehen konn­te, durf­te er sein Eigen nen­nen. Die teil­wei­se meh­re­re hun­dert Hekt­ar gro­ßen Grund­stü­cke sind von kilo­me­ter­lan­gen Zäu­nen ein­ge­fasst. Für die Gua­na­kos ver­häng­nis­voll…

Auf dem Weg zum Wan­der- und Klet­ter­pa­ra­dies El Chal­tén. Im Hin­ter­grund das unter Klet­te­rern berüch­tig­te Fitz Roy Mas­siv.
Kurz nach Rio Gal­le­gos; Jule mor­gens vor der Poli­zei­sta­ti­on: Zwar zählt die Poli­zei nicht unse­ren Lieb­lings­freun­den, aber die Nacht im Poli­zei­pos­ten hat­ten wir dann doch einer Nacht im vom Wind zer­fet­zen Zelt vor­ge­zo­gen.
Kurz vor der Über­que­rung der Magel­lan­stra­ße: Bevor es den Pana­ma­ka­nal gab, war die Magel­lan­stra­ße die wich­tigs­te Ver­bin­dung zwi­schen Atlan­tik und Pazi­fik. Der Gene­ral­ka­pi­tän Magel­lan nann­te das Land süd­lich der Stra­ße „Feu­er­land“, weil die Feu­er der dort leben­den Men­schen das ers­te waren, was die Flot­te sah.
In Ushua­ia, der süd­lichs­ten Stadt der Welt: Eigent­lich hat­ten wir vor hier zwei Fahr­rä­der zu besor­gen, mit denen wir die Care­ter­ra Aus­tral in Chi­le hoch fah­ren woll­ten. Wir sind aber noch zu früh. Die Fahr­rad­fah­re­rIn­nen – von denen wir die Fahr­rä­der abkau­fen woll­ten – kom­men erst in einem Monat an.
…Naja viel­leicht fin­den wir auch kei­ne Räder weil uns Joel (bei dem wir in Ushua­ia woh­nen) dau­ernd von der Suche ablenkt..

Verloren in der Wildnis

Nach­dem es mit den Fahr­rä­dern also nicht geklappt hat, machen wir uns zu Fuß auf den Weg Rich­tung Nor­den. Unser Plan: Die Stre­cke von Ushua­ia nach Tol­huin über die Ber­ge „abkür­zen“. Damit wür­den wir uns 100 Kilo­me­ter Tramp­stre­cke spa­ren und zu Fuß die spek­ta­ku­lä­re Natur Feu­er­lands ken­nen ler­nen.

Bis zum Was­ser­fall ist der Weg noch gut aus­ge­tre­ten. Nur ein paar Meter wei­ter kann von Pfad schon nicht mehr die Rede sein…Wir lau­fen mit­ten durch ein Moor, über wei­che Moos­hü­gel die bei jedem Schritt so schmat­zen wie alte, nas­se Matrat­zen. Neben uns flat­tert eine Enten­mut­ter mit empör­ten Geschnat­ter auf und lässt ihre Eier allei­ne. Will­kom­men in der Wild­nis!

Vier Stun­den wan­dern wir mitt­ler­wei­le durch das leicht anstei­gen­de Hoch­tal, da tau­chen plötz­lich drei Leu­te hin­ter einem Hügel auf.

Einer von ihnen ist Berg­füh­rer, die ande­ren bei­den sind Tou­ris­tin­nen aus den Staa­ten. „Ihr wollt die Berg­ket­te über­que­ren? Viel­leicht kommt ihr noch bis zu dem Fel­sen da oben, wei­ter könnt ihr es aber ver­ges­sen. Seit fünf­zehn Jah­ren lebe ich hier und habe noch nie von einem Weg gehört der von hier aus ins nörd­li­che Tal führt!“

Wäh­rend wir mit dem Berg­füh­rer spre­chen, mus­tern uns die Tou­ris­tin­nen von Kopf bis Fuß. Kein Wun­der: Die bei­den sind mit atmungs­ak­ti­ven Meri­no­woll­shirts, hoch­al­pi­nen Gore­tex-Wan­der­schu­hen und ultra­leich­ten Titan­wan­der­stö­cken aus­ge­rüs­tet. Wir dane­ben – mit unse­ren alten, löch­ri­gen Schu­hen, den Kla­mot­ten aus dem Second-Hand-Laden und den aus Ästen impro­vi­sier­ten Wan­der­stö­cken – müs­sen bestimmt aus­se­hen wie die letz­ten Räu­be­rin­nen.

