Dein Warenkorb ist gerade leer!
Dezember 2018 – Porvenir, Chile
Ein paar Wochen ist es schon her, dass sich Michelle hier in El Bolson, einer Kleinstadt in Patagonien, von uns verabschiedet hat um zurück nach Deutschland zu fliegen. Wir sind immer noch hier…
In den 60er Jahren migrierten Hippies und die städtische Boheme Argentiniens nach El Bolson. Die Stadt ist seither geprägt von gemeinschaftlichen Leben, Kunsthandwerk und wirtschaftlicher Autarkie.
Frühstück im Adamskostüm
Seit ein paar Tagen wohnen wir bei Eric am südlichen Ende der Kleinstadt. Sieben Jahre ist er ohne Geld durch Südamerika gereist, hat ein paar Monate, wie wir, in der Gemeinschaft Velatropa gelebt und sich erst vor ein paar Monaten hier in El Bolson niedergelassen.
Sein jetziges Zuhause, eine Hütte aus Stroh und Lehm, liegt versteckt in einem Hinterhof. Ein kleines Häuschen, aber mit allem, was man so braucht. Sein Blick wandert durch den Raum. „Ich muss mich noch dran gewöhnen wieder so viel Zeugs zu haben. Eben hat mein ganzer Besitz noch in einen kleinen Rucksack gepasst.“ Viel Zeugs…damit meint Eric seine fünf Bücher, den Schreibtisch aus Sperrholz, das selbstgebaute Bett und den kleinen Gasherd in der Kochnische. Die Subjektivität unserer selbstgeschaffenen Realitäten: Für den einen ist Armut was für den anderen ein Leben in Überfluss ist.
Wir sitzen zu dritt im Schneidersitz auf einer braunen Wolldecke, die wir auf dem Boden ausgebreitet haben. In der Mitte steht ein großer Topf mit Porridge, den wir uns teilen. Eric sitzt vor uns so wie ihn die Natur geschaffen hat, nackt. „Ist es für euch Okay wenn ich in meiner Wohnung nackt rum laufe? Kleidung schränkt mich ein!“, hatte er am zweiten Tag gefragt. „Kein Problem…“ Zwar war der Anblick fremder Genitalien beim Frühstück anfangs befremdlich, aber am Ende ist alle „Normalität“ doch eben nur eine Sache der Gewöhnung…
Weiter geht’s Richtung Süden
Wir sitzen bei Lucy und Oscar im Auto, die beiden haben das Wochenende in El Bolson verbracht und fahren jetzt wieder zurück ins 200 km südlich gelegene Tecka. Die einzige Straße weit und breit führt durch das von Gletschern geformte Tal. Lucy zeigt rechts aus dem Fenster auf den Kieferwald. „Das ganze Land was ihr hier seht, gehört Crocodile Dundee. Die Leute haben den ehemaligen Millionär so genannt, weil er hinten alleine in einer Hütte wohnt und nur von der Jagd lebt. Crocodile Dundee kam vor fünfundzwanzig Jahren, kaufte sich ein riesiges Stück Land und verschenkte sein übriges Geld.“
„Hierzu gibt’s auch ne Geschichte“, sagt diesmal Oskar und fährt ein bisschen langsamer an einer schmalen Einfahrt vorbei. „Ihr kennt doch bestimmt die berühmten Bankräuber Butch Cassidy, Sundance Kid und Etta Place. Wenn man der Einfahrt hier folgt, kommt man zu der kleinen Hütte wo sich die drei Jahrelang versteckt hielten.“
Patagonien ist ein Magnet für alle Arten von AussteigerInnen – nicht nur geldmüde Millionäre und ehemalige Diebe nutzen die Abgelegenheit dieses Fleckchens Erde, um ein ungestörtes Dasein zu leben. Argentinien war nach dem zweiten Weltkrieg auch Zufluchtsstaat für zahlreiche Nazis und NS-Führer. Zwei der bekanntesten waren Adolf Eichmann und Josef Mengele. Noch heute gibt es hier hier ganze (Ex-)Nazi-Gemeinschaften, deren Alltag nach den „Deutschen Werten“ ausgerichtet ist und wo der Geburtstag Hitlers ein Feiertag ist.
