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An dem Tag, an dem ich den Doktor traf, ging die Sonne nicht auf. Irgendwann, würde sie kreisrund über dem See stehen, ja; wie am Wendekreis des Steinbock, um dann mit dem See zu verschmelzen. Einfach so. Oder so, als habe jemand eine Lampe angeknipst, um das Ende einer undurchdringlichen Nacht herbeizuführen. Jetzt rieselten die letzten Tropfen von den Ästen und Blättern der Tropenbäume. Regenzeit. Silbergraue Wolkendünen. Der See indes, lag ruhig dar.
Ich hatte die Beine um das Laken geschlagen, sah von meinem riesigen Holzbett aus auf die Kulisse – seit Tagen nun schon –, musste mich nicht einmal aufrichten dafür, weil ich von meiner Hütte auf den See hinab blicken konnte, ganz bis zum anderen Ufer, das schon Mosambik war. Ich erwachte an diesem Morgen früher als in den vorangegangenen Tagen und – traumlos, wie gewöhnlich. Nur das Tempo war verändert, gedrosselt irgendwie. Von der üblichen Tagesschablone abgelöst, wie die Gummipolsterung in einem Colaflaschen-Kronkorken. Morgendämmerung und Mond waren die Markierungssteine. Sonst nichts.
*
Die Rufe und der Betrieb zweier Fischer waren es, sie rissen mich aus meinem Schlaf oder Döszustand. Die Männer gingen auf dem See der Jagd nach. Der eine, dümpelnd in einem Boot, das aussah wie ein ausgehöhlter Baumstumpf, archaisch. Der andere, mit einer hölzernen Harpune im Wasser hantierend. Die Fischer die immer nachts rausfuhren, hatten eine Lampe auf dem Boot. Der warme Lichtschein der Glühbirne, ein Gefährte, der das Wasser erhellte, das Boot oval umrankte und so die unmittelbaren Zielobjekte schutzlos bloßlegte. Die Tagesfischer wandten eine andere Technik an: Der Mann im Boot erzwang mit seinen schwingenden Bewegungen Wellenschübe, die Fischgut anlockten. Der andere, der mit der Harpune, stieß so entfesselt wie gezielt zu – immer, sobald der Augenblick günstig stand.
Was ich sah, wirkte auf mich zauberisch, aus einer anderen Welt. Ich fühlte eine wuchtige Ungeduld in mir aufsteigen. Ich wollte, ich wäre einer der Männer. Ich bewunderte, wie sie sich mowgliartig in diesem fremden Element bewegten. Dann döste ich noch einmal weg.
Das erste Mal sprach David in der Bar vom Doktor. David war der beste Gefährte in diesen Tagen am See. Er besaß dieses Talent, das bewirkte, dass Leute aufgaben, was sie planten, damit er bekam, was er brauchte. Und, er kannte jeden in der Gegend. Mir war gleich klar, dass ich den Doktor sehen wollte. Heute schien mir ein guter Tag dafür zu sein, der Aufstieg würde in dem silbergrauen Dunst nicht allzuviel Kraft kosten.
Am Dorfausgang standen die Häftlinge mit ihren Macheten und weißen Hemden im grünen Feld. An einem anderen Tag hatte ich Kingfisher getroffen. Er habe – zum Zeitpunkt des Zugriffs – ein bischen viel von „der Medizin“, wie er es nannte, in der Tasche gehabt. Das mag ehrlich und auch der Fall gewesen sein. Tatsächlich aber, saß Kingfisher wegen einer Vergewaltigung. Nun schwang er die Machete auf dem Feld. Acht Jahre lang, tagein, tagaus. Das Mariuanha. Die Sache lief so: Die Dorf-Sheriffs nahmen alle paar Wochen ein paar von ihnen hops, dann steckten sie das Kraut ausgewählten Dealern zu, die es in der Umgebung für die Dorf-Cops vertrieben; das Geld war artig abzuliefern.
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Wir stiegen dem Dorf in den Bergen entgegen, mannshohes Gras und Schilf ringsum, eine Strapaze. Nicht tief ging es in die Berge hinein, aber doch steil hinauf und der Weg war schwer auszumachen. Alles stand in üppig grüner Regenzeitblüte. Unten konnte man den See erkennen, wenn man es wagte, sich umzudrehen. Als wir höher stiegen, wurde es steiler. Wir stiegen über Sturzbäche und lose Steine, die rutschig waren, denn seit drei Tagen hieb immer wieder der Regen auf die rote Erde.