„Dan­ke für die Aus­kunft!“, rufen wir der Grup­pe noch nach und ent­fer­nen uns mit zügi­gen Schrit­ten bevor sie wei­ter ver­su­chen, uns von unserm Plan abzu­brin­gen. Wir pro­bie­ren es mal ‑umkeh­ren kön­nen wir immer…

Der Berg­füh­rer hat­te uns von einem idea­len Zelt­platz hin­ter einem gro­ßen Stein erzählt; Nach sei­nen wagen Beschrei­bun­gen „Ein Stück wei­ter berg­auf, an den Büschen vor­bei, dann links und dann…“, haben wir unse­re Chan­cen, tat­säch­lich auf DEN Stein zu sto­ßen eher für gering ein­ge­schätzt. Daher ist es eine Über­ra­schung als wir die Stel­le wirk­lich fin­den.
Der Ort eig­net sich per­fekt für das Nacht­la­ger: tro­cke­ner Unter­grund, ein gro­ßer Fels der uns vorm Wind schützt, klei­nes Bäch­lein mit trink­ba­rem Was­ser.

Wir ver­brin­gen die Nacht auf einer fla­che Ebe­ne und lau­fen am nächs­ten Mor­gen wei­ter Rich­tung Pass. Je höher wir den fast senk­rech­ten Hang hin­auf­stei­gen, des­to spär­li­cher wird die Vege­ta­ti­on bis sie irgend­wann ganz von Geröll und Eis abge­löst ist. Der Schnee drückt sich durch die Löscher unse­rer, für den alpi­nen Gebrauch höchst inad­äqua­ten und in die­sem deso­la­ten Zustand eigent­lich völ­lig nutz­lo­se Schu­he. Um kei­ne Eis­fü­ße zu bekom­men, heißt es impro­vi­sie­ren: So gut es geht ver­kle­ben wir die Schwach­stel­len mit Gaf­fatape und stap­fen wei­ter durch den immer tie­fer wer­den­den Schnee.

Nicht nur die Löcher waren jetzt mehr oder weni­ger ver­sie­gelt. Wir bas­tel­ten auch gleich ein paar Schnee­stul­pen mit dem Kle­be­band. Dann mal auf zum Pass!

Nach zähen zwei Stun­den errei­chen wir end­lich den Pass. Der tosen­de, eisi­ge Wind – der hier für Feu­er­land so berühmt wie berüch­tigt ist – schlägt uns scharf ins Gesicht. Wir suchen Schutz hin­ter einem Stein, um den Blick ins Tal mit dem Blick auf der Wan­der­kar­te abzu­glei­chen. Noch sieht es so aus als wären wir auf dem rich­ti­gen Weg…

Über das Geröll­feld geht’s in ein schma­les Hoch­tal hin­ab. Rechts von uns, auf der ande­ren Sei­te des Tales, haben sich oben ent­lang des Berg­kamms Schnee­über­hän­ge gebil­det, die nun bedroh­lich dar­auf war­ten in der Früh­jahrs­wär­me abzu­bre­chen und als Lawi­nen ab zu gehen. Wir hal­ten uns so weit wie mög­lich auf der siche­ren Sei­te des Tals uns steu­ern eine Sei­ten­mo­rä­ne an. Hier wol­len wir erst­mal was essen und unser wei­te­res Vor­ge­hen bespre­chen.

