Montevideo: Karneval ohne Ende

Was Kar­ne­val angeht kann mir kei­ner was vor­ma­chen. Dach­te ich. Schließ­lich bin ich Köl­ne­rin. Mit wasch­ech­ten Kar­ne­vals­je­cken in der Fami­lie. Mei­ne Eltern haben zu Hau­se in Köln eine gan­ze Wand vol­ler Kar­ne­vals­or­den. Mei­ne über acht­zig­jäh­ri­ge Mum, die kaum noch lau­fen kann, gibt sich an Kar­ne­val einen Ruck, ver­lässt ihren Ses­sel und geht fei­ern. Und ich? Nach der kar­ne­va­lis­ti­schen Über­do­sis wäh­rend der Kind­heit habe ich ein eher nüch­ter­nes Ver­hält­nis zu die­sen Ver­an­stal­tun­gen. Anders gesagt: Kar­ne­val find ich doof. Kein Alaaf und kein Täte­rä­tä. Nicht für mich. Ich geh da nicht hin.

Aus­ser in Mon­te­vi­deo. Wo ich schon mal da bin. Nur mal gucken, den­ke ich. Kann ja nichts scha­den.

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ein­stim­men hin­ter der Büh­ne

An einem Febru­ar­tag gehe ich also zu einer Mur­ga. Das ist eine Art poli­tisch-sati­ri­sche Stras­sen­oper und fes­ter Bestand­teil des Kar­ne­vals, der bis März dau­ert und dar­über hin­aus mit ein­zel­nen Ver­an­stal­tun­gen wie die der ›Mur­ga Joven‹, der jun­gen Mur­ga, wei­ter macht.

In der Alt­stadt von Mon­te­vie­deo, in einer Gas­se hin­ter dem Hafen, völ­lig unschein­bar und nur über einen Ein­gang zu betre­ten, befin­det sich ein gro­ßer Hin­ter­hof mit einer Frei­licht­büh­ne. Es ist eines die­ser klei­nen Amphi­thea­ter, die es in fast allen Stadt­vier­teln gibt. Geschützt vor den küh­len Nacht­win­den des Atlan­tiks sit­zen die Men­schen auf den von der Son­ne noch war­men Stein­stu­fen unter wol­ken­lo­sem Ster­nen­him­mel. Die meis­ten Leu­te schei­nen sich zu ken­nen, sind Nach­barn oder Freun­de. Sie las­sen den tra­di­tio­nel­len Mate­be­cher umge­hen, jenen bit­ter schme­cken­den grü­nen Kräu­ter­tee, ohne den ein Uru­gu­ay­er nicht auf die Stra­ße geht. Neben der Büh­ne brut­zeln auf dem obli­ga­to­ri­schen Grill Rie­sen­steaks, Ripp­chen und Würs­te. Vie­le Jugend­li­che ste­hen Schlan­ge, scher­zen und war­ten gedul­dig auf den Eiweiß­schub und den Beginn der Auf­füh­rung.

 

Eine Mur­ga kann sich jeder leis­ten

Der Ein­tritt kos­tet 50 Pesos, knapp 2 Euro und damit weni­ger als ein Expres­so im Cafe. Die Mur­gas wer­den staat­lich sub­ven­ti­onniert, genau­so wie Muse­en, Thea­ter und ande­re kul­tu­rel­le Events. Sie fin­den in den Thea­tern, auf der Stra­ße und am Strand statt, in Mon­te­vi­deo und in der Pro­vinz. Für die Jugend­li­chen ist es eine Mög­lich­keit, sich zu tref­fen und Spaß zu haben, ohne viel Geld aus­zu­ge­ben. Die Bars und Dis­ko­the­ken sind für die meis­ten uner­schwing­lich. Das Min­dest­ein­kom­men betrug 2014 rund 400 Us-Dol­lar, bei Lebens­mit­tel­prei­sen, die den deut­schen sehr nahe kom­men.

