Mit Abdul durch die Nacht

Ich bin bereits sech­zehn Stun­den unter­wegs und es ist weit nach Mit­ter­nacht in Kua­la Lum­pur, als Abdul lei­se mit sei­nem Wagen um die Ecke rollt. Ver­zwei­felt, müde und ängst­lich muß ich in der Dun­kel­heit aus­se­hen, wäh­rend Abdul sein Bei­fah­rer­fens­ter her­un­ter­kur­belt und ich in ein freund­li­ches Gesicht her­un­ter­bli­cken kann. Brau­ne Augen schau­en über das schwar­ze, ecki­ge Gestell sei­ner Bril­le hin­weg. Flott sieht das aus, den­ke ich. Wie Kevin Kost­ner in JFK.

Da ich Abdul in die Augen bli­cke, weiß ich, daß er nicht das üppi­ge Dekol­le­te sei­ner Bei­fah­re­rin in Augen­schein nimmt, als er sich zu mir her­aus­lehnt. „What do you do for you?“ fragt mich Abdul mit indi­schem Akzent und ori­gi­nel­ler Gram­ma­tik aus sei­nem Wagen her­aus. „Ich suche mein Hotel“, ant­wor­te ich mit deut­schem Akzent, anneh­mend, er wol­le mir Hil­fe bei sol­cher Art von Navi­ga­ti­on bie­ten, die Rei­sen­de bei nächt­li­cher Ankunft in einer frem­den Stadt, nun­mal zuerst zu bewäl­ti­gen haben.

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Abdul macht wort­los eine win­ken­de Bewe­gung, die mir zu die­ser Stun­de irgend­wie ein­la­dend vor­kom­men will und mir wohl bedeu­ten soll, in sein Auto ein­zu­stei­gen. Noch ehe Zeit für Pro­test blie­be, ist mein Ruck­sack in sei­nem Kof­fer­raum ver­staut und ich auf der hin­te­ren Sitz­bank. Wir hocken mit sie­ben Per­so­nen in sei­nem Potron. Abdul sucht mehr­mals nach dem ers­ten Gang und gibt dann Gas. Potron ist eine Art Trab­bi für die Bewoh­ner des Lan­des Malay­sia – mit kür­ze­rer Aus­lie­fe­rungs­zeit, aber einem ver­gleich­ba­ren Innen­raum­vo­lu­men.

Ich schrei­be Bewoh­ner des Lan­des Malay­sia, da ich nicht weiß, wie man die­se nennt und Goog­le gera­de nicht erreich­bar ist. Die Rei­se­ge­mein­schaft hat sich inzwi­schen ein­an­der vor­ge­stellt und Abduls Ehe­frau – die mir nur als schwar­zer Mireil­le-Mathieu-Schopf mit üppi­gem Dekol­le­te in Erin­ne­rung blei­ben wird – ist schier außer sich: „You are Munich!« Ja, ich war Papst und bin Munich. Und nun suche ich mein Hotel, das irgend­wo hier die Stra­ße run­ter sein soll. Als die Stra­ßen unbe­leb­ter wer­den hebt Abduls Frau zu wei­te­rem Gere­de an und ich wer­de all­mäh­lich unge­dul­dig, weil ich müde bin und kei­ne Lust auf Mit­ter­nachts-Gequat­sche ver­spü­re.

Manch­mal, wenn man unter­wegs ist, muss man Din­ge ver­ein­fa­chen: Nie­mand in Malay­sia ver­steht sogleich, daß ich im Ruhr­ge­biet gebo­ren, anschlie­ßend in Bre­men, Kiel, Chi­ca­go und Syd­ney leb­te und dann nach Mün­chen zog, um dort aus der Kir­che aus­zu­tre­ten. Also ein unver­hei­ra­te­ter, zuge­reis­ter Athe­ist bin, der allein durch das schö­ne Malay­sia reist. Zu anrü­chig, frag­wür­dig und über­mü­tig wäre das. Ein nach unse­ren Maß­stä­ben in sich schlüs­si­ges und kon­se­quen­tes – in Malay­sia aber frem­des bis befremd­li­ches – Lebens­kon­zept.

