Mit Fahrrad und Vater nach Belgrad

Als der Zug, von Ber­lin kom­mend, Dres­den erreicht, steht mein Vater auf den Meter genau am Ein­stieg. Schnell gibt er mir die Rad­ta­schen nach oben und im Anschluss hie­ven wir sein 28 Kilo­gramm schwe­res Pedelec die Stu­fen hoch. Der Euro­ci­ty 173 Ham­burg – Buda­pest ist noch vom alten Schlag.

Vor uns lie­gen noch wei­te­re 9 Stun­den Fahr­zeit bis nach Buda­pest, das wir am Abend errei­chen wer­den. Von dort aus sol­len uns unse­re Räder bis nach Bel­grad brin­gen. Wäh­rend es für mich die Jung­fern­fahrt auf dem Euro­ve­lo 6, dem Donau­rad­weg, sein wird, hat mein Vater den Teil bis Buda­pest in den letz­ten Jah­ren abschnitts­wei­se absol­viert. Inzwi­schen ist er 80 Jah­re alt und konn­te für den nächs­ten Abschnitt kei­ne Mit­rad­ler sei­ner Alters­grup­pe mehr fin­den. Mei­ne Beglei­tung ist mein Geschenk zu sei­nem 80. Geburts­tag und in umge­kehr­ter Wei­se schenkt auch er mir etwas, denn ich bli­cke mit gro­ßer Freu­de die­sen 2 Wochen gemein­sa­mer Zeit mit ihm ent­ge­gen. Nichts­des­to­trotz bin ich gespannt, wie es uns gelin­gen wird, uns auf­ein­an­der ein­zu­stel­len. Wäh­rend Vater dazu neigt, Stre­cke zu machen, schaue ich sehr ger­ne nach rechts und links und las­se den Weg das Ziel sein. Aber wir sind bei­de wil­lens und schon ab dem 2. Tag ein ein­ge­spiel­tes Team. Das klei­ne Vater-Toch­ter-Aben­teu­er hat begon­nen.

In Buda­pest genügt uns ein Tag, den wir zu einer Stadt­rund­fahrt nut­zen. Wir ken­nen die Stadt bei­de und sind den­noch wie­der ein­mal über­rascht von der Viel­zahl an archi­tek­to­ni­schen Schön­hei­ten, die gera­de­zu an Ver­schwen­dung grenzt. Als wir am Sams­tag­mor­gen auf­bre­chen, ist es ange­nehm warm und son­nig.

Das Her­aus­fin­den aus Buda­pest gestal­tet sich span­nend; es geht durch Indus­trie­bra­chen mit einem teil­wei­se nur 30 Zen­ti­me­ter brei­ten unbe­fes­tig­ten Rad­weg am dicht­be­wach­se­nen Ufer eines Donau­ne­ben­arms. Spä­ter ste­hen wir dann vor einer Auto­bahn­brü­cke, weit­hin sicht­bar durch umfang­rei­che Bau­ar­bei­ten und Pkw-Stau durch ein­spu­ri­ge Ver­kehrs­füh­rung. Hier sol­len auch die Rad­fah­rer den Fluss que­ren. Eigent­lich. Der Rad­weg hin­auf zur Brü­cke ist durch ein Git­ter ver­sperrt, eine Umlei­tung nicht aus­ge­wie­sen. Also heben wir das Git­ter ein wenig zur Sei­te und schie­ben die Räder nach oben, mit­ten in die Bau­stel­le hin­ein.

Ein ver­dich­te­tes Kies­bett war­tet auf fri­schen Asphalt. Wei­ter vorn sind Arbei­ter zu sehen. Wir rol­len ganz lang­sam auf sie zu, grü­ßen und fra­gen, ob wir wei­ter dür­fen. Sie zucken nur mit den Schul­tern und lächeln. Am Ende der Brü­cke heben wir die Räder über eine Draht­ab­sper­rung und rol­len wie­der hin­un­ter. Ein Rei­se­r­ad­ler aus Frank­reich, den wir am nächs­ten Tag tref­fen, erzählt uns, dass ihn sein Navi einen 8 Kilo­me­ter lan­gen Umweg fah­ren ließ.

An die­sem ers­ten Tag sind aus den ver­an­schlag­ten 49 Kilo­me­tern durch Umwe­ge, feh­len­de Kenn­zeich­nung und Unter­kunfts­su­che 75 Kilo­me­ter gewor­den. Wir sind reich­lich geschafft und froh, ein Hotel gefun­den zu haben. Es liegt mit 74 Euro zwar über unse­rem Bud­get, aber ich mag kei­nen Kilo­me­ter wei­ter fah­ren. Die­se Suche­rei ist mir eine Leh­re und ab sofort buche ich jeden Abend für den nächs­ten über ein Web­por­tal ein Zim­mer. Das erspart Sor­ge und Zeit, und der Preis steht auch schon fest.