Erneu­ter Abgleich: Aus­sicht – Kar­te. Ich traue mei­nen Augen nicht: Da wo wir den Tal­aus­gang erwar­tet hat­ten, steht Berg­spit­ze an Berg­spit­ze. Mit unse­rer Aus­rüs­tung völ­lig unmög­lich zu über­que­ren… Sol­len wir umkeh­ren? Den mühe­voll erkämpf­ten Weg wie­der zurück gehen? Wir rech­nen: das Essen reicht noch für wei­te­re vier Tage. Zwei waren wir bereits unter­wegs, heißt, zwei brau­chen wir von hier aus für den Rück­weg. Wenn wir jetzt noch einen Tag wei­ter Rich­tung Nor­den gehen, kämen wir also im Not­fall – falls wir uns dann doch ent­schei­den soll­ten zurück zu gehen – immer noch mit unse­ren Vor­rä­ten hin. Also gehen wir wei­ter.


Von dem Glet­scher­see wei­ter unten läuft ein Bach ab. Das Tal muss dort also wei­ter abfal­len und falls der Bach nicht hin­ter der nächs­ten Bie­gung ver­siegt, steht die Chan­ce gar­nicht so schlecht, dass wir – sei­nem Lauf fol­gend – irgend­wann in dem ande­ren Tal lan­den wer­den. Ein Ver­such ist’s wert.

Wir befin­den uns im abso­lu­ten Nie­mands­land, nichts lässt dar­auf schlie­ßen, dass sich hier jemals eine Men­schen­see­le auf­ge­hal­ten hat. Nur die stum­men Ber­ge schau­en bedroh­lich auf uns her­ab und schei­nen sich über uns mick­ri­ge Gestal­ten lus­tig zu machen. Wie klein, bedeu­tungs­los und zer­brech­lich ich mich füh­le…

Jeder neue Blick in die nächs­te Tal­kur­ve, jede Ein­sicht hin­ter den nächs­ten Hügel hat jetzt Ein­fluss auf unser Wei­ter­kom­men. Wir fol­gen dem Bach der all­mäh­lich zu einem ordent­li­chen Gebirgs­fluss anschwillt. Zwei Tal­bie­gun­gen kom­men wir noch wei­ter. Bis sich der Fluss nur noch rei­ßend durch die stei­len Fels­schluch­ten win­det und schließ­lich als Was­ser­fall meh­re­re hun­dert Meter ins Tal stürzt.


Beim Aus­kund­schaf­ten für den bes­ten Weg sto­ße ich auf die­sen rie­si­gen von Bibern gebau­ten Stau­damm. Drei klei­ne Rinn­sa­le hat­ten sie mit einem drei Meter hohem Damm zu einem statt­li­chen See ange­staut. Plötz­lich sehe ich ein Biber­pär­chen, die mich im Ver­trau­en der ewi­gen Unge­stört­heit über­haupt nicht wahr­neh­men und nur weni­ge Meter neben mir vor­bei­lau­fen, Äste ein­sam­meln, zurück zum Damm lau­fen, mit ihrem Bau­ma­te­ri­al durch das dunk­le Was­ser ihres Sees tau­chen, um dann unter­ir­disch wie­der in ihren Erd­höh­len zu ver­schwin­den.
Wir kom­men nur im Schne­cken­tem­po vor­an. Immer wie­der hin­dern uns Abhän­ge, Flüs­se und undurch­dring­li­ches Gestrüpp am Wei­ter­kom­men. Hier wuss­ten wir noch nicht, das die­ser Abschnitt im Ver­gleich zu dem was noch kom­men soll­te ein Spa­zier­gang ist.
Die Nacht ver­brin­gen wir an dem Fluss der weni­ge Meter wei­ter als Was­ser­fall meh­re­re hun­dert Meter ins Tal stürzt. Mor­gen wol­len wir unser Glück wei­ter west­lich ver­su­chen.

Aber immer wenn eine Situa­ti­on aus­sichts­los scheint, tun sich oft doch unge­ahn­te Mög­lich­kei­ten auf. Zwar kom­men wir hier unmög­lich wei­ter aber der bewal­de­te Hang west­lich von uns sieht so aus als könn­te er mit dem Tal ver­bun­den sein. Könn­te… die Garan­tie wer­den wir erst mor­gen haben, oder eben nicht. Heu­te ist es zu spät.