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„Most peo­p­le arri­ving from Thai­land make sex chan­ge“, haucht Abdul der Unter­hal­tung ruck­ar­tig neu­es Leben ein und mus­tert mich dabei aus­führ­lich auf der Rück­bank von sei­nem Rück­spie­gel aus. Dort hocke ich nun schon eine gan­ze Wei­le, ein­ge­klemmt, zwi­schen sei­nen vier Söh­nen, auf dem unbe­lieb­ten Mit­tel­platz. Die Vier schau­en mich nun hell­wach von der Sei­te an. Wir hat­ten gera­de mei­nen Flug von Bang­kok nach Kua­la Lum­pur the­ma­ti­siert. „Und gar nicht teu­er…“, set­ze ich an, nur um Abduls Satz nicht ewig in der Luft ste­hen zu las­sen, und weil mir eine Rekla­me aus der Bang­kok Post von Ges­tern ein­fällt und sonst nichts. In der Aus­ga­be waren dem Leser Ope­ra­tio­nen die­ser Art für erschwing­li­che 1.625 Dol­lar ans Herz gelegt wor­den.

Zuge­ge­ben: Auch, um die boh­ren­den Bli­cke sei­ner Söh­ne zu ent­schär­fen. Gleich­zei­tig las­ten Abduls enger wer­den­de Augen im Rück­spie­gel auf mir. Ob das in Malay­sia ein gutes oder schlech­tes Zei­chen ist, weiß ich nicht. Über­haupt: Die Luft und bald müß­ten wir doch auch in mei­nem Hotel ankom­men, das ja nur die Stras­se run­ter lie­gen soll. Seit Stun­den fah­ren wir nun durch ver­schla­fe­ne Vier­tel Kua­la Lum­purs. Ich füh­le mich an den Film »Night On Earth« von Jim Jar­musch erin­nert. Dies muß die sechs­te Geschich­te sein.

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Als ich aus dem Potron stei­ge zeigt mir Abdul sei­ne Kar­te. Dr. Abdul, Plas­ti­sche Chi­ru­gie, steht dort. Als ich wie­der auf­wa­che, zie­he ich mir ein Kleid an. Kon­fet­ti-Regen. Ich schwe­be auf einer Schau­kel hin­un­ter auf die Büh­ne und tan­ze dort zu »Dia­monds Are A Girls Best Fri­end«, wie Nico­le Kid­man in Moulin Rouge, oder Mary­lin. Als die Schein­wer­fer aus­ge­hen, sehe ich in die brau­nen, fun­keln­den Augen von Dr. Abdul, der begeis­tert applau­diert.

Drei Uhr Mor­gens. Es ist ruhig. Nur der Dunst und das Durch­ein­an­der. Die Ampel springt auf Grün. Mein Arm winkt den roten Rück­lich­tern des Wagens. Ich schnap­pe mei­nen Ruck­sack, gehe am Seven-Ele­ven vor­bei und schlei­che lei­se in mein Hotel. Bevor Abduls Kar­te in mei­ner Hosen­ta­sche ver­schwin­det, bli­cke ich noch ein­mal flüch­tig dar­auf. PR-Agent steht da. Alles nur geträumt.

„Good evening, Miss”, begrüßt mich die Frau an der Rezep­ti­on mei­nes Hotels fröh­lich und rüt­telt mich aus mei­nen Nacht­ge­dan­ken. Malay­sia hat schö­ne Frau­en. In mei­nem Porte­mon­naie feh­len 1.625 Dol­lar. Ich bin ver­wirrt und mein Ver­stand ist müde, am Ende eines lan­gen Rei­se­ta­ges. Müdig­keit ist ein mani­pu­lie­ren­der, gam­me­li­ger Rat­ge­ber auf Rei­sen. Ich will schla­fen.

Ob Hein­rich Hei­ne an Malay­sia bei Nacht dach­te, als er schrieb: »Schlaf ist doch die köst­lichs­te Erfin­dung.« Mir kommt noch Erich Käst­ner in den Sinn, bevor ich end­lich in den Schlaf sin­ken kann: “Wer schla­fen kann, darf glück­lich sein.”

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