Blick in die Wolken

Ein Raum­schiff, den­ke ich. Eins wie aus Star Wars, das hin­ten eine Klap­pe auf­macht, in die die Mil­en­ni­um-Fal­ken hin­e­inflie­gen und lan­den kön­nen. Eine Sphinx ohne Kopf oder eine sti­li­sier­te Schild­krö­te? Oder doch eine ganz zufäl­li­ge Kon­struk­ti­on, inspi­riert von zer­knüll­tem Papier wie bei den Simpsons? Ich mag moder­ne Archi­tek­tur wirk­lich, aber das Inter­pre­tie­ren fällt mir meis­tens schwer. Lini­en, Flä­chen, Fens­ter und Stahl, gut und schön, aber dar­in Struk­tu­ren und Bewe­gun­gen erken­nen, sinn­haf­te Moti­ve und sicht­ba­re Ideen? Der dahin­ter­ste­hen­de Sinn erschließt sich mir meist erst, wenn ich mit der Nase dar­auf gesto­ßen wer­de. Oder gar nicht – ich ste­he und schaue, lege begeis­tert den Kopf in den Nacken und suche die Glas- und Stahl­wän­de mit den Augen ab, aber es ist wie mit dem Blick in den Him­mel: Alles kann man erken­nen und nichts.

So auch in Lyon – das 2014 voll­ende­te Musée des Con­fluen­ces nimmt mich in sei­nen Bann. Ich bin begeis­tert davon, wie es sich auf der Halb­in­sel zwi­schen die Flüs­se schiebt, sie zu tren­nen scheint, wie es sich gegen die Auto­bahn dane­ben auf­türmt, wie ein Boll­werk und den­noch erstaun­lich leicht­fü­ßig wirkt. Die Drei­ecke, die das Dach über­zie­hen, sind äußerst foto­gen gegen den Him­mel, erhe­ben sich im Son­nen­licht wie künst­li­che Berg­gip­fel. Und doch, Wol­ken kann ich dar­an beim bes­ten Wil­len nicht erken­nen. Oder soll der Kom­plex eine gro­ße Wol­ke dar­stel­len? Wo ist der vom Archi­tek­ten beschrie­be­ne Kris­tall? Und was haben Wol­ken über­haupt mit Kris­tal­len zu tun? Ich bin über­for­dert.

Zusammenfluss, metaphorisch und tatsächlich

Dafür lässt sich das inhalt­li­che Kon­zept hin­ter dem Muse­um umso leich­ter ver­ste­hen: „Con­fluence“, das heißt Zusam­men­fluss, und das ist hier in Lyon sowohl im über­tra­ge­nen Sin­ne als auch ganz wört­lich gemeint. Das Musée des Con­fluen­ces liegt direkt an der Stel­le, in der die Saô­ne in die Rhô­ne fließt und die bei­den Flüs­se, die Lyon sozu­sa­gen drit­teln, zu einem wer­den.

Der Zusam­men­fluss, der die Lage des Muse­ums maß­ge­bend bestimmt, wur­de schließ­lich in der inhalt­li­chen Gestal­tung auf­ge­grif­fen. Man betritt hier kein rei­nes Natur­kun­de­mu­se­um mit Rei­hen an auf­ge­spieß­ten Schmet­ter­lin­gen und aus­ge­stopf­ten Bären­fi­gu­ren, son­dern das Musée des Con­fluen­ces hat sich vor­ge­nom­men, die gro­ßen Fra­gen von Natur und Mensch­heit mit Hil­fe des Zusam­men­spiels ver­schie­de­ner wis­sen­schaft­li­cher Dis­zi­pli­nen zu beant­wor­ten. Natur- und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten wer­den in einer Art und Wei­se gegen­über­ge­stellt, die zwar die Unter­schie­de auf­zeigt, doch auch ersicht­lich macht, wel­che Fra­gen die eine für die ande­re offen lässt. Gleich­zei­tig fin­den neben wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen auch Mythen, Sagen und ande­re Vor­stel­lun­gen des Men­schen von sei­ner Welt ihren Platz.

Woher kom­men wir? Natür­lich lässt sich so eine Fra­ge natur­wis­sen­schaft­lich durch die Ent­ste­hung der Erde, die Evo­lu­ti­on und die Mensch­heits­ge­schich­te erklä­ren. Doch bleibt das Ergeb­nis nicht irgend­wie unvoll­stän­dig, wenn man kei­nen Bezug dar­auf nimmt, wie der Mensch sei­ne eige­ne Ver­gan­gen­heit selbst reflek­tiert und wel­chen Platz ver­schie­de­ne Kul­tu­ren für sich selbst in der Welt ver­or­ten? Im Musée des Con­fluen­ces ste­hen neben Meteo­ri­ten und ande­ren Fund­stü­cken, die Tei­le der Geschich­te des Pla­ne­ten erklä­ren, von Men­schen gebau­te Tele­sko­pe aus ver­schie­de­nen Jahr­hun­der­ten – und Tafeln mit Mythen ver­schie­de­ner Eth­ni­en über den Ursprung ihrer Welt. Sehr beein­druckt hat mich auch der Teil des Muse­ums über Ster­ben und Ewig­keits­vor­stel­lun­gen.

