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Als das britische Pop-Duo Eurythmics im Jahr 1983 einen geeigneten Drehort für das Musikvideo ihres Welthits „Here comes the rain again“ suchte, fiel die Wahl zunächst auf den Loch Lomond im Südwesten der schottischen Highlands. Weil den Musikern diese Region allerdings nicht freudlos genug war, setzten sie ihre Suche fort und schienen schlussendlich in der Abgeschiedenheit der winterlichen Orkneyinseln den Inbegriff von Tristesse gefunden zu haben.
Ganz so gottverlassen, wie es das Video suggeriert, nehme ich die Szenerie freilich nicht wahr, als ich dort eine Landstraße im Nirgendwo der Hauptinsel Mainland entlang wandere. Irgendwo zwischen den mit rund 7000 bzw. rund 1700 Einwohnern bevölkerungsreichsten Orten Kirkwall und Stromness.
In Anbetracht der herrschenden Wetterbedingungen haften die Bilder und der Liedtext dennoch hartnäckig in meinem Gedächtnis. Zwar sind die Wintermonate bereits Geschichte, doch auch an diesem Junitag wagen sich die Temperaturen noch nicht über die Grenze von 12 Grad hinaus. Zudem wehen schon den ganzen Tag stürmische Böen ungebremst übers Land und aus tief hängenden Wolken entleeren sich regelmäßig satte Regengüsse. Manchmal gelingt es dem Wind, die grauen Massen auseinanderzuziehen und Raum für etwas Sonnenlicht zu schaffen. Dann ist die Umgebung in kontrastreiches Licht und kräftige Farben getaucht, die ihr ein Antlitz rauer Schönheit verleihen.
Mainland und Hoy sind die beiden größten des rund 16 km vor der schottischen Küste gelagerten, etwa 70 Inseln umfassenden Archipels. Besucher sind zumeist Touristen auf den Spuren der steinzeitlichen Megalithanlagen und Steinkreise, die hier seit Jahrhunderten Wind und Wetter trotzen, als seien sie Hüter uralter Geheimnisse. Oder es sind besagte 80er-Popikonen, die auf Hoy einst jene Kulissen fanden, an denen sich die unheimliche, ja fast schon mystische Aura des Musikvideos scheinbar am treffendsten einfangen ließ.
Windgepeitschte See, der Himmel düster und wolkenverhangen. Vor diesem Hintergrund steht die Sängerin Annie Lennox auf den Klippen unweit des „Old Man of Hoy“. Einer hoch aufragenden Felsnadel, der Helgoländer „Lange Anna“ nicht unähnlich. Sie singt von Sehnsucht und dem Zehren nach zwischenmenschlicher Verbindung. Gefühle, die auch das Leben von Betty Corrigall, Hoys wohl bekanntester Bewohnerin, nachhaltig bestimmt haben.
Von ihr erfahre ich, als ich an der Straße Tony begegne. Abgesehen von gelegentlichem Autoverkehr ist er der Einzige, den ich bei diesen unangenehmen Bedingungen bislang hier draußen antreffe. Er mag um die 60 sein. Im olivfarbenen Regenoverall, die Kapuze schützend ins Gesicht gezogen, verschmilzt seine hoch aufgeschossene, schlaksige Gestalt nahezu mit der Farbpalette der umgebenden Landschaft, als er auf dem Seitenstreifen mit raumgreifendem Schritt auf mich zu steuert.
Die Wolkendecke ist für einen Moment aufgerissen und ich bin gerade dabei, diese Gelegenheit für ein paar Fotos der Szenerie zu nutzen. Neugierig beäugt von etlichen Rindern, die ihr andächtiges Grasen umgehend einstellen und eiligst aus allen Richtungen heran traben, als ich am Rand ihres Weidezauns Position beziehe. Tony gesellt sich ebenfalls dazu und den vorbeiziehenden Autofahrern mag sich ein heiterer Anblick geboten haben. Zwei hagere 1,90 m – Hünen in dunkler Regenmontur am Rande einer einsamen, hügeliges Grasland durchschneidenden Straße, umstellt von einer Gruppe Rinder, die dem sich entspinnenden Gespräch mit regem Interesse beiwohnen.
Was mich hierher verschlagen hat, möchte Tony sogleich erfahren.