In der Wüste ausgesetzt
Mittlerweile sind wir schon so weit im Süden, dass es selbst im Sommer kaum wärmer als zwölf Grad wird. Draußen tost der Wind. Wir sitzen bei Gonzalez in der warmen Lastwagenkabine und trinken Mate – das nationale Teegetränk der Argentinier. Gonzalez hatte uns vor ein paar Stunden in Rio Mayo eingesammelt und ist seit zwei Tagen unterwegs nach Calafate um dort einen Supermarkt mit Obst und Gemüse zu beliefern. Auch wir sind auf dem Weg nach Calafate, aber es ist schon dunkel und wir sind müde von dem langen Tramptag. „Gonzalez. Kannst du anhalten und uns raus lassen? Wir wollen hier schlafen.“ Er blickt uns skeptisch von der Seite an. „Das meint ihr nicht wirklich ernst oder? Ich lass euch doch nicht einfach mitten in der Wüste raus. Ihr seid doch verrückt!“ Zwanzig Minuten braucht es, bis wir ihn davon überzeugt haben, dass wir wirklich hier draußen schlafen wollen. Er hält – wenn auch widerwillig – an. „Dass euch ja nichts passiert!“
Wir bedanken uns, wünschen ihm eine gute Nacht und marschieren in die stockfinstere Wüste. Als die roten Rücklichter hinter dem Horizont verschwinden bleibt nur die Stille. Und die Sterne. Und die Freude über die Freiheit, die Freiheit ungebunden durch die Welt ziehen zu können, ohne Pläne, ohne Verabredungen, ohne Hotelbuchung.
Die Lüge vom gelobten Land
Kurz vor El Calafate werden wir von Emanuel eingesammelt. Seine Urgroßeltern waren die ersten SiedlerInnen von El Calafate, sogenannte Pioniere. „Das riesige unbesiedelte Gebiet im Süden Argentiniens war für die Regierung von Anfang an ein Problem. Wie sollten die Grenzen zu Chile behauptet werden, wenn es keine Leute gab? Nach dem Motto „regieren heißt bevölkern“ rief der Staat einen offiziellen Plan ins Leben, der speziell darauf abzielte, Siedler anzuziehen. Mit großen Versprechungen wurden die Menschen in diese karge Gegend gelockt“, erzählt uns Emanuel.
„Ganze Familien ließen ihr Leben im Norden hinter sich, verstauten ihr Hab und Gut in Pferdewagen und machten sich auf den Weg gen Süden. Mehrere Monate dauerte die strapaziöse Reise durch wegloses Gelände. Diejenigen, die die Odyssee überlebten, fanden sich bei ihrer Ankunft in einem unwirtlichen und dem Menschen nicht wohl gesonnenen Land gegenüber. Die Vorräte und Kräfte waren zu ausgezehrt, um wieder zurück zu gehen. Und so blieben die meisten, die hier her gekommen waren.“
Verloren in der Wildnis
Nachdem es mit den Fahrrädern also nicht geklappt hat, machen wir uns zu Fuß auf den Weg Richtung Norden. Unser Plan: Die Strecke von Ushuaia nach Tolhuin über die Berge „abkürzen“. Damit würden wir uns 100 Kilometer Trampstrecke sparen und zu Fuß die spektakuläre Natur Feuerlands kennen lernen.
Bis zum Wasserfall ist der Weg noch gut ausgetreten. Nur ein paar Meter weiter kann von Pfad schon nicht mehr die Rede sein…Wir laufen mitten durch ein Moor, über weiche Mooshügel die bei jedem Schritt so schmatzen wie alte, nasse Matratzen. Neben uns flattert eine Entenmutter mit empörten Geschnatter auf und lässt ihre Eier alleine. Willkommen in der Wildnis!
Vier Stunden wandern wir mittlerweile durch das leicht ansteigende Hochtal, da tauchen plötzlich drei Leute hinter einem Hügel auf.
Einer von ihnen ist Bergführer, die anderen beiden sind Touristinnen aus den Staaten. „Ihr wollt die Bergkette überqueren? Vielleicht kommt ihr noch bis zu dem Felsen da oben, weiter könnt ihr es aber vergessen. Seit fünfzehn Jahren lebe ich hier und habe noch nie von einem Weg gehört der von hier aus ins nördliche Tal führt!“
Während wir mit dem Bergführer sprechen, mustern uns die Touristinnen von Kopf bis Fuß. Kein Wunder: Die beiden sind mit atmungsaktiven Merinowollshirts, hochalpinen Goretex-Wanderschuhen und ultraleichten Titanwanderstöcken ausgerüstet. Wir daneben – mit unseren alten, löchrigen Schuhen, den Klamotten aus dem Second-Hand-Laden und den aus Ästen improvisierten Wanderstöcken – müssen bestimmt aussehen wie die letzten Räuberinnen.