Am nächs­ten Tag machen wir ers­te Bekannt­schaft mit dem unga­ri­schen Land­stra­ßen­ver­kehr. Auch hier herrscht viel­fach die Devi­se: »Ich brem­se nicht für Rad­fah­rer, über­ho­le auch bei Gegen­ver­kehr und schnei­de das Ver­kehrs­hin­der­nis.« Hin­zu kommt der Stra­ßen­zu­stand. Auf­ge­ris­se­ner Asphalt und z.T. 10 Zen­ti­me­ter tie­fe Schlag­lö­cher machen das Fah­ren zu einem gefähr­li­chen Sla­lom­lauf. Eine Geschwin­dig­keits­be­schrän­kung gibt es nicht. Zum Glück ver­sucht das Kon­zept des EV6 grö­ße­re Stra­ßen zu mei­den. Hat es jedoch, wie in unse­rem Fall, schon tage­lang gereg­net, sind unbe­fes­tig­te Damm­we­ge völ­lig auf­ge­weicht und die Rou­ten­wahl ist dann eine zwi­schen Pest und Cho­le­ra.

Inzwi­schen haben wir Kaloc­sa erreicht. Das Städt­chen mit sei­nen knapp 20.000 Ein­woh­nern beher­bergt einen Bischofs­sitz, der mit sei­nen baro­cken Begleit­bau­ten wie dem erz­bi­schöf­li­chen Palais, Kathe­dra­le, Gym­na­si­um und Biblio­thek das gan­ze Zen­trum Kaloc­sas aus­füllt.

Berühmt ist Kaloc­sa jedoch für etwas ande­res: Papri­ka. Im ört­li­chen Papri­ka-Muse­um kön­nen wir sehr anschau­lich den Weg der Papri­ka von Süd­ame­ri­ka bis in die Gewürz­do­se anhand von alten Gerä­ten, Fotos und Früch­ten in unter­schied­li­chen Pro­duk­ti­ons­sta­di­en ver­fol­gen. Hier ist mein Vater, Maschi­nen­bau­in­ge­nieur a.D., in sei­nem Ele­ment und er erläu­tert mir die Funk­ti­ons­wei­sen der aus­ge­stell­ten Gerät­schaf­ten.

Seit unse­rer Ankunft in Kaloc­sa reg­net es unun­ter­bro­chen. Beim Auf­bruch ent­schei­den wir uns, den unbe­fes­tig­ten Damm­weg zu mei­den und statt­des­sen die Bun­des­stra­ße bis Fajsz zu neh­men. Zum Glück ist sie hier in leid­li­chem Zustand und breit genug, um bei Über­hol­ma­nö­vern unge­dul­di­ger Fah­rer nicht in den Gra­ben gefegt zu wer­den.

Als wir am frü­hen Nach­mit­tag nach 52 km in Baja ankom­men, sind die Hän­de in völ­lig durch­näss­ten Hand­schu­hen eisig kalt und die Näs­se ist auch in die was­ser­dich­te Klei­dung hin­ein­ge­kro­chen. Spon­tan beschlie­ßen wir, zwei Näch­te zu blei­ben. Der Wirt unse­rer Pen­si­on »Föter Pan­zio« ist Nach­fah­re der Fran­ken­deut­schen. Sei­ne Pen­si­on ist schlicht, kos­tet uns nur 35 Euro pro Nacht und bie­tet den­noch eine Men­ge Annehm­lich­kei­ten wie einen sepa­ra­ten Fahr­rad­raum, Fahr­stuhl und vor allem einen sehr auf­merk­sa­men und hilfs­be­rei­ten Gast­ge­ber.

Die ver­blie­be­nen Deutsch­stäm­mi­gen stel­len eine Min­der­heit in der Regi­on dar und füh­len sich im Ungarn Vic­tor Orb­ans reich­lich unwohl. Wer weiß schon, wann auch sie zu uner­wünsch­ten Per­so­nen wer­den? »Immer vor den Wah­len«, erzählt er, »taucht ein Auf­ge­bot an Poli­zei und Grenz­schutz auf, um Sicher­heit zu demons­trie­ren so kurz vor der EU-Außen­gren­ze. Nach der Wahl ver­schwin­den sie sofort. Und an den Pro­ble­men im Lan­de sind immer wahl­wei­se die Migran­ten oder die EU schuld.«

Am nächs­ten Mor­gen hat es auf­ge­hört zu reg­nen. Die Tem­pe­ra­tur liegt bei küh­len 10° Cel­si­us. Nach dem Früh­stück neh­men wir den Bus zu einem Aus­flug in den Gemen­cer Wald am jen­sei­ti­gen Donau­ufer. Der Gemen­cer Auwald ist seit 1936 Teil des Donau-Drau-Natio­nal­parks. Bis zum Ende des 19. Jahr­hun­derts war er Teil einer groß­flä­chi­gen Auen­land­schaft, durch die die Donau mit vie­len Sei­ten­ar­men stark mäan­der­te. Dann wur­de der Fluss begra­digt, um ihn für die gewerb­li­che Schiff­fahrt bes­ser nutz­bar zu machen. Vie­le der heu­ti­gen Bäu­me wur­den in die­sem Zuge neu gepflanzt. Inzwi­schen hat der Wald aber durch­aus wie­der Urwald­cha­rak­ter. Am Infor­ma­ti­ons­zen­trum in Pör­b­ölj star­tet die Gemen­cer Wald­bahn, mit der sich der Wald bequem erkun­den lässt. Da der Boden völ­lig auf­ge­weicht ist, erüb­rigt sich jeder Gedan­ke ans Lau­fen. Wir sind die ein­zi­gen Fahr­gäs­te an die­sem Vor­mit­tag, sodass das Ver­hält­nis von Fahr­gast zu Per­so­nal bei 1:1 liegt. Neben dem Lok­füh­rer der Klein­bahn ist noch ein Schaff­ner an Bord, der dan­kens­wer­ter­wei­se den klei­nen Holz­ofen anfeu­ert. Am End­punkt der Stre­cke befin­det sich ein Lehr­pfad, dem wir zu einem Aus­sichts­punkt fol­gen. Wir über­bli­cken eine kom­plett unter Was­ser ste­hen­de Auwie­se und ent­de­cken Schwä­ne, Rei­her und Adler. Noch nie habe ich so vie­le Kuckucks­ru­fe gehört.