Ich verweise auf ein im Hafen von Kirkwall liegendes Kreuzfahrtschiff, dessen Rundreise um Großbritannien ich als Dozent begleite. Wie zum Beleg surrt im selben Augenblick ein aufopferungsvoll gegen den Wind ankämpfendes E‑Bike-Geschwader des Reiseveranstalters vorüber, ehe die Geräusche des Windes und unserer Stimmen wieder die Klangkulisse beherrschen.
Ihn selbst führt es aus London in diese Gegend. Eine Art „Pilgerreise“, wie er es nennt. Auf den Spuren der eigenen Familiengeschichte.
„Hast du schon von Betty Corrigall gehört?“
Ich verneine.
Ein altes Schwarz-Weiß-Foto findet daraufhin den Weg aus Tonys Jackentasche. Es zeigt ein lose umzäuntes Grab inmitten hügeliger Ödnis. Eine der Stationen seiner Unternehmung, wie er mir verrät.
„Here lies Betty Corrigall“ heißt es auf dem schlichten weißen Grabstein. Sonst sind keine weiteren Informationen zu entnehmen. Der simple Lattenzaun, an dem Zeit und Wetter sichtbar gerüttelt haben, lässt vermuten, dass die Unbekannte schon geraume Zeit an diesem isolierten Ort ihr jenseitiges Dasein fristet.
Das Grab befinde sich auf der Nachbarinsel Hoy, erfahre ich. Es sei eine kleine Touristenattraktion in der Gegend. Wenn ich die Zeit fände, solle ich es unbedingt besuchen.
Leider habe ich die nicht, denn schon in wenigen Stunden wird mein Schiff die Orkneys wieder verlassen.
„Was hat es damit auf sich?“, frage ich deshalb neugierig.
Dass Ruhestätten großer Berühmtheiten bisweilen touristisch beliebte Orte sind, ist mir nicht unbekannt, wandle ich doch selbst gerne in den Fußstapfen popkulturell bedeutender Persönlichkeiten durch die Welt, um Geschichte zu verlebendigen und in meinen Vorträgen anschaulicher vermitteln zu können. Von Betty Corrigall hatte ich allerdings noch nie gehört.
„Betty hat im späten 18. Jahrhundert auf Hoy gelebt“, werde ich aufgeklärt. „Sie war 27. Hat sich in einen Waljäger verliebt und wurde schwanger. Als der Typ davon Wind bekam, hat er das Weite gesucht und ist nie zurückgekehrt. Daraufhin hat das arme Ding sich erhängt.“
„Was führt dich zu ihr?“, möchte ich wissen, noch immer nicht recht im Klaren, weshalb es sich um eine Sehenswürdigkeit von allgemeinerem Interesse handeln soll.
„Ist sie eine entfernte Verwandte?“
Tony verneint. Allerdings sei ein Verwandter an der Errichtung des Grabsteins beteiligt gewesen und nun wolle er diesem Ort erstmalig einen Besuch abstatten.
Gerne hätte ich weitere Details erfahren. Insbesondere der Umstand, dass sich das Grab fernab von Friedhöfen und umliegenden Dörfern befindet, gibt mir Rätsel auf. Doch gerade als ich nachhaken will, öffnet der Himmel erneut seine Schleusen und einmal mehr erklingen die Eurythmics in meinen Ohren. „Here comes the rain again“. In Kürze soll zudem der Überlandbus nach Stromness vorbeikommen. Er wird Tony zur Fähre Richtung Hoy bringen und bis zur Haltestelle ist es noch ein Stück Fußweg.
So geben wir uns die Hand, wünschen einander gutes Gelingen, rücken die Kapuzen zurecht und gehen in entgegengesetzter Richtung unserer Wege.
Zurück an Bord des Schiffes versuche ich mehr über Betty Corrigall herauszufinden und lerne, dass es in der religiös geprägten Inselgemeinschaft, der sie entstammte, als Schande galt, unverheiratet und schwanger im Stich gelassen zu werden. Entsprechend wurde sie von den Bewohnern ihres Dorfes gemieden und geächtet.
In ihrem Schmerz unternahm sie den Versuch, sich zu ertränken, was Anwohner aber verhindern konnten. Ihre Verzweiflung schien jedoch zu groß und sie fand letztlich an einem Strick im Kuhstall ihres Elternhauses Erlösung.