Damit wir das Tages­licht voll aus­nut­zen kön­nen, bre­chen wir unser Lager noch vor Son­nen­auf­gang ab. Wir durch­que­ren den ste­chend kal­ten Fluss, um auf der ande­ren Sei­te zum ges­tern aus­ge­kund­schaf­te­ten Hang zu klet­tern. Es sieht so aus als hät­ten wir mit unse­rer Ver­mu­tung rich­tig gele­gen: der Wald scheint mit dem Tal ver­bun­den zu sein. Naja, so viel weni­ger steil als der ande­re Hang ist die­ser hier nicht wirk­lich. Aber wenigs­tens gibt es Bäu­me an denen wir uns ent­lang­han­geln kön­nen.

Vier Stun­den spä­ter ste­hen wir im Tal. Wir können’s kaum glau­ben. Unse­rer Kar­te nach soll von hier aus ein Wan­der­pfad abge­hen. Wir haben uns einen gemüt­li­chen aus­ge­tre­te­nen Weg vor­ge­stellt, mit Brü­cken und Mar­kie­run­gen. Wenn wir dem GPS glau­ben schen­ken sol­len, müss­ten wir gera­de hier mit­ten auf dem Wan­der­weg ste­hen. Aber wir ste­hen knie­tief im Moor. Von Brü­cken und Mar­kie­run­gen kei­ne Spur. An Umkeh­ren ist mitt­ler­wei­le aber nicht mehr zu den­ken. Zu weit sind wir schon vom Aus­gangs­punkt ent­fernt. Zu vie­le schwie­ri­ge Stel­len haben über­win­den müs­sen. Unser Vor­rat wird knapp. Wir rech­nen aus: Es heißt doch, dass ein Mensch sie­ben Tage ohne Essen über­le­ben kann. Oder wie war das noch­mal?

Mit­ten im Moor: Von irgend­ei­nem Wan­der­weg fehlt buch­stäb­lich jeg­li­che Spur.

Einen Hoff­nungs­schim­mer haben wir noch: Auf der Kar­te ist am Ufer des Lago Fag­na­no eine Unter­kunft ein­ge­zeich­net die man mit dem Boot errei­chen kann. Viel­leicht kön­nen wir dort ein paar Nudeln oder Reis kau­fen. Viel­leicht wür­den sie uns sogar mit ihrem Boot ans ande­re Ende des Sees brin­gen, dort wo es wie­der Stra­ßen gibt…

Zu unse­rer Freu­de gibt es die­se Unter­kunft wirk­lich und wir sto­ßen sogar auf Men­schen! Aller­dings wer­den wir von denen nur schief ange­glotzt und unfreund­lich wei­ter geschickt. Nicht­mal ein Scho­ko­la­den­tä­fel­chen kön­nen wir dem gie­ri­gen Wirt abhan­deln. „Von hier aus ist’s nicht mehr weit bis zur Stra­ße.“ Der hat­te sich offen­sicht­lich noch nie wei­ter als 500 Meter von sei­nem Haus weg­be­wegt. Denn hin­ter der ers­ten Bucht ste­hen wir wie­der mit­ten im meter­ho­hen Gras, vor uns eine Wand aus umge­fal­le­nen Bäu­men. Wir gehen wei­ter. Zwei Stun­den, Vier Stunden…die Zeit ver­geht ohne dass wir Kilo­me­ter hin­ter uns brin­gen.