David ging voran, er kannte den Pfad zum Haus des Doktors. Hier oben war es still, unten – im Dorf – erfasste einen immer gleich der Lärm. Der Lärm war Ausdruck eines Gewährenlassens. Dort konnte in jedem Moment, an jedem Ort, jedem Raum, etwas entstehen, bis es wieder zerfiel. Bei uns ist alles mit einer bestimmten und dauerhaften Funktion markiert. Vieles davon, nur noch Dekoration. Hier oben war man fern jeder Verschwendung, Verachtung oder dem Versuch, sich über die Natur hinwegzusetzen. Hier oben war man frei, von jeder eitlen Betriebsamkeit abgeschirmt.
Doktor Chiwamba kam, als wir schon auf die Baumstümpfe herüber rückten, die im Schatten vor dem roten Backsteinhaus lagen, weil die Sonne allzu großzügig sich über uns ausgoß. Chiwamba stellte seinen Rucksack ab. Er trug eine graue Treckinghose und ein blaues Karohemd, hatte kurzes krauses Haar. So, dachte ich, hatte ich mir einen Heiler, einen, der auch etwas vom Vodoo versteht, nicht vorgestellt. Ich hatte mir ausgemalt, er würde tanzen, singen, heulen. Doch Chiwamba lachte nur. Und was das Aussehen betraf, nun, sah er mehr aus wie die Trekking-Guides in Kathmandus Thamel.
„Was hast Du letzte Nacht geträumt?“, fragte Chiwamba ohne Umschweife. Es war ein heißer Tag gewesen, ich hatte am Abend ein paar Bier in der Bar gekippt, um die Hitze rauszuschwemmen, der Frau mit dem Cowboyhut dabei zugesehen, wie sie die Männer – einen nach dem anderen – beim Billard K.O. gehen ließ und dann bald selig geschlafen. Für Chiwamba waren das schlechte Vorzeichen. „Keine Träume – das ist ein Problem“, eröffnete er mir mit seinem freundlichen Gesicht, um dann gleich ausgesprochen beschäftigt zu tun. Eine ganze Weile wühlte er in seinem Rucksack, als handelte es sich dabei um eine mittelgroße Damenhandtasche. Chiwamba wollte, dass ich nachfragte, dass war gleich klar.
Da klopfte schon die nächste Hiobsbotschaft an: Er sehe einen Fluch. Böse Geister also, die ihr Teufelswerk taten. Chiwamba wollte mir seine Erklärung dann nicht mehr vorenthalten. „Wenn du von einer Schlange träumst, die dich beißt“, platzte es aus ihm heraus – und er brachte es fertig, gleichzeitig immer noch zu lachen –, „und wenn du dich am nächsten Morgen an diesen Traum erinnerst, dann weißt du, was zu tun ist, damit du nicht sterben musst. Träume beschützen dein Leben.“ Ich blickte zu David herüber. Der nickte unverwand. Chiwamba war ein ausgebuffter Profi. Es klang nicht unplausibel, wenn man so vor ihm saß. Das Problem war: Ich glaubte nicht an solchen Zinnober. Und überhaupt: wer sagte, dass er nur die Dämonen vertreiben würde. Und nicht mehr. Etwas vertrieb, das meiner Seele ganz gut stand.
*
Wir wechselten auf die Veranda. Chiwamba wollte mir nun etwas zeigen. Er breitete eine blaue Plane auf dem Steinboden aus. Dann ging er wieder ins Haus und kehrte mit einem weißen Eimer zurück, einem, wie man ihn in der Metro bekommt, in dem zehn Liter Mayonnaise abgefüllt sind oder Kartoffelsalat. Der gemahlene, getrocknete Inhalt roch nach alten Kartoffelschalen. Chiwamba ereiferte sich jetzt, als er sich daran machte, die Dinge, die er ausgebreitet hatte, zu benennen. Kräuter, Wurzelreste, Baumrindenfetzen.
Ich hatte von Schamanen im Himalaja gehört, die mit Elfenbeinwürfel, Orakelbuch, mit Pfeil und Bambusbogen Dämonen austreiben. Sie würden ein Schaf in 50 Fuß Entfernung als Zielscheibe aufstellen und dann ihre Pfeile in das Herz des Dämonen feuern. Ich blickte mich nach einem Schaf um. Und ich erinnerte mich daran, dass ich von einer afrikanischen Schamanin las, die Geisterabwehr über ihren Twitter-Account betrieb. Kräuter vertrieb sie in ihrem Online-Shop. Nur beim Sterben, da bestand die Schamanin noch auf Anwesenheit. Wer weiß, vielleicht müssten wir noch eine Kuh schlachten, hier an Ort und Stelle, um endlich meinen Traumfluch zu beenden – wo ich einmal da war.