Aus Sicht der Obrigkeiten geboten die Umstände ihres Todes, die junge Frau ohne das übliche christliche Zeremoniell weit außerhalb der Gemeindegrenzen zu vergraben, als sollte mit dieser Geste symbolisch untermauert werden, dass jemand wie sie hier nichts verloren hat.
Und so lag sie dort verlassen und vergessen für etwa 160 Jahre, ehe ihr Sarg 1933 zufällig von Torfstechern entdeckt wurde. Auf einen Schatz hoffend, öffneten die Männer die Kiste, fanden aber nur die vom Moorboden bestens konservierte Leiche.
Sie wurde daraufhin an selber Stelle erneut zur Ruhe gelegt, doch diese währte nicht lange. Die Wirren des Zweiten Weltkriegs machten Hoy zu einem Stützpunkt für britische Soldaten und als einige von ihnen zwecks der Errichtung von Telefonmasten im Torf gruben, stießen auch sie auf den Leichnam und nannten die Unbekannte „Lady of Hoy“.
Statt in Würde ihren Frieden zu finden, wurde Betty zu einer Art Kuriosität, denn als weitere Soldaten von dem Fund Wind bekamen, wollten auch sie einen Blick auf die mysteriöse Dame werfen und hoben den Sarg ständig aufs Neue ans Tageslicht. Die regelmäßige Frischluftzufuhr ließ den bis dahin gut erhaltenen Körper zusehends verwesen und es bedurfte das Einschreiten von Offizieren, um dem morbiden Spiel ein Ende zu setzen.
Auf Anordnung wurden die sterblichen Überreste unweit der ursprünglichen Ruhestätte abermals begraben und mit einer Betonplatte versiegelt, um weitere Störungen zu unterbinden.
Es sollte bis ins Jahr 1949 dauern, ehe der amerikanische Pfarrer Kenwood Bryant sich der Sache annahm, ein Kreuz über dem Grab platzierte, eine kurze Predigt sprach und es mit jenem hölzernen Zaun versehen ließ, den ich am Nachmittag auf der Fotografie gesehen hatte.
Der Zoll- und Steuerbeamte von Hoy, der aus London stammende Künstler Harry Berry, verpflichtete sich gegenüber Bryant, anstelle des rudimentären Kreuzes einen Grabstein zu errichten. Ob es sich um jenen Verwandten handelt, dessen Spuren Tony auf den Orkneys folgte, konnte ich nicht mehr in Erfahrung bringen. Seine Aussagen legen es jedoch nahe.
27 Jahre später löste Berry sein Versprechen ein und so wurde Betty Corrigall 1976, rund 200 Jahre nach ihrem tragischen Ableben, eine offizielle Beerdigung zuteil.
Zwar ruht sie heute noch immer fernab der Zivilisation, ihr weißer Gedenkstein wie ein Mahnmal gegen Intoleranz und Engstirnigkeit in der Abgeschiedenheit der wettergegerbten Moorlandschaft prangend. Vergessen ist sie aber keineswegs, denn viele Reisende kommen sie seither besuchen, weshalb inzwischen sogar ein schmaler Holzpfad zu ihr führt. Manche kommen vielleicht nur aus Neugier, manche aber auch, um eine Blume oder einen mitfühlenden Gedanken dazulassen. Schottlands – wenn nicht gar Großbritanniens – einsamstes Grab ist damit mutmaßlich eines der meistbesuchten.
In der schottischen Populärkultur hat die Geschichte ebenfalls Platz genommen und Musiker wie die Gruppe Magnetic North zu melancholischen Balladen inspiriert. Wer immer einst jede Erinnerung an die „Lady of Hoy“ begraben wollte, hat letztlich also nur das Gegenteil erreicht.
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Lieber Henry, Deine Geschichte zu lesen war mir wie immer ein Vergnügen. Mal schmunzelnd, mal andächtig, mal lachend, mal staunend, dann wieder fasziniert und bewundernd habe ich diese Lektüre verschlungen. Dein Schreibstift, Deine Verknüpfungen diverser Aspekte ist Dir abermals meisterhaft gelungen. Es ist wahre Kunst, all die Facetten zu einem stimmigen Werk zusammen zu führen.
Herzliche Grüße, Sonja S.
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