Am nächs­ten Mor­gen hat sich Vater mit lan­gen Unter­ho­sen, Fleece­müt­ze und Hand­schu­hen prä­pa­riert. Ich ver­zich­te dar­auf – kom­me ich beim Tre­ten doch wesent­lich schnel­ler ins Schwit­zen als er.
Mit der Fäh­re set­zen wir über nach Mohács, um die Weg­va­ri­an­te durch Kroa­ti­en zu neh­men.

Am Fähr­an­le­ger tref­fen wir zwei nie­der­län­di­sche Rad­fah­re­rin­nen, Mut­ter und Toch­ter. Die Toch­ter ist zier­lich, 19 Jah­re alt und auf dem Weg nach Istan­bul. Ihre Mut­ter beglei­tet sie ledig­lich auf dem Abschnitt Buda­pest – Bel­grad. Ich bewun­de­re die jun­ge Frau für ihren Mut und die Mut­ter für die Fähig­keit, los­zu­las­sen.

Mohács ist kein städ­ti­sches Schmuck­stück und steht sym­pto­ma­tisch für das Völ­ker­ge­misch die­ser Regi­on. Seit jeher leben hier Ungarn, Kroa­ten und Deut­sche zusam­men. Ein Denk­mal im Zen­trum der Stadt gemahnt an Tole­ranz und Ver­stän­di­gung.
Auf einer Tafel fin­det sich fol­gen­de Inschrift auf Deutsch, Kroa­tisch und Unga­risch:

Am nächs­ten Tag stat­ten wir der his­to­ri­schen Gedenk­stät­te Mohács einen Besuch ab. Sie erin­nert an die ver­lo­re­ne Schlacht König Lud­wigs II. gegen das osma­ni­sche Heer von Sul­tan Süley­man im Jahr 1526. Bin­nen 2 Stun­den war das unga­ri­sche Heer ver­nich­tend geschla­gen und der heroi­sche König auf der Flucht ertrun­ken. Ein Holz­skulp­tu­ren­park stellt die Schlacht und ihre Teil­neh­mer wie auch zivi­len Opfer sym­bo­lisch dar.

Weni­ge Kilo­me­ter wei­ter errei­chen wir die Gren­ze und sagen Ungarn adieu. Nichts Spek­ta­ku­lä­res und schon gar nichts Exo­ti­sches bie­tet der Rad­weg in Ungarn, aber genau das moch­ten wir! Es sind die klei­nen Erleb­nis­se, die uns erfreu­ten und manch­mal über­rasch­ten: ein Storch direkt neben dem Weg, die Gemäch­lich­keit in den Dör­fern und Klein­städ­ten und vie­le freund­li­che Ges­ten der Bewoh­ner.

Der Grenz­über­tritt nach Kroa­ti­en ist zwar der in einen EU-Staat, aber Kroa­ti­en setzt das Schen­gen­ab­kom­men nur par­ti­ell um. So müs­sen wir uns, nach­dem wir lan­ge Lkw-Schlan­gen pas­siert haben, zwi­schen den Pkw bei der Poli­zei­kon­trol­le ein­rei­hen. Mür­risch drein­bli­cken­de Gren­zer inspi­zie­ren unse­re Aus­wei­se. Zwar dau­ert alles nicht län­ger als 15 Minu­ten, aber ein mul­mi­ges Gefühl schleicht sich den­noch ein.

An die­sem Tag been­den wir die Etap­pe in Zma­je­vac am Ran­de des Natio­nal­parks Kopački rit. Unter­kunft fin­den wir auf einem ehe­ma­li­gen Bau­ern­hof, des­sen Stäl­le vom Eigen­tü­mer in Frem­den­zim­mer umge­baut wor­den sind. Hier wer­den wir erst­ma­lig mit einem Pro­blem kon­fron­tiert: das Zim­mer ist sehr klein, das Dop­pel­bett weist eine Brei­te von 1,20 Meter auf und es gibt nur eine gro­ße Bett­de­cke. Ich bit­te die Gast­ge­be­rin um eine zwei­te Decke mit den Wor­ten: »Usual­ly I don’t sleep with my father under the same blan­ket.« Nur kurz ist sie per­plex, dann ent­schul­digt sie sich wort­reich und bie­tet mir sofort das Nach­bar­zim­mer an. Ich ver­mu­te, die gute Frau ist nicht die ers­te, die uns für ein unpas­sen­des Ehe­paar hält.