„Danke für die Auskunft!“, rufen wir der Gruppe noch nach und entfernen uns mit zügigen Schritten bevor sie weiter versuchen, uns von unserm Plan abzubringen. Wir probieren es mal ‑umkehren können wir immer…
Wir verbringen die Nacht auf einer flache Ebene und laufen am nächsten Morgen weiter Richtung Pass. Je höher wir den fast senkrechten Hang hinaufsteigen, desto spärlicher wird die Vegetation bis sie irgendwann ganz von Geröll und Eis abgelöst ist. Der Schnee drückt sich durch die Löscher unserer, für den alpinen Gebrauch höchst inadäquaten und in diesem desolaten Zustand eigentlich völlig nutzlose Schuhe. Um keine Eisfüße zu bekommen, heißt es improvisieren: So gut es geht verkleben wir die Schwachstellen mit Gaffatape und stapfen weiter durch den immer tiefer werdenden Schnee.
Nach zähen zwei Stunden erreichen wir endlich den Pass. Der tosende, eisige Wind – der hier für Feuerland so berühmt wie berüchtigt ist – schlägt uns scharf ins Gesicht. Wir suchen Schutz hinter einem Stein, um den Blick ins Tal mit dem Blick auf der Wanderkarte abzugleichen. Noch sieht es so aus als wären wir auf dem richtigen Weg…
Über das Geröllfeld geht’s in ein schmales Hochtal hinab. Rechts von uns, auf der anderen Seite des Tales, haben sich oben entlang des Bergkamms Schneeüberhänge gebildet, die nun bedrohlich darauf warten in der Frühjahrswärme abzubrechen und als Lawinen ab zu gehen. Wir halten uns so weit wie möglich auf der sicheren Seite des Tals uns steuern eine Seitenmoräne an. Hier wollen wir erstmal was essen und unser weiteres Vorgehen besprechen.
Erneuter Abgleich: Aussicht – Karte. Ich traue meinen Augen nicht: Da wo wir den Talausgang erwartet hatten, steht Bergspitze an Bergspitze. Mit unserer Ausrüstung völlig unmöglich zu überqueren… Sollen wir umkehren? Den mühevoll erkämpften Weg wieder zurück gehen? Wir rechnen: das Essen reicht noch für weitere vier Tage. Zwei waren wir bereits unterwegs, heißt, zwei brauchen wir von hier aus für den Rückweg. Wenn wir jetzt noch einen Tag weiter Richtung Norden gehen, kämen wir also im Notfall – falls wir uns dann doch entscheiden sollten zurück zu gehen – immer noch mit unseren Vorräten hin. Also gehen wir weiter.
Wir befinden uns im absoluten Niemandsland, nichts lässt darauf schließen, dass sich hier jemals eine Menschenseele aufgehalten hat. Nur die stummen Berge schauen bedrohlich auf uns herab und scheinen sich über uns mickrige Gestalten lustig zu machen. Wie klein, bedeutungslos und zerbrechlich ich mich fühle…
Jeder neue Blick in die nächste Talkurve, jede Einsicht hinter den nächsten Hügel hat jetzt Einfluss auf unser Weiterkommen. Wir folgen dem Bach der allmählich zu einem ordentlichen Gebirgsfluss anschwillt. Zwei Talbiegungen kommen wir noch weiter. Bis sich der Fluss nur noch reißend durch die steilen Felsschluchten windet und schließlich als Wasserfall mehrere hundert Meter ins Tal stürzt.
Aber immer wenn eine Situation aussichtslos scheint, tun sich oft doch ungeahnte Möglichkeiten auf. Zwar kommen wir hier unmöglich weiter aber der bewaldete Hang westlich von uns sieht so aus als könnte er mit dem Tal verbunden sein. Könnte… die Garantie werden wir erst morgen haben, oder eben nicht. Heute ist es zu spät.
Damit wir das Tageslicht voll ausnutzen können, brechen wir unser Lager noch vor Sonnenaufgang ab. Wir durchqueren den stechend kalten Fluss, um auf der anderen Seite zum gestern ausgekundschafteten Hang zu klettern. Es sieht so aus als hätten wir mit unserer Vermutung richtig gelegen: der Wald scheint mit dem Tal verbunden zu sein. Naja, so viel weniger steil als der andere Hang ist dieser hier nicht wirklich. Aber wenigstens gibt es Bäume an denen wir uns entlanghangeln können.