Eine Mur­ga hin­ge­gen kann sich jeder leis­ten. Sie ist ein will­kom­me­ner Anlass über Poli­tik zu reden und zu lachen, sagt Mar­ce­lo, der drei Stra­ßen wei­ter wohnt. Er geht in die­ser Jah­res­zeit fast täg­lich auf eine Mur­ga. Nicht nur er: In der Kar­ne­vals­zeit wer­den mehr Ein­tritts­kar­ten für Mur­gas ver­kauft als im gan­zen Jahr für Fuß­ball. Und das will was hei­ßen in Uru­gu­ay! Der Fünz­ig­jäh­ri­ge Mar­ce­lo ist heu­te mit sei­ner gan­zen Fami­lie gekom­men. Er lie­be die Mur­ga, sagt er, weil sie rüber brin­ge was die Leu­te auf der Stra­ße den­ken. Es sei ein popu­lä­res Instru­ment, um Poli­tik im All­tag erfahr­bar zu machen und Kri­tik dar­an zu üben. Und hin­ter­her wird dis­ku­tiert. Über Poli­tik und Fuß­ball lässt sich treff­lich und aus­dau­ernd strei­ten in Uru­gu­ay, die Mate-Kala­bas­se in der einen und die Ther­mos­kan­ne in der ande­ren Hand.

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May­ra vor dem Umzie­hen

Wen willst du wäh­len wenn du nicht Bescheid weißt?

May­ra, 24 Jah­re alt, macht selbst mit in der Mur­ga „Cayó la Cabra“ (es stol­per­te die Zie­ge). Kurz vor ihrem Auf­tritt holt sie sich an der Bar schnell noch ein­mal hei­ßes Was­ser für ihren Mate. Sie hat noch eine ande­re, augen­zwin­kern­de, Erklä­rung für das poli­ti­sche Inter­es­se der Uru­gu­ay­er: „wir haben Wahl­pflicht in Uru­gu­ay. Sich zu infor­mie­ren und auf dem Lau­fen­den zu sein ist wie Haus­auf­ga­ben machen. Wen willst du wäh­len wenn du nicht Bescheid weißt?“ lacht sie.

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May­ra nach dem Umzie­hen

Schon als Kind hat May­ra ihre Eltern zur Mur­ga beglei­tet. Damals sei die Kri­tik aller­dings rüder gewe­sen. Mit der Links­re­gie­rung sind die Feind­bil­der aus­ge­gan­gen. „Wir kön­nen ja schlecht kri­ti­sie­ren was wir jah­re­lang ein­ge­for­dert haben.“, sagt May­ra. „Heu­te funk­tio­niert die Mur­ga so: du nimmst das auf, was dir in dei­nem Leben auf­fällt und hin­ter­fragst es mit Humor. Wir sagen nicht: so ist es rich­tig und so ist es falsch. Wir hin­ter­fra­gen All­täg­li­ches: Kon­sum­ge­wohn­hei­ten, Kom­mu­ni­ka­ti­on, Arbeits­all­tag. Poli­tik ist schließ­lich auch, wie die Gesell­schaft mit den Ergeb­nis­sen von Poli­tik umgeht. Das ist auch der Grund war­um so vie­le jun­ge Leu­te auf die Mur­ga abfah­ren. Sie iden­ti­fi­zie­ren sich mit den The­men. Wir wol­len anre­gen über The­men nach­zu­den­ken.“ Erklärt sie, zieht noch ein­mal an ihrem Metall­halm für einen letz­ten Schluck Mate und ver­schwin­det schnell hin­ter der Büh­ne.

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Und dann geht es los. Sieb­zehn far­ben­präch­tig geschmink­te und kos­tü­mier­te Men­schen betre­ten unter don­nern­dem Applaus sin­gend und trom­melnd die Büh­ne. Die Zusam­men­set­zung ist in jeder Mur­ga gleich: ein Büh­nen­di­rek­tor, drei­zehn Sän­ger und drei Schlag­zeu­ger. Die Dar­bie­tung, genannt Cuplé, besteht aus Lie­dern, Sprech­ge­sän­gen, Tän­zen und regel­rech­ten Clown­ein­la­gen, unter­bro­chen von herz­haf­ten Lachern und Applaus. In den Tex­ten geht es um lan­ge War­te­zei­ten für den Fach­arzt, um über­mä­ßi­gen Com­pu­ter­kon­sum, um Kre­di­te und Kre­dit­kar­ten und Kon­sum als Ersatz­hand­lung. Lus­tig, bis­sig und manch­mal auch rich­tig böse. Aber nicht immer leicht zu ver­ste­hen für Out­si­der.