Wir fra­gen sie im Anschluss nach einem Restau­rant fürs Abend­essen und sie emp­fiehlt uns das Wein­re­stau­rant »Josić«, zu Fuß einen Kilo­me­ter über den Hügel hin­weg. Inzwi­schen scheint die Son­ne und wir genie­ßen den Spa­zier­gang mit wei­ten Bli­cken über die von Wein­ber­gen gepräg­te Land­schaft.
Das Lokal ist ziem­lich groß und den­noch gemüt­lich. Wir trin­ken einen exzel­len­ten Graše­vina (Welsch­ries­ling), einen typi­schen Weiß­wein der Regi­on Sla­wo­ni­en, und essen Fleisch vom Holz­koh­le­grill. Als wir gehen wol­len, spricht uns ein Herr vom Neben­tisch an. Er stellt sich uns vor als nach Deutsch­land aus­ge­wan­der­ter Kroa­te auf Hei­mat­ur­laub. Gebür­tig ist er in Osi­jek, aber seit 25 Jah­ren in Bam­berg lebend. Unüber­hör­bar ist der frän­ki­sche Dia­lekt.

Nach kur­zem Suchen fin­den wir am nächs­ten Mor­gen den Zugang zum Deich­weg mit­ten hin­ein in den Natio­nal­park. Die­ser erstreckt sich auf 23.000 Hekt­ar mit 7.700 Hekt­ar Total­re­ser­vat im süd­li­chen Teil. Die Lage als Flut­tal zwi­schen Drau und Donau hat ein ein­zig­ar­ti­ges Feucht­bio­top geschaf­fen. Das Gebiet ist eines der wich­tigs­ten und am bes­ten erhal­te­nen Sumpf­re­ser­va­te in Euro­pa. Neben wei­ßen Sei­den­rei­hern, Stör­chen und Schwä­nen sehen wir Hasen, Wild­schwei­ne und sogar Auer­häh­ne. Wei­ter süd­lich, beim Dorf Kopače­vo und am Rand des Reser­vats, ist ein Besu­cher­zen­trum mit höl­zer­nen Lehr­pfa­den ent­lang der Seen ein­ge­rich­tet.

An die­sem Tag erzählt mir Vater so man­che Fami­li­en­an­ek­do­te, die ich noch nicht kann­te. Dass drei sei­ner Geschwis­ter noch leben, macht mei­nen Vater sehr froh und er pflegt die Kon­tak­te uner­müd­lich. Zwar neigt er nicht zur Sen­ti­men­ta­li­tät, aber das zuneh­men­de Alter und die damit ein­her­ge­hen­de Dezi­mie­rung des Freun­des- und Fami­li­en­krei­ses lässt auch ihn nach­denk­lich wer­den und mensch­li­che Kon­tak­te mehr schät­zen als frü­her.

Am spä­ten Nach­mit­tag errei­chen wir Osi­jek. In die­se Stadt am Ufer der Drau ver­lie­be ich mich auf der Stel­le. Hier ist so viel Leben­dig­keit und Leich­tig­keit trotz der ton­nen­schwe­ren jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit. Hier in Osi­jek sehe ich das ers­te Mal Kriegs­schä­den. Nicht wie die Über­bleib­sel aus dem Zwei­ten Welt­krieg, die die DDR man­gels Finanz­kraft nicht instand­set­zen konn­te. Die Ein­schuss­lö­cher vie­ler Fas­sa­den hier sind viel unmit­tel­ba­rer, kon­kre­ter. Die­ser Krieg fand statt, wäh­rend ich eini­ge Hun­dert Kilo­me­ter wei­ter nörd­lich in Frie­den leben konn­te. Mich erschüt­tert der Anblick.

Osi­jek aber scheint eine trot­zi­ge Steh­auf­men­ta­li­tät zu haben. Mit knapp über 100.000 Ein­woh­nern ist Osi­jek eine Groß­stadt, aber das Zen­trum ist gut zu Fuß erkund­bar und es ver­sprüht viel Charme. Baro­cke Paläs­te wech­seln sich mit Jugend­stil­ge­bäu­den und dazwi­schen geklotz­ten Glas­pa­läs­ten der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit ab. Ende des 19. Jahr­hun­derts war Osi­jek eines der größ­ten wirt­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Zen­tren des König­reichs Kroa­ti­en-Sla­wo­ni­en inner­halb der K.-u.-k-Monarchie. Man trifft sich am Abend auf der kilo­me­ter­lan­gen Ufer­pro­me­na­de an der Drau zum Schwat­zen, Bier­trin­ken, Spa­zie­ren­ge­hen. Die Stadt wirkt unbe­küm­mert, als näh­me sie die Ver­gan­gen­heit dan­kend mit und stre­be aber unbe­irrt der Zukunft ent­ge­gen.

Vuko­var, das wir am nächs­ten Tag auf einer neu ange­leg­ten Ufer­pro­me­na­de errei­chen, ist viel klei­ner als Osi­jek – und viel ver­wun­de­ter.
Nach der drei­mo­na­ti­gen Bom­bar­die­rung der Stadt durch die jugo­sla­wi­sche Volks­ar­mee im Herbst 1991 war qua­si nichts ste­hen­ge­blie­ben. In der einst baro­cken Stadt sieht man ver­ein­zelt rekon­stru­ier­te his­to­ri­sche Gebäu­de wie das Schloss Eltz. Vie­le Wohn­häu­ser dage­gen ste­hen noch immer als Rui­ne oder sind not­dürf­tig wie­der bewohn­bar gemacht wor­den. Das kom­plett zer­stör­te Fran­zis­ka­ner­klos­ter hin­ge­gen ist dank der Finanz­kraft der katho­li­schen Kir­che voll­stän­dig rekon­stru­iert und thront hoch über der Donau. Der berühm­te Was­ser­turm von Vuko­var ist kom­plett ein­ge­rüs­tet und harrt seit zwei Jah­ren sei­ner Restau­rie­rung. Er gilt als Sym­bol des Wider­stands gegen Jugo­sla­wi­en, da er trotz mas­si­ven Gra­nat­be­schus­ses nicht zer­stört wer­den konn­te.