Vier Stunden später stehen wir im Tal. Wir können’s kaum glauben. Unserer Karte nach soll von hier aus ein Wanderpfad abgehen. Wir haben uns einen gemütlichen ausgetretenen Weg vorgestellt, mit Brücken und Markierungen. Wenn wir dem GPS glauben schenken sollen, müssten wir gerade hier mitten auf dem Wanderweg stehen. Aber wir stehen knietief im Moor. Von Brücken und Markierungen keine Spur. An Umkehren ist mittlerweile aber nicht mehr zu denken. Zu weit sind wir schon vom Ausgangspunkt entfernt. Zu viele schwierige Stellen haben überwinden müssen. Unser Vorrat wird knapp. Wir rechnen aus: Es heißt doch, dass ein Mensch sieben Tage ohne Essen überleben kann. Oder wie war das nochmal?
Einen Hoffnungsschimmer haben wir noch: Auf der Karte ist am Ufer des Lago Fagnano eine Unterkunft eingezeichnet die man mit dem Boot erreichen kann. Vielleicht können wir dort ein paar Nudeln oder Reis kaufen. Vielleicht würden sie uns sogar mit ihrem Boot ans andere Ende des Sees bringen, dort wo es wieder Straßen gibt…
Zu unserer Freude gibt es diese Unterkunft wirklich und wir stoßen sogar auf Menschen! Allerdings werden wir von denen nur schief angeglotzt und unfreundlich weiter geschickt. Nichtmal ein Schokoladentäfelchen können wir dem gierigen Wirt abhandeln. „Von hier aus ist’s nicht mehr weit bis zur Straße.“ Der hatte sich offensichtlich noch nie weiter als 500 Meter von seinem Haus wegbewegt. Denn hinter der ersten Bucht stehen wir wieder mitten im meterhohen Gras, vor uns eine Wand aus umgefallenen Bäumen. Wir gehen weiter. Zwei Stunden, Vier Stunden…die Zeit vergeht ohne dass wir Kilometer hinter uns bringen.
Es ist als hätte ein Riese überdimensionale Mikadostäbchen auf unseren Weg ausgeschüttet. Die Bäume liegen kreuz und quer im Wald verteilt. Für einen Kilometer Strecke brauchen wir durchschnittlich eine Stunde. Es ist zum verrückt werden. Aber wir zwingen uns Contenance zu bewahren. Wir stecken uns kleine Zwischenziele, zum Beispiel hinten die nächste Küstenzunge. Den Gedanken an unseren nichtexistenten Nahrungsmittel schaffen wir es trotz knurrendem Magen irgendwie zu ignorieren. Fünf Stunden, Acht Stunden, es wird schon dunkel.
Am nächsten Tag geht’s weiter. Gleicher Nicht-Weg. Gleiche physische und psychische Gratwanderung. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Fieberhaft suchen wir nach Spuren, die irgendwie auf etwas Menschliches hinweisen und rasten fast aus vor Freude als wir einen Kuhfladen finden.
Der Kuhfladen kann nur folgendes bedeuten: 1) Die Kuh ist höchstwahrscheinlich nicht mit dem Boot hier her gekommen, also muss sie sich irgendwie von ihrem Stall einen Weg hierher gebahnt haben denn 2) ist sie bestimmt keine Wildkuh gewesen sondern gehört irgendeinem Bauern, was 3) den Schluss zulässt, dass wir nur den Fladen folgen müssen, um irgendwann zu einer menschlichen Siedlung zu kommen, die 4) nicht allzu weit von hier entfernt sein konnte, weil Kühe im Allgemeinen keine ewig weiten Wanderungen unternehmen.