Ein ungewöhnliches Museum

Ein moder­nes Kon­zept, das es in die­ser Form noch nir­gend­wo anders gibt. Man nimmt sich unter­schied­li­che Dis­zi­pli­nen vor, zeigt auf, wie sie sich unter­schei­den, und lässt sie gleich­zei­tig inein­an­der­flie­ßen, um umfas­sen­de Ant­wor­ten auf die ganz gro­ßen Fra­gen zu fin­den. Das ist nicht nur wirk­lich inter­es­sant, son­dern macht auch mehr Spaß als ein „gewöhn­li­ches“ Muse­um, da es ein­fach sehr viel abwechs­lungs­rei­cher ist. Hier fin­det jeder eine Spar­te, die ihn begeis­tert, und wer es schafft, alles in sich auf­zu­neh­men und sich auf die unge­wöhn­li­che Dar­stel­lungs­form ein­zu­las­sen, ist hin­ter­her defi­ni­tiv um eine Erfah­rung rei­cher.

Auch die Mög­lich­kei­ten, das Muse­um zu erle­ben, sind viel­fäl­tig und pas­sen zum Mot­to der Zusam­men­flüs­se: Vie­les lässt sich anfas­sen, gleich­zei­tig gibt es moder­ne Audio­gui­des und natür­lich auch ganz viel für’s Auge. Dabei sind vie­le Zusam­men­hän­ge auch auf span­nen­de Art und Wei­se visu­ell dar­ge­stellt – die ver­schie­de­nen Arten und Spe­zi­es wer­den bei­spiels­wei­se über eine wei­ße Struk­tur erklärt, die wie ein Gewirr an Ästen von der Decke hängt.

Ein beson­de­res High­light ist übri­gens ein fast vier Meter hohes Mam­mut, das man im 19. Jahr­hun­dert bei Bau­ar­bei­ten mit­ten in der Stadt gefun­den hat. Auch zwei fast voll­stän­dig erhal­te­ne rie­si­ge Dino­sau­ri­er­ske­let­te las­sen einen ziem­lich beein­druckt zurück.

Neben den Dau­er­aus­stel­lun­gen gibt es auch ver­schie­de­ne Wech­sel­aus­stel­lun­gen – gera­de bei­spiels­wei­se zu Gif­ten, zu den Brü­dern Lumiè­re, die in Lyon gelebt und Film und Kino ent­wi­ckelt haben, und zu For­schungs­rei­sen des 17. Jahr­hun­derts.

Das Viertel „La Confluence“

Je län­ger ich im Muse­um bin, des­to mehr stel­le ich fest: Wie auf Wol­ken kann man sich tat­säch­lich füh­len, wenn man das Gebäu­de durch­quert: Anstatt ein­fach lee­ren Raum zu las­sen, haben sich die Archi­tek­ten dafür ent­schie­den, Trep­pen und Brü­cken zu bau­en. Man kann also nicht nur die Aus­stel­lun­gen, son­dern auch das Gebäu­de auf ganz indi­vi­du­el­le Art erfah­ren. Wäh­rend die Aus­stel­lun­gen Ein­tritt kos­ten, ist das Gebäu­de an sich ein öffent­li­cher Raum und man kann vom Ein­gangs­foy­er bis zur Dach­ter­ras­se klet­tern, ohne zu bezah­len.

Die „Halb­in­sel“, die sich zwi­schen Rhô­ne und Saô­ne erge­ben hat, soll in den nächs­ten Jah­ren und Jahr­zehn­ten zu einem neu­en kul­tu­rel­len und wirt­schaft­li­chen Zen­trum von Lyon wer­den. Es sind nicht nur Büros, son­dern auch Woh­nun­gen geplant, Platz für 17.000 Men­schen – und davon sogar 20 Pro­zent in Sozi­al­woh­nun­gen.

Heu­te lei­det die Gegend noch sehr unter der Auto­bahn, die direkt hier ent­lang­führt, doch die wird zukünf­tig umge­lei­tet, um Platz für lei­se­ren und ent­spann­te­ren Ver­kehr zu machen. Das Musée des Con­fluen­ces macht hier schon ein­mal einen span­nen­den Anfang: Nicht nur im Gebäu­de, son­dern auch außer­halb wur­den tol­le öffent­li­che Räu­me direkt am Was­ser geschaf­fen.

Dass Lyon eine Stadt ist, die in den letz­ten Jah­ren eine erstaun­li­che Ent­wick­lung durch­ge­macht hat und immer noch dabei ist, sich neu zu erfin­den, wird wohl kaum irgend­wo deut­li­cher als hier. Für Indus­trie­bra­chen gibt es ehr­gei­zi­ge Plä­ne, aus Arbei­ter­vier­teln wer­den hip­pe Aus­geh­ge­gen­den, alles soll grü­ner wer­den. Bis­her gibt es eher ein­zel­ne Pres­ti­ge­pro­jek­te wie das neue Muse­um, doch auch in der Stadt fließt nun immer mehr zusam­men.

Ganz klar: Wer ein Ziel für einen unge­wöhn­li­chen, moder­nen und kul­tu­rel­len Städ­te­trip sucht, wird in Lyon fün­dig wer­den.

Mehr Informationen

Das Musée des Con­fluen­ces
Der Ein­tritt ins Muse­um kos­tet 9 Euro für Erwach­se­ne, nach 17 Uhr nur noch 5 Euro – das lohnt sich vor allem don­ners­tags, wenn das Muse­um bis 22 Uhr geöff­net ist. Stu­die­ren­de unter 26 Jah­ren und Inha­ber einer Lyon City Pass-Kar­te kön­nen das Muse­um kos­ten­los besu­chen. Mehr Infor­ma­tio­nen fin­det ihr hier.

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Antwort

  1. Avatar von Ellen

    Das sieht ja rich­tig cool aus! Vie­len Dank für den aus­ser­ge­wöh­li­chen Tipp. Das muss ich mir mer­ken!
    Herz­li­che Grüs­se
    Ellen

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