Es ist als hät­te ein Rie­se über­di­men­sio­na­le Mika­do­stäb­chen auf unse­ren Weg aus­ge­schüt­tet. Die Bäu­me lie­gen kreuz und quer im Wald ver­teilt. Für einen Kilo­me­ter Stre­cke brau­chen wir durch­schnitt­lich eine Stun­de. Es ist zum ver­rückt wer­den. Aber wir zwin­gen uns Con­ten­an­ce zu bewah­ren. Wir ste­cken uns klei­ne Zwi­schen­zie­le, zum Bei­spiel hin­ten die nächs­te Küs­ten­zun­ge. Den Gedan­ken an unse­ren nicht­exis­ten­ten Nah­rungs­mit­tel schaf­fen wir es trotz knur­ren­dem Magen irgend­wie zu igno­rie­ren. Fünf Stun­den, Acht Stun­den, es wird schon dun­kel.

Unser Man­tra: Durch­hal­ten. Wei­ter.
Wir über­nach­ten in einer wun­der­schö­nen Bucht. Als der Mond über dem dun­kel­blau­en See auf­geht und wir von dem knis­tern­den Feu­er gewärmt wer­den, sind die Stra­pa­zen und der Hun­ger wenigs­tens für ein paar Stun­den kurz ver­ges­sen.

Am nächs­ten Tag geht’s wei­ter. Glei­cher Nicht-Weg. Glei­che phy­si­sche und psy­chi­sche Grat­wan­de­rung. Aber die Hoff­nung stirbt zuletzt. Fie­ber­haft suchen wir nach Spu­ren, die irgend­wie auf etwas Mensch­li­ches hin­wei­sen und ras­ten fast aus vor Freu­de als wir einen Kuh­fla­den fin­den.

Der Kuh­fla­den kann nur fol­gen­des bedeu­ten: 1) Die Kuh ist höchst­wahr­schein­lich nicht mit dem Boot hier her gekom­men, also muss sie sich irgend­wie von ihrem Stall einen Weg hier­her gebahnt haben denn 2) ist sie bestimmt kei­ne Wild­kuh gewe­sen son­dern gehört irgend­ei­nem Bau­ern, was 3) den Schluss zulässt, dass wir nur den Fla­den fol­gen müs­sen, um irgend­wann zu einer mensch­li­chen Sied­lung zu kom­men, die 4) nicht all­zu weit von hier ent­fernt sein konn­te, weil Kühe im All­ge­mei­nen kei­ne ewig wei­ten Wan­de­run­gen unter­neh­men.

 

Unse­re Schluss­fol­ge­rung geht auf: Die Kuh­fla­den wer­den zahl­rei­cher, hier muss­te sich vor kur­zem eine gan­ze Her­de auf­ge­hal­ten haben. Die erst undeut­li­chen Fuß­spu­ren ver­dich­ten sich zu einem mat­schi­gen und brei­ten Tram­pel­fad. Und da! Nach zwei Stun­den tut sich plötz­lich eine Lich­tung auf. Wei­te­re drei Stun­den dau­ert es bis wir eine schma­le Schot­ter­stra­ße errei­chen. Der unfreund­li­che Wirt aus der Unter­kunft am See hat­te uns davon berich­tet. „Ja..und dann stoßt ihr auf eine Stra­ße mit gro­ßem Park­platz, wo immer Tou­ris­ten sind.“ Stra­ße ja – zumin­dest so was in der Art. Von Park­platz und Tou­ris­ten aller­dings kein Spur. 35 km bis zur nächs­ten grö­ße­ren Stra­ße, heißt ein bis zwei Wan­der­ta­ge mehr…

Ent­täuscht, Ent­mu­tigt und mit den Kräf­ten am Ende schlap­pen wir wei­ter und stel­len uns auf zwei wei­te­re Tage vol­ler Hun­ger ein als uns plötz­lich ein Auto auf der Schot­ter­stra­ße ent­ge­gen kommt. Bestimmt eine Fata Mor­ga­na. Wir ste­hen mit­ten auf der Stra­ße damit das Auto bloß nicht auf die Idee kommt an uns vor­bei zu fah­ren. „Wo fahrt ihr hin?“ „Ans Ende der Stra­ße, wol­len mal sehen was es da so gibt.“ „Nicht viel. Könnt ihr uns auf dem Rück­weg mit­neh­men?“ „Klar!“

Zwan­zig Minu­ten spä­ter sit­zen wir im Auto Rich­tung Tol­huin wo es die bes­te Bäcke­rei in ganz Feu­er­land geben soll.