Unsere Schlussfolgerung geht auf: Die Kuhfladen werden zahlreicher, hier musste sich vor kurzem eine ganze Herde aufgehalten haben. Die erst undeutlichen Fußspuren verdichten sich zu einem matschigen und breiten Trampelfad. Und da! Nach zwei Stunden tut sich plötzlich eine Lichtung auf. Weitere drei Stunden dauert es bis wir eine schmale Schotterstraße erreichen. Der unfreundliche Wirt aus der Unterkunft am See hatte uns davon berichtet. „Ja..und dann stoßt ihr auf eine Straße mit großem Parkplatz, wo immer Touristen sind.“ Straße ja – zumindest so was in der Art. Von Parkplatz und Touristen allerdings kein Spur. 35 km bis zur nächsten größeren Straße, heißt ein bis zwei Wandertage mehr…
Enttäuscht, Entmutigt und mit den Kräften am Ende schlappen wir weiter und stellen uns auf zwei weitere Tage voller Hunger ein als uns plötzlich ein Auto auf der Schotterstraße entgegen kommt. Bestimmt eine Fata Morgana. Wir stehen mitten auf der Straße damit das Auto bloß nicht auf die Idee kommt an uns vorbei zu fahren. „Wo fahrt ihr hin?“ „Ans Ende der Straße, wollen mal sehen was es da so gibt.“ „Nicht viel. Könnt ihr uns auf dem Rückweg mitnehmen?“ „Klar!“
Zwanzig Minuten später sitzen wir im Auto Richtung Tolhuin wo es die beste Bäckerei in ganz Feuerland geben soll.
Murmeltierfleisch zum Abendessen
Vom Wandern hatten wir jetzt erst mal genug. Ab Tolhuin waren wir weiter Richtung Punta Arenas getrampt und nun, auf halbem Weg, an der Kreuzung zu Povenier raus gelassen worden. Mal wieder mitten im Nirgendwo. Außer einem Stoppschild finden wir in der vegetationslosen Steppe auch eine schäbige Bretterhütte. Die uns jetzt als Nachtlager dient und uns halbwegs vor dem eisigen Wind draußen schützt.
Wir teilen uns das Refugio mit Ismael. Seit eineinhalb Jahren reist er mit seinem Fahrrad durch Südamerika, ohne Plan, ohne Zeit, ohne Ziel. „Ich lass mich einfach treiben.“ Der kalte Wind pfeift durch die Ritzen. Die Kerze in der alten Fischdose flackert. Ismael packt irgendwas klumpiges schwarzes aus einer Plastiktüte. „Habt ihr Hunger? Habe gestern von einem Gaucho Murmeltierfleisch geschenkt bekommen.“ „Danke. Habe schon gegessen“, notlüge ich.
Ismael ist erst dreiundzwanzig und wirkt schon so In-sich-ruhend wie ein weiser alter Mann. Ihn umweht die Aura von einem Menschen, der schon durch etliche Himmel und Höllen auf dieser Erde gewandert ist. Seine Geschichten erzählt er ruhig, ohne Angeberei, ohne gefallen zu wollen. Einfach so, weil wir nachfragen. Ismael ist Einzelgänger, liebt die Einsamkeit, lebt quasi ohne Geld, schläft dort wo die Nacht gerade hereinbricht, wäscht Teller in Restaurants um im Austausch Essen zu bekommen und fährt mit seinem Fahrrad dorthin wo der Wind ihn hintreibt. „Keine Ahnung wo ich morgen sein werde.“
Es ist stockfinster in der Hütte. Einzig das Licht der Kerze in der alten durchlöcherten Fischdose projiziert helle Punkte in den Raum. Draußen heult der Wind über die trockene, kalte Wüste. Wir haben einen großen Stein innen vor die Tür gelegt, damit der Sturm die schäbige Holztür nicht aufreißt. Die Hütte knarrt und klappert, es riecht nach Pisse, die Kälte kriecht durch die vielen Ritzen im Holz und langsam auch in meinen Schlafsack. Und trotzdem sitze ich hier und grinse. Bei all den Entbehrungen und vermeidlichen Unannehmlichkeiten reicht Ismael mit seinen Geschichten und die kleinen Lichtpunkte an der Wand völlig aus um mich glücklich zu machen. Jemand hat eine Nachricht in der Wand verewigt: „There is no greater joy than to have an endlessly changing horizon, for each day to have a new sun.“
Porvenir- das vergessene Krabbenfischdorf
Weiter geht’s Richtung Porvenir. Eine sonderbare Landschaft zieht am Autofenster vorbei: Die patagonische Steppe endet abrupt links von der Straße in den eisgrauen tosenden Wellen der Magellanstraße. Wir fahren Stunden. Das Bild bleibt das gleiche. Dann und wann – nur für einen kurzen Augenblick – brechen ein paar windschiefe Holzverschläge die Ödnis dieser vergessenen Gegend am Ende der Welt. Jeden Morgen kommen die ansässigen Fischer zu diesen kleinen Hütten, um die über Nacht gefangenen Königskrabben zu sortieren.