Den Kämp­fen und Säu­be­run­gen fie­len damals 2.000 Men­schen zum Opfer. Die heu­te in Vuko­var leben­den Ser­ben, die etwa 35% der Gesamt­be­völ­ke­rung stel­len, bil­den eige­ne Gemein­schaf­ten und tei­len nicht viel mit ihren kroa­ti­schen Nach­barn. Noch immer beherrscht tie­fes Miss­trau­en auf bei­den Sei­ten das Zusam­men­le­ben.
Als wir unse­re Pen­si­on ansteu­ern, wird mir wie­der ein­mal bewusst, dass Kar­ten nur zwei­di­men­sio­nal sind, die Rea­li­tät dage­gen eine drit­te Dimen­si­on auf­weist: die Höhe. Wir, oder bes­ser gesagt, ich brau­che viel Schwung, um den Hügel zu erklim­men. Vater schal­tet ein­fach etwas Motor­kraft hin­zu.

Paul, unser Pen­si­ons­wirt in Vuko­var, mag nicht mehr in die Ver­gan­gen­heit bli­cken. Die Zukunft aber scheint wenig ver­hei­ßungs­voll. »Frü­her gab es Bata, die Schuh­fa­brik; 25.000 Beschäf­tig­te – heu­te sind es noch 500. Die jun­gen Leu­te gehen alle weg, nach Deutsch­land oder Öster­reich.« Eine sei­ner Töch­ter arbei­tet in einem Bis­tro in Ess­lin­gen, die ande­re stu­diert inter­na­tio­na­le Wirt­schaft in den Nie­der­lan­den. Er weiß, dass kei­ne zurück­keh­ren wird. Wozu auch? »Nun, was ist Vater­land?« fragt er und zuckt mit den Schul­tern.

Die fol­gen­de Etap­pe bis nach Ser­bi­en ist sehr hüge­lig. Die Stra­ße win­det sich in Ser­pen­ti­nen mit 6–8‑prozentigem Gefäl­le hin­ab in die Dör­fer am Fluss­ufer, um sich am Ende der Orte eben­so wie­der hoch­zu­schrau­ben. Hier kämp­fe ich ganz allein, da Vater meist auf der Anhö­he vor sich hin pfei­fend auf mich war­tet. Trotz­dem benei­de ich ihn in kei­nem Moment um sein Pedelec. Ich schät­ze das gerin­ge Gewicht mei­nes über 20 Jah­re alten Stahl­ros­ses. Für ihn jedoch bin ich sehr froh, dass es Pedelecs gibt. Seit nahe­zu 15 Jah­ren fährt er kom­for­ta­bel motor­un­ter­stützt. Zu Hau­se nutzt er das Gefährt zum Ein­kau­fen, erle­digt Büro­kra­ti­sches in der 17 Kilo­me­ter ent­fern­ten Kreis­stadt, besucht Freun­de in den Nach­bar­or­ten und ver­bringt inzwi­schen nahe­zu sämt­li­che Urlau­be auf meist deut­schen Rad­we­gen. Ohne die­se ver­gleichs­wei­se jun­ge Form des Rad­fah­rens wäre er nicht mehr so fit, wie er es jetzt ist.

Inzwi­schen haben wir die Gren­ze nach Ser­bi­en völ­lig unspek­ta­ku­lär über­quert und befin­den uns im Grenz­ort Bač­ka Palanka/​Бачка Паланка. Ab hier haben wir es mit kyril­li­scher Beschrif­tung zu tun, zumin­dest bei den offi­zi­el­len Beschil­de­run­gen. Dort, wo Kun­den­ver­kehr herrscht, ist inzwi­schen auch die latei­ni­sche Schrift gebräuch­lich, und bei den jun­gen Leu­ten kommt man mit Eng­lisch wei­ter – wie über­all. Zwar habe ich in der Schu­le 8 Jah­re lang Rus­sisch gelernt und kann das Kyril­li­sche gut lesen und ein­zel­ne Wor­te ver­ste­hen, aber zu spre­chen wage ich es nicht. Scha­de eigent­lich.

Bis Čel­are­vo quä­len wir uns auf der Bun­des­stra­ße vor­an, wer­den von hupen­den Lkw bedrängt und mehr­fach fast in den Gra­ben gezwun­gen. Glück­lich, über­lebt zu haben, ver­schnau­fen wir dort ein wenig und fin­den nach eini­gem Suchen auch den Deich­weg. Oh Wun­der! Eine nie­gel­na­gel­neue Asphalt­de­cke ziert den als unbe­fes­tigt ein­ge­zeich­ne­ten Weg. Nach wei­te­ren Kilo­me­tern mit nor­ma­lem, altem Asphalt kön­nen wir hin­ter Begeč unse­ren Augen kaum trau­en: es beginnt ein Rad­weg vom Feins­ten, mit Ver­kehrs­schil­dern, Mit­tel- und Sei­ten­mar­kie­rung. Wie eine Fata Mor­ga­na ver­schwin­det das Wun­der nach 5 Kilo­me­tern bei Futog wie­der. Aber noch nie hat­ten wir so viel ein­hei­mi­schen Rad­ver­kehr wie zwi­schen die­sen bei­den Ort­schaf­ten erlebt.