Nach unse­rem „Aus­flug in die Wild­nis“ ver­brin­gen wir zwei Näch­te in Emi­li­os Bäcke­rei „La Uni­on“ – der bekann­tes­ten Bäcke­rei der Regi­on. Emi­lio hat hin­ten im Vor­rats­haus ein klei­nes Zim­mer­chen für Fahr­rad­rei­sen­de frei geräumt. Zwar sind wir nicht mit dem Fahr­rad unter­wegs aber anscheint Vaga­bundin­nen genug, um auch in dem Hin­ter­zim­mer­chen schla­fen zu dür­fen. Unter Rad­fah­rern hat die­ser Ort fast Kul­tur­sta­tus: Die Wän­de sind voll von Nach­rich­ten, Namen, Geschich­ten und Fotos von hun­der­ten Rei­sen­den.

Murmeltierfleisch zum Abendessen

Vom Wan­dern hat­ten wir jetzt erst mal genug. Ab Tol­huin waren wir wei­ter Rich­tung Pun­ta Are­nas getrampt und nun, auf hal­bem Weg, an der Kreu­zung zu Pove­ni­er raus gelas­sen wor­den. Mal wie­der mit­ten im Nir­gend­wo. Außer einem Stopp­schild fin­den wir in der vege­ta­ti­ons­lo­sen Step­pe auch eine schä­bi­ge Bret­ter­hüt­te. Die uns jetzt als Nacht­la­ger dient und uns halb­wegs vor dem eisi­gen Wind drau­ßen schützt.

Wir tei­len uns das Refu­gio mit Isma­el. Seit ein­ein­halb Jah­ren reist er mit sei­nem Fahr­rad durch Süd­ame­ri­ka, ohne Plan, ohne Zeit, ohne Ziel. „Ich lass mich ein­fach trei­ben.“ Der kal­te Wind pfeift durch die Rit­zen. Die Ker­ze in der alten Fisch­do­se fla­ckert. Isma­el packt irgend­was klum­pi­ges schwar­zes aus einer Plas­tik­tü­te. „Habt ihr Hun­ger? Habe ges­tern von einem Gau­cho Mur­mel­tier­fleisch geschenkt bekom­men.“ „Dan­ke. Habe schon geges­sen“, not­lü­ge ich.

Isma­el ist erst drei­und­zwan­zig und wirkt schon so In-sich-ruhend wie ein wei­ser alter Mann. Ihn umweht die Aura von einem Men­schen, der schon durch etli­che Him­mel und Höl­len auf die­ser Erde gewan­dert ist. Sei­ne Geschich­ten erzählt er ruhig, ohne Ange­be­rei, ohne gefal­len zu wol­len. Ein­fach so, weil wir nach­fra­gen. Isma­el ist Ein­zel­gän­ger, liebt die Ein­sam­keit, lebt qua­si ohne Geld, schläft dort wo die Nacht gera­de her­ein­bricht, wäscht Tel­ler in Restau­rants um im Aus­tausch Essen zu bekom­men und fährt mit sei­nem Fahr­rad dort­hin wo der Wind ihn hin­treibt. „Kei­ne Ahnung wo ich mor­gen sein wer­de.“

Es ist stock­fins­ter in der Hüt­te. Ein­zig das Licht der Ker­ze in der alten durch­lö­cher­ten Fisch­do­se pro­ji­ziert hel­le Punk­te in den Raum. Drau­ßen heult der Wind über die tro­cke­ne, kal­te Wüs­te. Wir haben einen gro­ßen Stein innen vor die Tür gelegt, damit der Sturm die schä­bi­ge Holz­tür nicht auf­reißt. Die Hüt­te knarrt und klap­pert, es riecht nach Pis­se, die Käl­te kriecht durch die vie­len Rit­zen im Holz und lang­sam auch in mei­nen Schlaf­sack. Und trotz­dem sit­ze ich hier und grin­se. Bei all den Ent­beh­run­gen und ver­meid­li­chen Unan­nehm­lich­kei­ten reicht Isma­el mit sei­nen Geschich­ten und die klei­nen Licht­punk­te an der Wand völ­lig aus um mich glück­lich zu machen. Jemand hat eine Nach­richt in der Wand ver­ewigt: „The­re is no grea­ter joy than to have an end­less­ly chan­ging hori­zon, for each day to have a new sun.“

Auf dem Weg nach Por­ve­nir.