Endlich erreichen wir das Provinzständchen Porvenir. Damals im späten 19. Jahrhundert kamen Einwanderer aus Kroatien auf der Suche nach Gold hierher, gründeten die Siedlung und gaben ihr den zuversichtlichen Namen „Zukunft“.
Ausser Königskrabben – die wir uns nicht leisten können – und einem kleinen Museum – dessen Exponate so zufällig wirken wie die Sammlung eines Hobbygeologen – hat das Städtchen nichts zu bieten. Wir könnten wahrscheinlich einfach ungestört auf der Straße campen, so tot ist es hier. Von den Zeiten des Goldrauschs zeugt nur noch die brüchige Fassade des alten Kolonialkinos mit der lückenhaften Programmtafel am Eingang. Die meisten Buchstabenkärtchen sind den rauen Küstenstürmen zum Opfer gefallen, aber die hartnäckigsten preisen immer noch die letzte Filmvorstellung von vor zwanzig Jahren an.
Von hier aus wollen wir mit der Fähre nach Punta Arenas übersetzen und dann über die Carretera Austral wieder Richtung Norden trampen. Gegenüber des Kinos in der kleinen Fährticketbude fragen wir nach der nächsten Überfahrtmöglichkeit. Vor drei Stunden sei eine Fähre übergesetzt, die nächste fährt in zwei Tagen.
Wir schlendern durch die leeren Straßen. Wie so oft ohne Plan… aber mit Zuversicht. Irgendwas wird sich schon ergeben. Die wenigen Einwohner haben sich in ihren Häusern verkrochen. Durch die Fensterscheiben sehen wir sie in ihren warmen, gemütlichen Stuben sitzen… und sind ehrlich gesagt ein bisschen neidisch. Das Leben auf der Straße hat was für sich aber ein Bettchen, eine warme Dusche und ein Abendessen… das wär jetzt was.
In Gedanken versunken, sitze ich gerade vor einem imaginären Ofen und beiße in ein Butterbrot mit Käse als Julia abrupt vor einen heruntergekommenen Holzschild stehen bleibt. „Spielzeug, hausgemachtes Gebäck und Haushaltswaren“ steht dort geschrieben und soll vermutlich auf den unscheinbaren Laden im Hintergrund aufmerksam machen. Das Schaufenster ist vollgestopft mit Krimskrams, ein halbvoller Einhorn-Gasluftballon klebt schlapp an der Scheibe, darunter stapeln sich Schreibhefte, Nähzeug, eine große Plastikpuppe mit erwartungsvollem Blick und ein paar Shampooflaschen. Ich weiß nicht ob es innere Eingebung war oder das „hausgemachte Gebäck“ was Julia in diesen Laden gelockt hat…
Jedenfalls kommt Julia wenige Minuten später aus dem Laden, mit einem breiten Grinsen im Gesicht und einem pink-blauen Cupcake in der Hand. „Ich hab uns eine Unterkunft klar gemacht!“
Die Wohnung von Mireya, der Kioskbesitzerin, liegt direkt hinter dem Laden im selben Haus. Dort lebt sie alleine mit ihrer Tochter Roxy. Das freie Zimmer ihrer zweiten Tochter, die in Punta Arenas studiert, stellt sie uns für ein paar wenige Pesos zur Verfügung.
Wir können unser Glück kaum glauben. Ein weiches Bett, eine warme Dusche, frische Kleidung, ein warmes Abendessen – als hätte Mireya gehört, wovon wir eben noch geträumt haben. Eingebettet in viele Decken und noch mehr Kissen, schlafen wir diese Nacht so friedlich wie schon lange nicht mehr.
Mireya nimmt uns auf wie zwei verlorene Töchter. Wir verbringen über eine Woche bei ihr und fühlen uns von Tag zu Tag mehr Teil der Familie. Von morgens bis Abends verwöhnt sie uns mit hausgemachten Eintöpfen, frischem Brot und leckeren Sahnetorten. Manchmal kommt sie ins Wohnzimmer, wo wir tagsüber an unserem Blog und den Texten arbeiten, bringt uns warmen Tee und frische Teilchen aus ihrer Backstube. Abends, vollgegessen und zufrieden, sitzen wir meist noch lange vor dem Feuerofen in der Stube und quatschen über dies und jenes, während Mireya die Torten für den nächsten Tag vorbereitet.
Erschienen am
Schreibe einen Kommentar