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Hin­ter den Kulis­sen der Mur­ga blät­tert die Far­be von der Wand. Aber alle haben Spaß.

Am nächs­ten Tag besu­che ich die Mur­ga „Cayó la Cabra“ bei ihrer Pro­be. In Vil­la Espa­nola, einem her­un­ter gekom­me­nen Stadt­teil im Nor­den Mon­te­vi­de­os, tref­fen sich die Mit­glie­der in einer alten Lager­hal­le. Ein schmuck­lo­ser Raum wo der Putz blät­tert und Feuch­tig­keit sich fle­ckig auf den Wän­den aus­brei­tet, ein kaput­tes Fens­ter, wei­ße Plas­tik­stüh­le und an der Wand Requi­si­ten.

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feuch­te Wän­de, kaput­te Fens­ter: ganz egal. Mur­ga Cayo la Cabra wäh­rend der Pro­be

Drei Frau­en nähen und repa­rie­ren die präch­ti­gen Kos­tü­me, alle­samt selbst ent­wor­fen und ange­fer­tigt. Die ande­ren, ohne Schmin­ke und Kos­tü­me in ihren Jeans und Turn­schu­hen kaum wie­der zu erken­nen, sit­zen im Kreis auf und dis­ku­tie­ren über die Inter­pre­ta­ti­on eines Lie­des. Das gan­ze Jahr über haben sie an die­ser Mur­ga gear­bei­tet. Kos­tü­me genäht, Lie­der getex­tet, Tex­te ver­wor­fen, dis­ku­tiert, gestrit­ten und abge­stimmt, Cho­reo­gra­fien ein­ge­übt und getrom­melt. Und nach jeder Auf­füh­rung wird wie­der etwas ange­passt, ver­än­dert, gestri­chen oder hin­zu­ge­fügt. Eine Mur­ga lebt, ist work in pro­gress.

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Cayó la Cabra ist eine soge­nann­te „Mur­ga Joven“. Anders als die Kar­ne­vals­mur­ga funk­tio­niert sie das gan­ze Jahr über. Um als Mur­ga Joven zu gel­ten müs­sen die Mit­glie­der alle unter drei­ßig sein. Zur Zeit gibt es rund sech­zig Mur­ga Joven in Uru­gu­ay. Sie sind beson­ders kri­tisch, sati­risch und immer aktu­ell. Und erfreu­en sich wach­sen­der Beliebt­heit unter den Jugend­li­chen.

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Ein India­ner­stamm, nur ohne Häupt­ling

Für May­ra ist die Mur­ga wie ein zwei­tes Zuhau­se. „Ein India­ner­stamm nur ohne Häupt­ling“ so sehe sich die Grup­pe. May­ra wohnt noch bei den Eltern, zusam­men mit zwei Geschwis­tern. Klar wür­de sie ger­ne aus­zie­hen aber solan­ge sie in der Aus­bil­dung ist: undenk­bar! May­ra stu­diert Psy­cho­mo­to­rik und Logo­pä­die. In einem Zen­trum für Fami­li­en arbei­tet sie mit Klein­kin­dern bis drei Jah­ren. Unter der Links­re­gie­rung sei­en immer mehr die­ser Zen­tren ent­stan­den, um den Kin­der sozi­al benach­tei­lig­ter Fami­li­en bes­se­re Bil­dungs­chan­cen zu geben. Es habe sich viel getan in den letz­ten zehn Jah­ren, sagt sie. Die Lega­li­sie­rung der Abtrei­bung, ein gera­de­zu revo­lu­tio­nä­res Gesetz in einem süd­ame­ri­ka­ni­schen Land, habe dazu bei­getra­gen, dass Abtrei­bun­gen nicht mehr in Hin­ter­hö­fen statt­fin­den son­dern medi­zi­nisch betreut wer­den. Für die Frau­en bedeu­te das ein Rie­sen­schritt nach vor­ne. Jetzt kön­nen sie sich frei und ohne Druck für oder gegen ein Kind ent­schei­den. „Für die Män­ner ist das auch bes­ser“ sagt Emi­lia­no „schließ­lich gehör­ten immer zwei dazu. Und wenn Frau­en in der Ver­gan­gen­heit ihre Gesund­heit oder viel­leicht sogar ihr Leben ris­kier­ten weil sie ille­gal abtrie­ben, dann betraf das schließ­lich auch den Mann.“