Porvenir- das vergessene Krabbenfischdorf

Wei­ter geht’s Rich­tung Por­ve­nir. Eine son­der­ba­re Land­schaft zieht am Auto­fens­ter vor­bei: Die pata­go­ni­sche Step­pe endet abrupt links von der Stra­ße in den eis­grau­en tosen­den Wel­len der Magel­lan­stra­ße. Wir fah­ren Stun­den. Das Bild bleibt das glei­che. Dann und wann – nur für einen kur­zen Augen­blick – bre­chen ein paar wind­schie­fe Holz­ver­schlä­ge die Ödnis die­ser ver­ges­se­nen Gegend am Ende der Welt. Jeden Mor­gen kom­men die ansäs­si­gen Fischer zu die­sen klei­nen Hüt­ten, um die über Nacht gefan­ge­nen Königs­krab­ben zu sor­tie­ren.

End­lich errei­chen wir das Pro­vinz­ständ­chen Por­ve­nir. Damals im spä­ten 19. Jahr­hun­dert kamen Ein­wan­de­rer aus Kroa­ti­en auf der Suche nach Gold hier­her, grün­de­ten die Sied­lung und gaben ihr den zuver­sicht­li­chen Namen „Zukunft“.


Wenn die Ein­wan­de­rer schon damals gewusst hät­ten wie die Gegen­wart heu­te aus­sieht, hät­ten sie sich wahr­schein­lich gar­nicht erst die Mühe gemacht hier her zu kom­men.

Aus­ser Königs­krab­ben – die wir uns nicht leis­ten kön­nen – und einem klei­nen Muse­um – des­sen Expo­na­te so zufäl­lig wir­ken wie die Samm­lung eines Hob­by­geo­lo­gen – hat das Städt­chen nichts zu bie­ten. Wir könn­ten wahr­schein­lich ein­fach unge­stört auf der Stra­ße cam­pen, so tot ist es hier. Von den Zei­ten des Gold­rauschs zeugt nur noch die brü­chi­ge Fas­sa­de des alten Kolo­ni­al­ki­nos mit der lücken­haf­ten Pro­gramm­ta­fel am Ein­gang. Die meis­ten Buch­sta­ben­kärt­chen sind den rau­en Küs­ten­stür­men zum Opfer gefal­len, aber die hart­nä­ckigs­ten prei­sen immer noch die letz­te Film­vor­stel­lung von vor zwan­zig Jah­ren an.

Von hier aus wol­len wir mit der Fäh­re nach Pun­ta Are­nas über­set­zen und dann über die Car­re­te­ra Aus­tral wie­der Rich­tung Nor­den tram­pen. Gegen­über des Kinos in der klei­nen Fähr­ti­cket­bu­de fra­gen wir nach der nächs­ten Über­fahrt­mög­lich­keit. Vor drei Stun­den sei eine Fäh­re über­ge­setzt, die nächs­te fährt in zwei Tagen.

Wir schlen­dern durch die lee­ren Stra­ßen. Wie so oft ohne Plan… aber mit Zuver­sicht. Irgend­was wird sich schon erge­ben. Die weni­gen Ein­woh­ner haben sich in ihren Häu­sern ver­kro­chen. Durch die Fens­ter­schei­ben sehen wir sie in ihren war­men, gemüt­li­chen Stu­ben sit­zen… und sind ehr­lich gesagt ein biss­chen nei­disch. Das Leben auf der Stra­ße hat was für sich aber ein Bett­chen, eine war­me Dusche und ein Abend­essen… das wär jetzt was.


