Dein Warenkorb ist gerade leer!
»Das ist also Draculas Hütte«, konstatiert Slobby und lässt seinen Blick über die gelb verputzte Hauswand streifen.
»Nein, das ist ein Restaurant. Dracula war hier nie. Alles nur Merchandise«, entgegne ich und schieße dennoch ein Foto.
Slobby, Björn, Sylvi, Balázs und ich stehen im Halbkreis und betrachten den buttergelben Eckbau. Genau hier soll der historische Dracula, der als Vorlage für den berühmtesten Bösewicht der Literaturgeschichte herhalten musste, angeblich das Licht der Welt erblickt haben. Historiker bezweifeln die Story – nicht jedoch die Existenz des Walachen-Fürsten. Heute ist das hübsche Häuschen am Museumsplatz ein Restaurant, in dem Dracula-Bier ausgeschenkt wird. Eine Hinweistafel an der Fassade behauptet vorwitzig:
Haus aus dem 15. Jahrhundert. Hier wurde 1431 Vlad III. Draculea geboren.
»Wieso Merchandise?« fragt Sylvi und gähnt, während ihr ein Händler im Dracula-Shirt eine Dracula-Mütze aufschwatzen will. Ich antworte nicht.
Wir sind in Sighișoara, ein entzückendes Städtchen aus dem 12. Jahrhundert. Mitten in Siebenbürgen, das die Rumänen Transsilvanien nennen. Das Land hinter den Karpatenwäldern.
Sighișoara ist der angebliche Geburtsort des Vlad Drăculea, und zudem seit 1999 UNESCO-Weltkulturerbe. Doch diese Auszeichnung scheint zweitrangig, denn Sighișoara widmet sich mit Hingabe den vampirbegeisterten Touristen. An jeder Ecke warten Dracula-Tassen, Dracula-Regenschirme, Dracula-Umhänge und Plastikzähne des Grusel-Grafen auf kaufkräftige Souvenirjäger. Gegen die Errichtung eines Dracula-Themenparks wehrten sich die Einheimischen dann aber doch.
Björn liebäugelt mit dem Blutsauger-Bier und zückt die Geldbörse. Sein Plan wird jedoch durch Balázs vereitelt. »Lasst uns lieber weiterfahren.« drängelt der und zupft an Björns Ärmel.
Balázs lebt in Budapest. Von dort waren wir ein paar Tage zuvor aufgebrochen und zu fünft in seinem fabrikneuen Peugeot durch ganz Ungarn und halb Rumänien gegondelt. Der Endzwanziger ist die Drama Queen unserer kleinen Reisegemeinschaft und so rechnet er unentwegt mit feindlichen rumänischen Angriffen aus dem Hinterhalt, die zum Verlust des neuen Autos führen könnten. In Wirklichkeit interessiert sich natürlich kein Mensch für seinen Peugeot.
Die Drama Queen rennt vor, wir schlendern hinterher, vorbei an bunten Häuschen und durch mittelalterliche Gässchen.
Das Auto ist noch da und wir verlassen Sighișoara. In Überschallgeschwindigkeit, denn Balázs vermeidet es, länger als zwei Minuten irgendwo zu halten.
Wir rasen durch Wälder und Dörfer, fliegen über Brücken und Berge. Der Duftbaum am Rückspiegel flattert wie ein Vogel im Käfig und riecht nach Piña Colada. Ich schaue aus dem Fenster und sehe Bauernhöfe und Pferdekarren vorbeirauschen. Transsilvanien ist ursprünglich. Im Guten wie im Schlechten. Eine märchenhafte Landschaft und eine arme Bevölkerung.
Hinter Siebenbürgen liegt die Walachei. Die gibt es tatsächlich. Und da wollen wir hin.
Nein, das stimmt nicht ganz – nur ich möchte das. Schon als kleines Mädchen faszinierten mich Hexen und Vampire. Als ich dann mit zwölf Jahren Francis Ford Coppolas Draculaverfilmung sah, war ich hingerissen. Mein Großvater erklärte mir später die historischen Zusammenhänge, und ich lauschte mit weit aufgerissenen Augen und Ohren.
Touri-Gruppen werden gerne zu Schloss Bran geschleppt, rund 30 Kilometer von Brașov entfernt und noch in Transsilvanien gelegen. Die Residenz aus dem 14. Jahrhundert ist hübsch anzusehen und ähnelt Stokers Beschreibung einer creepy Festung, doch Vlad ist hier nie aufgekreuzt.
Irgendwo in der Walachei thront die echte Draculaburg auf einer Felskante: Die Ruine Poenari. Historiker sind sich einig – hier lebte er eine Zeit lang: Vlad III. Drăculea, Sohn des Drachen. Und diese Ruine will ich sehen.