Die gan­ze Zeit über beglei­ten uns am jen­sei­ti­gen, süd­li­chen Donau­ufer die Ber­ge des Natio­nal­parks Fruš­ka Gora (zu Deutsch: Frän­ki­sche Ber­ge). An den Hän­gen der Fruš­ka Gora wach­sen nicht nur edle Wein­trau­ben­sor­ten; es haben sich dort im 16. und 17. Jahr­hun­dert sage und schrei­be 15 ser­bisch-ortho­do­xe Klös­ter ange­sie­delt. Die Fruš­ka Gora wird des­halb auch der ser­bi­sche Hei­li­ge Berg genannt. Man hät­te per Rad auch den Weg durch die Ber­ge nach Novi Sad neh­men kön­nen. Gereizt hat­te mich das schon, aber die Etap­pe wäre um die 70 Kilo­me­ter lang gewe­sen ohne Klos­ter­aus­flug.
Nach Novi Sad hin­ein rol­len wir auf einer brei­ten Ufer­pro­me­na­de.

Die Stadt ist sehr groß­zü­gig ange­legt, grün und sau­ber. Novi Sad ist mit 232.000 Ein­woh­nern die zweit­größ­te Stadt Ser­bi­ens und Haupt­stadt der auto­no­men Pro­vinz Voj­vo­di­na. Schon im 18. Jahr­hun­dert ent­wi­ckel­te sich die Stadt unter habs­bur­gi­scher Herr­schaft zum wirt­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Zen­trum der Regi­on. Unse­re Unter­kunft, das Hotel »Voj­vo­di­na«, ist seit 1853 das ers­te Haus am zen­tra­len Platz Trg Slo­bo­de (Frei­heits­platz) und sehr alt­ehr­wür­dig. Wie wir im Inne­ren fest­stel­len, mehr alt als ehr­wür­dig; eine Mischung aus ver­bli­che­ner Nobles­se und Jugend­her­ber­ge. End­lo­se, lin­ole­um­be­leg­te Gän­ge im Neon­licht.

Bei einem ers­ten Spa­zier­gang in der unmit­tel­ba­ren Umge­bung des Hotels stellt sich ein Wow-Effekt ein: so west­lich und süd­lich zugleich! Die Fuß­gän­ger­zo­ne und die Ver­bin­dungs­gas­sen sind vol­ler Cafés, Bou­ti­quen, Eis­lä­den und Kon­di­to­rei­en; in den Innen­hö­fen ver­ber­gen sich Restau­rants, Fri­seur­ge­schäf­te (noch nie habe ich so vie­le auf so klei­nem Raum gese­hen!), Büros, Clubs oder Hand­wer­ker­ge­schäf­te. Inzwi­schen scheint auch immer mal wie­der mil­de die Son­ne und ver­strömt medi­ter­ra­nes Flair. Vie­le Men­schen, Ein­hei­mi­sche wie Tou­ris­ten, sind ohne Hast unter­wegs.

Das Früh­stück am nächs­ten Mor­gen irri­tiert uns ein wenig, belus­tigt uns aber auch. Der Spei­se­raum mit sei­nen weiß­ge­deck­ten Tischen ist zu einem Drit­tel gefüllt. Noch wäh­rend wir nach einem geeig­ne­ten Tisch Aus­schau hal­ten, geht einer der mit wei­ßem Hemd und schwar­zer Hose beklei­de­ten Kell­ner her­um und fegt mit einem Hand­fe­ger lie­gen­ge­blie­be­ne Krü­mel vom Tisch.

Drei Ange­stell­te sit­zen an einem Tisch und rau­chen (ja, in Ser­bi­en ist das Rau­chen in Gast­stät­ten erlaubt; offen­bar auch den Mit­ar­bei­tern). Der Kell­ner bringt uns die schmud­de­li­ge, ein­la­mi­nier­te Früh­stücks­kar­te. Wir haben die Wahl zwi­schen 1. Kaf­fee, Tee, Milch und 2. gekoch­tem Ei, Rühr­ei, Spie­gelei – Letz­te­re wahl­wei­se mit Würst­chen. Dazu gibt es einen Korb mit zwei­fin­ger­dick geschnit­te­nem Weiß­brot und auf Nach­fra­ge ein wenig Mar­me­la­de. Wir amü­sie­ren uns, denn wir sind ja bei­de ost­so­zia­li­siert und ken­nen die­se Atmo­sphä­re, nur dass sie bei uns längst ver­schwun­den ist.

Am nächs­ten Tag neh­men wir die Räder, um zur Fes­tung Petro­va­ra­din am ande­ren Donau­ufer zu gelan­gen. Der Bau der Fes­tung im Stil der öster­rei­chi­schen Mili­tär­ar­chi­tek­tur wur­de Ende des 17. Jahr­hun­derts begon­nen und zog sich fast ein­hun­dert Jah­re hin. Sie wur­de eine der größ­ten Befes­ti­gungs­an­la­gen des Kai­ser­reichs. 1918, nach Been­di­gung des 1. Welt­krie­ges, soll­ten alle K.-u.-k.-Militärbauten im neu­en König­reich der Ser­ben, Kroa­ten und Slo­we­nen zer­stört wer­den. Nur die­se blieb, man mun­kelt ihrer Schön­heit wegen, ver­schont.