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Kon­sum­kri­tik und Mut für Neu­es

Ver­än­de­run­gen sind das gro­ße The­ma der Mur­ga-Grup­pe. Jedes Jahr gilt es eine neue Vor­stel­lung auf die Bei­ne zu stel­len. Und sie haben stets einen Bezug zur aktu­el­len Poli­tik. Inso­fern, sagt May­ra, gestal­ten die Mur­gas gesell­schaft­li­che Pro­zes­se mit. Die Tex­te der Auf­füh­run­gen regen etwa dazu an, über Vor-und Nach­tei­le von Geset­zen nach­zu­den­ken. Die Lega­li­sie­rung der Abtrei­bung oder von Mari­hua­na waren alle­mal dank­ba­re The­men für die Mur­ga.

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Mit Jose Muji­ca als Prä­si­dent von Uru­gu­ay sei es in den Mur­gas auch viel um Kon­sum­kri­tik gegan­gen. Muji­ca, den die Uru­gu­ay­er lie­be­voll „El Pepe“ nen­nen, lehn­te wäh­rend sei­ner Amts­zeit von 2010 bis 2015 Kra­wat­ten genau­so ab wie Pro­to­kol­le. Der Prä­si­dent, der einen alten VW-Käfer fuhr und wäh­rend der Mili­tär­dik­ta­tur 14 Jah­re als poli­ti­scher Gefan­ge­ner ein­saß, beein­druck­te nicht nur die Mäch­ti­gen die­ser Welt mit sei­nen Reden son­dern auch die Jugend von Uru­gu­ay:

„Wir haben die alten Göt­ter geop­fert und einen Tem­pel für „Gott Markt“ erschaf­fen. Die­ser orga­ni­siert für uns die Wirt­schaft, die Poli­tik, die Gewohn­hei­ten, das Leben und ver­mit­telt uns mit Preis­lis­ten und Kre­dit­kar­ten ein Gefühl von Glück. Wie es aus­sieht wur­den wir nur gebo­ren, um zu kon­su­mie­ren und zu kon­su­mie­ren und, wenn wir das nicht kön­nen, bleibt die Frus­tra­ti­on, die Armut und die Aus­gren­zung“ (Pepe Muji­ca, Sept 2013 New York)

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Kon­sum­kri­tik einer Mur­ga, gespot­tet wird über Mar­ken und Unter­hal­tungs­in­dus­trie

Kon­sum­kri­tik und Jugend­wahn sind zen­tra­le The­men der Mur­gas. In einem „cuple“, einer Sze­ne, von Cayó la Cabra heißt es:

Es ist Mode jung zu sein

Alle Moden fan­gen mit der Jugend an

Wenn wir Kin­der sind imi­tie­ren wir sie

Das Pro­blem ist: auch die Alten imi­tie­ren sie.

 

Mein Groß­va­ter hat sich ein Smart­phone gekauft

Er macht gern einen auf chic

Jetzt liest er die Tages­zei­tung im Inter­net

Und macht beim Blät­tern die Fin­ger nass.

 

Die Mode nutzt die Jugend aus,

ohne Zwei­fel ihre bes­ten Kun­den,

sie sind für jeden Trend bereit

und kau­fen alles was du ihnen ver­kaufst.

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Die Mur­ga-Macher haben es nicht leicht heu­te. Da es kein kla­res Feind­bild gibt und die Kri­tik an der Kon­sum­ge­sell­schaft sich mit der Hal­tung des ehma­li­gen Prä­si­den­ten und der wei­ter­hin links ste­hen­den aktu­el­len Regie­rung deckt, kommt gele­gent­lich der Vor­wurf auf, man sei der offi­zi­el­len Sei­te zu nah. Aber die Mur­ga kri­ti­siert nun mal nicht nur die Regie­rung son­dern die Gesell­schaft. Die Mur­ga kri­ti­siert was sie kri­ti­sie­ren muss. Sagt May­ra. Und solan­ge die Men­schen dar­über lachen kön­nen ist alles gut.

Ich bin ziem­lich beein­druckt von soviel poli­ti­schem Enga­ge­ment. Da macht der Kar­ne­val doch rich­tig Sinn, den­ke ich. Da geh ich wie­der hin.

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