»Sein Gesicht war totenbleich, die Züge hart wie aus Stein gemeißelt; die dicken Augenbrauen, die sich über der Nase trafen, waren wie Barren weißglühenden Metalls.«
So erzählt es Stoker. Von Vlad hatte er gehört, Poenari kannte er aber nicht und er war niemals in Rumänien gewesen. Das hinderte den irischen Schriftsteller trotzdem nicht daran, sich von Vlads Vita beflügeln zu lassen und 1897 ein Horrormärchen zu stricken, dass Literaturgeschichte schreiben sollte. Aus dem Fürsten machte er einen Grafen und packte ein paar Vampirlegenden hinzu. Fertig war der Bestseller.
Für diese Information interessiert sich keiner meiner vier Reisegefährten. Ich weiß nicht, warum sie mit mir zu Draculas Burg tuckern. Vielleicht haben sie mich gern und wollen mir eine Freude bereiten? Vielleicht ist es aber auch das leichte Aufblitzen eines soziopathischen Wahns in meinen Augen, wann immer ich von Vlad Țepeș erzähle. Und sie möchten mich deshalb auf der Felskante aussetzen.
Țepeș bedeutet übersetzt der »Pfähler« und das beschreibt ziemlich genau, womit sich Vlad so die Zeit vertrieb. Das propagierten zumindest seine Feinde. Die deutschen Erzählungen und Chroniken berichten von einem walachischen Wüterich. Von Folter, Feuertod, Verstümmelung und heiteren Sausen mit Menschenfleisch auf dem Grill. Laut der Chronisten soll Vlad angeblich bis zu 100.000 Menschen gepfählt haben. Männern, Frauen und Kindern ließ er einen Pfahl in den Mastdarm schieben, sodass die Hilflosen durch ihr eigenes Körpergewicht hinunter rutschten und elendig zugrunde gingen. Der Tod zog sich über Stunden, sogar Tage hin. Mitten im großen Sterben soll Vlad die Herzen der bereits verstorbenen Opfer verspeist haben. Ob das stimmt, bleibt fraglich.
In Rumänien gilt der vermeintliche Feinschmecker noch heute als Held, der sein Reich tapfer gegen die Osmanen verteidigt und das Christentum bewahrt hat. Vlad III. Drăculea starb schließlich 1476 bei einem Gefecht oder auf der Flucht. Wer weiß das schon. Sein Kopf soll in Konstantinopel aufgespießt und öffentlich zur Schau gestellt worden sein. Und die Osmanen eroberten sein Reich.
Balázs tritt aufs Gaspedal, Slobby döst und Sylvi gähnt. Björn weist den Weg. Die Landkarte führt uns durch die südlichen Karpaten. Zweimal biegen wir falsch ab. Die Straßen werden schmaler und schlängeln sich die Serpentinen hinauf. Nach fünf Stunden erreichen wir die Ruine.
1.500 Treppenstufen müssen wir erklimmen. Und dann endlich ragen wuchtige Backsteinmauern empor. Wir sind da.
Anfang des 13. Jahrhunderts wurde die Burg von den Herrschern der Walachei errichtet, dann bröckelte sie, und Vlad ließ sie durch Sklaven wieder aufbauen. In den darauffolgenden Jahrhunderten zerstörten Feuer und Erdbeben die Zitadelle. Deshalb gibt es nicht viel zu sehen. Nur Steine und Schutt. Keine Räume mehr, die man erkunden könnte.
»Dracula hätte ruhig mal aufräumen können«, bemerkt Slobby und klopft sich den Staub von der Jeans. Wir sind die einzigen Zaungäste. Wahrscheinlich traut sich auch sonst niemand nach oben, da sich düstere Gruselgeschichten um Poenari ranken. Angeblich verübte Vlads Gemahlin hier Selbstmord. Sie soll sich von den Zinnen gestürzt haben. Seither sei Poenari verflucht, sagen die Rumänen. Aber davon erzähle ich meinen Reisegefährten besser nichts. Der Aufstieg war schon anstrengend genug.
Der Blick über Karpaten und Wälder schenkt Frohsinn. Nebelschwaden ziehen hinweg. Sogar Sylvi ist angetan und gähnt in den nächsten 30 Minuten nicht ein einziges Mal. Und ich bin glücklich. Ich stehe an jenem Ort, an dem vor einem halben Jahrtausend Dracula stand. Ich schaue in die gleiche grüne Landschaft, in die er schaute. Wie sonderbar!
Nachwort: Diese Reise liegt schon etliche Jahre zurück. Doch wenn ich heute über sie nachdenke, so ist da eine viel bedeutungsvollere Erinnerung als Draculas Burg. Dann erinnere ich mich an meine vier Gefährten und sehe ihre Freundschaft.
Weder Sylvi und Björn, noch Slobby und Balázs träumten davon, durch die Walachei zu tingeln, um eine zerstörte Festung zu erklettern. Vielleicht hätten sie sich lieber andere Orte und Landstriche angesehen – Rumänien macht nämlich neugierig. Aber sie brachten mich zu Dracula. Weil es mein Herzenswunsch war. Und das nennt man wohl Freundschaft. Wie schön!
(Ausgesetzt haben sie mich übrigens nicht. Aber sie haben gewiss darüber nachgedacht.)
Schreibe einen Kommentar