„Basar, Kon­di­to­rei, Buch­hand­lung, Spiel­wa­ren­ge­schäft, Geschen­ke­la­den, Par­fü­me­rie“ steht auf dem Schild – ganz hin­ten im Dorf ver­steckt fin­den wir den wun­der­sa­men Laden von Mireya.

In Gedan­ken ver­sun­ken, sit­ze ich gera­de vor einem ima­gi­nä­ren Ofen und bei­ße in ein But­ter­brot mit Käse als Julia abrupt vor einen her­un­ter­ge­kom­me­nen Holz­schild ste­hen bleibt. „Spiel­zeug, haus­ge­mach­tes Gebäck und Haus­halts­wa­ren“ steht dort geschrie­ben und soll ver­mut­lich auf den unschein­ba­ren Laden im Hin­ter­grund auf­merk­sam machen. Das Schau­fens­ter ist voll­ge­stopft mit Krims­krams, ein halb­vol­ler Ein­horn-Gas­luft­bal­lon klebt schlapp an der Schei­be, dar­un­ter sta­peln sich Schreib­hef­te, Näh­zeug, eine gro­ße Plas­tik­pup­pe mit erwar­tungs­vol­lem Blick und ein paar Sham­poo­fla­schen. Ich weiß nicht ob es inne­re Ein­ge­bung war oder das „haus­ge­mach­te Gebäck“ was Julia in die­sen Laden gelockt hat…

Jeden­falls kommt Julia weni­ge Minu­ten spä­ter aus dem Laden, mit einem brei­ten Grin­sen im Gesicht und einem pink-blau­en Cup­ca­ke in der Hand. „Ich hab uns eine Unter­kunft klar gemacht!“

So gemüt­lich haben wir seit Mona­ten nicht mehr geschla­fen. Wir füh­len uns so gebor­gen, als sei­en wir zu Besuch bei einer Tan­te: Tags­über ver­wöhnt uns Mireya mit haus­ge­mach­ter Kost, ab und zu bringt sie uns Tor­ten und Lecke­rei­en aus ihrer Bäcker­stu­be in das Wohn­zim­mer wo wir schrei­ben.

Die Woh­nung von Mireya, der Kiosk­be­sit­ze­rin, liegt direkt hin­ter dem Laden im sel­ben Haus. Dort lebt sie allei­ne mit ihrer Toch­ter Roxy. Das freie Zim­mer ihrer zwei­ten Toch­ter, die in Pun­ta Are­nas stu­diert, stellt sie uns für ein paar weni­ge Pesos zur Ver­fü­gung.

Wir kön­nen unser Glück kaum glau­ben. Ein wei­ches Bett, eine war­me Dusche, fri­sche Klei­dung, ein war­mes Abend­essen – als hät­te Mireya gehört, wovon wir eben noch geträumt haben. Ein­ge­bet­tet in vie­le Decken und noch mehr Kis­sen, schla­fen wir die­se Nacht so fried­lich wie schon lan­ge nicht mehr.

Mireya nimmt uns auf wie zwei ver­lo­re­ne Töch­ter. Wir ver­brin­gen über eine Woche bei ihr und füh­len uns von Tag zu Tag mehr Teil der Fami­lie. Von mor­gens bis Abends ver­wöhnt sie uns mit haus­ge­mach­ten Ein­töp­fen, fri­schem Brot und lecke­ren Sah­ne­tor­ten. Manch­mal kommt sie ins Wohn­zim­mer, wo wir tags­über an unse­rem Blog und den Tex­ten arbei­ten, bringt uns war­men Tee und fri­sche Teil­chen aus ihrer Back­stu­be. Abends, voll­ge­ges­sen und zufrie­den, sit­zen wir meist noch lan­ge vor dem Feu­er­ofen in der Stu­be und quat­schen über dies und jenes, wäh­rend Mireya die Tor­ten für den nächs­ten Tag vor­be­rei­tet.

 


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