Beim Spa­zie­ren­ge­hen über das Fes­tungs­ge­län­de wird mir wie­der bewusst, wie alt mein Vater doch gewor­den ist. Nie zuvor hat­te ich Gele­gen­heit, ihn so aus der Nähe und tag­täg­lich zu beob­ach­ten. Der unte­re Rücken schmerzt und behin­dert ihn beim Gehen; die Knie sowie­so. Län­ge­re Lauf­stre­cken sind für ihn kei­ne Freu­de mehr. Leuch­ten­de Augen dage­gen bekommt er, als er mir von der Fes­tung her­ab die ver­schie­de­nen Brü­cken­kon­struk­tio­nen erläu­tert. Die­ses Wis­sen, inklu­si­ve sta­ti­schen Berech­nungs­for­meln, ist auch nach 60 Jah­ren noch abruf­bar!

Alle Brü­cken der Stadt waren beim Bom­bar­de­ment der NATO im Jahr 1999 zer­stört wor­den. Erst im Jahr 2005 wur­de die ers­te regu­lä­re Brü­cke wie­der in Betrieb genom­men.

Als wir am fol­gen­den Mor­gen auf­bre­chen, steht uns eine ordent­li­che Berg­etap­pe bevor. Und das auf der viel­be­fah­re­nen Fern­ver­kehrs­stra­ße nach Bel­grad. Ihr müs­sen wir 17 Kilo­me­ter kur­ven­reich in die Aus­läu­fer der Fruš­ka Gora fol­gen. Die ers­ten 8 Kilo­me­ter wei­sen eine 5–8‑prozentige Stei­gung auf. Abstei­gen sui­zi­dal! Meh­re­ren Pkw-Fah­rern zei­ge ich den Stin­ke­fin­ger hin­ter­her nach Über­hol­ma­nö­vern mit gefühlt 30 Zen­ti­me­tern Abstand.

Am Nach­mit­tag errei­chen wir Sta­ri Slan­ka­men. Der Ort am Fluss­ufer ist auf einer ser­pen­ti­nen­rei­chen Stra­ße mit teil­wei­se 10-pro­zen­ti­gem Gefäl­le erreich­bar. Dies ist der ein­zi­ge Ort, für den ich kei­ne Unter­kunft vor­bu­chen konn­te. Aber auch hier gibt es ein Gast­haus mit frei­en Kapa­zi­tä­ten.

Bei einem Spa­zier­gang durch den Ort erfasst mich Weh­mut. Über­all ist Ver­fall zu sehen, es ist einer jener Orte, die kei­ne Zukunft zu haben schei­nen. Noch zur Habs­bur­ger­zeit ent­deck­te man hier eine Sole­quel­le, deren hoher Jod- und Natri­um­ge­halt nur eine äuße­re Anwen­dung erlaubt. Sta­ri Slan­ka­men wur­de Kur­ort; ein Sana­to­ri­um gebaut. In den 60er-Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts wur­de ein neu­es Kur­heim gebaut, das heu­te neu­ro­lo­gisch-psych­ia­tri­sche Kli­nik vor allem für post­trau­ma­ti­sche Stö­run­gen ist. Aber der Gebäu­de­kom­plex ist in maro­dem Zustand; Hei­zungs­roh­re lau­fen offen über das Grund­stück. Wie bei einem Deja-vu tau­chen Bil­der der Ver­gan­gen­heit auf. Ja, ich ken­ne sol­che Anla­gen aus den 70er- und 80er-Jah­ren.

An einer Bus­hal­te­stel­le sit­zen meh­re­re Slan­ka­me­ner unter­schied­li­chen Alters, teils mit Rei­se­ta­sche, teils mit Tüten. Nie­mand spricht. Als ich eine hal­be Stun­de spä­ter zurück­kom­me, sit­zen die War­ten­den noch immer an der Bus­hal­te­stel­le. Die Sze­ne­rie ist sur­re­al, wie auf einer Büh­ne spie­len die Bewoh­ner ihr Leben. Was ist echt, was arran­giert? Wird der Bus je kom­men?
Das Abend­essen im Restau­rant holt mich in die Rea­li­tät zurück. Wir bestel­len Fisch­topf. Ser­viert wird er im Kup­fer­kes­sel mit gro­ßer Kel­le. In einem aus­ge­spro­chen lecke­rem Toma­ten­sud mit wür­zi­gen Kräu­tern lie­gen gro­ße Stü­cken Karp­fen, Wels und Forel­le. Das Gericht ist anders als erwar­tet, aber aus­ge­spro­chen lecker und auch irgend­wie logisch: den Sud kann man gut vor­hal­ten (anders als eine Sup­pe mit Gemü­se); die Fisch­stü­cke wer­den bei Bedarf zuge­ge­ben.