Chiwamba hob ein Stück rote Rinde an. Die Rinde des Niembaums treibe die Malaria aus, erklärte Chiwamba. Er warf das Stück ausgefranste Rinde in einen Plastikbecher. Dann füllte er es mit heißem Wasser auf, rührte ausgiebig um und trank davon, wie zum Beweis. Drei Tage und die Dämonen der Malaria seien vertrieben. David nickte wieder. Vor ein paar Wochen hatte ihn das letzte Mal eine Malaria erwischt. Er trank das rote Zeug, drei Tage lang. David saß sehr munter und lebendig vor mir.
Chiwamba hielt mir den Becher hin. Ich rückte näher heran. Dann nahm ich einen Schluck. Das Gebräu schmeckte nach Morast, nach feuchtem Herbstlaub. Meine Grimasse musste sich irgendwo zwischen Ekel, Staunen und Überraschung eingependelt haben. Denn es war nicht einmal ungenießbar. Chiwamba leuchtete nun. Man muss jeder Art von Aberglauben wohl eine aufgeschlossene Stirn bieten. In Afrika geht Aufgeschlossenheit um. Jeder besitzt einen Schamanen. Es gibt hier mehr davon als zugelassene Ärzte.
Chiwamba, der ohnehin unablässig lachte, legte laut lachend noch eins drauf. Nun, nachdem ich vor den Dämonen der Malaria sicher sei, wollte Chiwamba mein Glück anschieben. Da holte Chiwamba eine kleine Metalldose aus der Hosentasche, die in der Sonne funkelte. In der Dose schwammen Münzen in einer Art öligen Lake. Der Reichtum käme automatisch zu mir, pries Chiwamba, jetzt mit weit aufgerissenen Augen, die ebenso funkelten, wie zuvor die Metalldose selbst. Ich meinte einen Zug Wahnsinn darin zu erkennen, plötzlich ein anderes Wesen vor mir zu haben. Alles, was zu tun sei, erfordere, sich mit dem Ӧl aus der Dose am gesamten Körper einzureiben. „Gegen eine kleine Geldopfergabe…“
Die Nacht brach früh herein. Es war Zeit abzusteigen. Immer wieder erhellte der Mond aus dem Nichts ein Haus entlang des Pfades, auf dem wir bergab gegen den See tänzelten. Dann versank ich mit meinem rechten Schuh in einem Schlammloch, denn beim Abstieg war kaum noch etwas zu erkennen. David besorgte umgehend – von woher genau vermag ich nicht zu sagen – eine Schale mit Wasser. Er begann meinen Schuh vom Schlamm zu säubern.
Irgendwann sah ich die Lichter des Dorfes vor uns auftauchen. Wir ließen das Dorf hinter uns und saßen am See. Wir saßen bei Butterfish und Bier, als ein paar Nachtfischer gerade hinaussetzten. Das warme Licht nahmen sie mit. Bald sah es aus, wie Laternenmasten, auf dem Wasser hin und her geschoben.
Am Morgen weckten mich Stimmen. Ich fragte mich, ob ich Chiwamba begegnet war oder nur geträumt hatte. Aus der Ferne sah ich die Fischerboote, wie einsame Fliegen lagen sie auf dem See, von dem nicht klar war, wo er endete. Ich stieg in das Boot. Eine Harpune in der Hand. Die Sonne war schon da. Dann legte ich meine Hand auf die Hosentasche. Ich wollte nachfühlen – nur sichergehen –, dass die kleine Metalldose noch darin steckte.
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Jetzt bin ich aber neugierig: Hast du anschließend geträumt?
Soso, du glaubst nicht an so einen Zinnober … aber gehst trotzdem hin … 🙂 spannende Vorgehensweise. Das schöne am Schamanismus ist aber auch, dass man nichts glauben muss – man kann alles ausprobieren. Und dann funktioniert es entweder, oder halt nicht. Am Ende steht aber immer die Erfahrung …
Um träumen zu können, braucht es aber sowieso keinen Schamanen. Da reicht eine Entscheidung … wie bei fast allen anderen Dingen auch.
Gerhard
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