Wir nähern uns unauf­halt­sam Bel­grad. Die Ort­schaf­ten wer­den grö­ßer, zum Bei­spiel Surd­uk: ein typi­sches Stra­ßen­dorf, etwa 2 Kilo­me­ter lang. Gro­ße Rosen­stö­cke in Rot, Weiß und Oran­ge schmie­gen sich an die Mau­ern alter Bau­ern­häu­ser, dane­ben Nel­ken, Lili­en und Pfingst­ro­sen. Hie und da sitzt eine alte Frau auf der Bank vor ihrem Haus. Die Ein­fahr­ten man­cher Höfe sind mit blu­men­ge­schmück­ten Bögen ver­se­hen – es ist Mai, der Won­ne- und Hoch­zeits­mo­nat.
Die Ein­fall­stra­ße nach Bel­grad for­dert uns noch­mal alles ab. Sie hat gera­de eine neue Bitu­men­de­cke erhal­ten und dampft qua­si noch. Es gibt kei­ner­lei Rand­be­gren­zung; die Kan­te ist etwa 20 Zen­ti­me­ter hoch. Es ist Nach­mit­tag und Rush­hour. Jetzt nur nicht abge­drängt wer­den! Aber wir behal­ten die Ner­ven und las­sen uns von hupen­den Lkw nicht ein­schüch­tern.

Erschöpft errei­chen wir unser Quar­tier für die kom­men­den Näch­te, das legen­dä­re Hotel »Jugo­sla­vi­ja«. Vom Bal­kon unse­res Zim­mers im 6. Stock haben wir einen gran­dio­sen Aus­blick über die Donau und das alte Bel­grad auf dem Hügel. Als das Hotel 1969 als Grand Hotel mit 1.000 Bet­ten, diver­sen luxu­riö­sen Salons, Sui­ten und Pools eröff­net wur­de, war es das größ­te und mon­däns­te des gesam­ten Bal­kans. Heu­te ist das Hotel »Jugo­sla­vi­ja« vor allem 50 Jah­re alt. Die Geräu­mig­keit bleibt, die brei­ten Bet­ten auch, aber der Rest ist vom Zahn der Zeit ange­nagt.

In den fol­gen­den 2 Tagen erkun­den wir die Stadt, die einen ganz ande­ren, viel raue­ren Charme aus­strahlt als Novi Sad. Am Zusam­men­fluss von Save und Donau gele­gen, hat­te Bel­grad immer stra­te­gi­sche Bedeu­tung. Im Lau­fe ihrer über tau­send­jäh­ri­gen Geschich­te wur­de die Stadt unzäh­li­ge Male zer­stört und wie­der auf­ge­baut. Heu­te fin­det man ele­gan­te Stadt­vil­len neben den ruß­ge­schwärz­ten Fas­sa­den von Plat­ten­bau­ten. Brei­te Stra­ßen und groß­zü­gig ange­leg­te Plät­ze wech­seln mit kopf­stein­ge­pflas­ter­ten Gas­sen und Gemü­se­märk­ten. Die Stadt pul­siert und ver­strömt unge­heu­re Leben­dig­keit. Es wirkt wie eine Mischung aus Trotz und Stolz.
Der über­bor­den­de Ver­kehr mit Stra­ßen­bah­nen, die Hügel­la­ge, viel Kopf­stein­pflas­ter und das Feh­len von Rad­we­gen machen das Zen­trum Bel­grads zu einer fahr­rad­un­freund­li­chen Zone. Aber vie­les lässt sich zu Fuß erkun­den und das Fah­ren mit der Stra­ßen­bahn ist preis­wert und ja, auch ein biss­chen aben­teu­er­lich.

Ich war neu­gie­rig gewe­sen auf die­sen Teil Ost­eu­ro­pas. Sla­wo­ni­en, Syr­mi­en, die Voj­vo­di­na …, bekannt aus Geschichts­bü­chern, nicht aus Rei­se­pro­spek­ten. Der Euro­ve­lo 6 bie­tet in Süd­ost­eu­ro­pa einen rasan­ten und unglaub­lich inter­es­san­ten Ritt durch die euro­päi­sche Geschich­te. Einst lagen die­se Regio­nen mit­ten­drin; heu­te sind sie abge­hängt und bie­ten doch so viel!

Schon bei der Detail­pla­nung der Tour im Win­ter stell­te sich die Fra­ge, wie wir wie­der zurück­ge­lan­gen kön­nen. Die Zug­ver­bin­dung zwi­schen Bel­grad und Buda­pest ist seit Febru­ar auf ser­bi­scher Sei­te wegen drin­gend nöti­ger Bau­ar­bei­ten gekappt. Eine Vari­an­te via Zagreb, Vil­lach, Mün­chen ist auf­grund der Dau­er und häu­fi­gen Umstie­ge kei­ne Opti­on. Flie­ger und Flix­bus sind wegen des Akkus tabu. Des­halb holt uns mein Lebens­ge­fähr­te mit dem Auto ab. Wir nut­zen die Mobi­li­tät und über­ra­schen mei­nen Vater mit einem Aus­flug zum Eiser­nen Tor. Nach eini­gem Suchen fin­den wir vor Ort den Fischer Dule und sei­ne Frau Nata­scha aus Teki­ja, die uns mit ihrem klei­nen Boot 2 Stun­den lang die Schön­hei­ten des Eiser­nen Tores zei­gen und uns vie­le geschicht­li­che Infor­ma­tio­nen lie­fern, aber auch vom Leben in die­sem abge­le­ge­nen Teil Ser­bi­ens erzäh­len. Die Fahrt mit ihnen ist ein abso­lu­tes High­light unse­rer Tour und ein krö­nen­der Abschluss.

Mein Vater ist bewegt und dank­bar und sagt: »Hier ist Schluss. Wei­ter kann und will ich der Donau nicht mehr fol­gen.«

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