Losing my religion in Tokyo and finding it in Nagoya

Ich fing mir dank des Tai­funs eine Grip­pe ein und auf­grund mei­ner Hypo­chon­drie gleich eine Lebens­kri­se mit. Wer wuss­te schon, was ich hat­te, viel­leicht ging es jetzt dem Ende zu? Eng­li­sche Ärz­te waren außer Reich­wei­te. Und über­haupt, wie soll­te ich jemals hier leben kön­nen, wenn mir mei­ne lie­be Haus­ärz­tin so fehl­te? Es war, als wäre ich in zwei Tei­le gebro­chen, weil ich zu viel Zeit zum Nach­den­ken in einem klei­nen Hotel­zim­mer hat­te.

So über­quer­ten J. und ich, gegen Mit­tag end­lich fie­ber­frei, den Sum­i­da­ga­wa, dar­über spre­chend, ob man bestimm­te beruf­li­che Zie­le wirk­lich woll­te oder nur wol­len woll­te.

Unser Ziel für die­sen Tag war zunächst aller­dings ein Super­markt mit einer herr­li­chen Deli­ka­tes­sen­ab­tei­lung gegen­über des Sky­trees. Bun­te Lam­pi­ons in einer Sei­ten­gas­se erreg­ten mei­ne Auf­merk­sam­keit: „Hey, ob da heu­te noch ein Mats­u­ri statt­fin­det?“

Wie schön die Deko­ra­ti­on war! Ich stieß J. in die Sei­te, auf dass sie los­knip­sen möge. Kaum waren die Schnapp­schüs­se im Kas­ten und wir an der nächs­ten Ampel ange­kom­men, bemerk­ten wir, wie uns eine älte­re Dame auf der ande­ren Stra­ße vehe­ment zuwink­te.

„Hät­ten wir das jetzt nicht foto­gra­fie­ren dür­fen …?“, wun­der­te ich mich. Oder war das nur ein ver­spä­te­ter Fie­ber­traum? Wir deu­te­ten fra­gend auf uns, was die Dame nur zu noch mehr Nicken und Win­ken ani­mier­te. Und da wir ohne­hin über die Stra­ße muss­ten, blie­ben wir bei ihr dort ange­kom­men ste­hen.

„Kom­men Sie mit mir! Wie alt sind Sie? Was machen Sie beruf­lich?“ Wir ant­wor­te­ten begeis­tert, denn die­se Art von Kon­ver­sa­ti­on wie aus dem lang­jäh­ri­gen Japa­nisch­un­ter­richt erle­ben wir sel­ten. Über The­men­be­zo­ge­nes hin­aus (Hotel- und Ticket­re­ser­vie­run­gen, Essen bestel­len und kau­fen), fan­den bis­her alle Gesprä­che mit übungs­wil­li­gen Japa­nern auf Eng­lisch statt. Sie frag­ten von sich aus, wie lan­ge unser Urlaub daue­re, und waren ob der Men­ge an Tagen immer sehr erschro­cken.

Ganz die arg­wöh­ni­sche Deut­sche, war ich bei die­ser Plau­de­rei auf der Hut. Eine Kri­tik am Foto konn­te das ja nun nicht mehr wer­den. Ob wir jetzt ver­schleppt wer­den wür­den?

Wir wur­den in der Tat in den zwei­ten Stock eines Gebäu­des geführt, in einen kah­len Raum mit einer Art Altar, vor dem meh­re­re Stuhl­rei­hen auf­ge­stellt waren wie aus den bes­ten Busi­ness­ho­tel­räum­lich­kei­ten. So etwas schwan­te mir schon. Die unge­fähr zehn Japa­ner im Raum, die unun­ter­bro­chen vor sich hin mur­mel­ten, mach­ten mein Gefühl nicht bes­ser.

Uns wur­de eine jun­ge Japa­ne­rin vor­ge­stellt, in einem grau­en Pul­li und hell­blau­en Pli­sé­e­rock, die sehr gut Eng­lisch sprach. Beim Anblick ihres kur­zen, glän­zen­den Haa­res und ihres freund­li­chen Lächelns, war ich gleich etwas beru­hig­ter. Nichts­des­to­trotz umzin­gel­ten uns noch zwei wei­te­re älte­re Damen, die sogleich Gebets­ket­ten mit unse­ren Mit­tel­fin­gern ver­hak­ten.

„Lasst uns gemein­sam skan­die­ren!“, wur­den wir zum vor­herr­schen­den Sprech­chor auf­ge­for­dert. „Nam-myo­ho-ren­ge-kyo!“, nichts, was uns ein­fach so über die Zun­ge roll­te. Also wur­den wir eini­ge wei­te­re Male genö­tigt, da wir zu freund­lich waren, ein­fach auf­zu­ste­hen und zu gehen. Viel­leicht waren wir doch nicht so deutsch.

Das Ziel des Chants: uni­ver­sel­ler Frie­den.

Ich fühl­te mich alles ande­re als fried­lich. Der Zeit­plan des Urlaubs schien mich gera­de­zu am gan­zen Kör­per zu jucken. So viel zu tun! So viel zu sehen! Und statt­des­sen waren wir hier! Ich hat­te doch eh schon so viel Zeit ver­lo­ren durch mei­ne Grip­pe.

Den­noch blie­ben wir sit­zen. Und ein biss­chen neu­gie­rig war ich auch, wie es wei­ter­ge­hen wür­de.

„Wie ist das mit der Reli­gi­on in Deutsch­land?“, frag­te uns die jun­ge Japa­ne­rin. Viel­leicht hät­ten wir an die­ser Stel­le nicht so sehr ins Detail des hei­mat­li­chen Chris­ten­tums gehen sol­len, viel­leicht hät­te es auch nichts geän­dert, denn die Bot­schaft der Damen war ein­deu­tig: Nur die Leh­re des Nichi­ren Dais­ho­nin Bud­dhism sei die ein­zig wah­re. Auch der ein­zig wah­re Bud­dhis­mus gene­rell. Sein Grün­der wur­de 1222 in Japan gebo­ren und ihm waren die vie­len Gold­or­na­men­te vor uns gewid­met.

Spoo­ky. Gera­de hat­ten wir immer­hin ein wenig über den Sinn des Lebens lamen­tiert und nun wur­de uns ange­bo­ten, einer Reli­gi­on bei­zu­tre­ten, die das Leben auf die­ser Welt mit einem schlich­ten Man­tra bes­ser machen soll­te.

Man kön­ne uns auch via Sky­pe schu­len! Ein Blick zu J. ver­si­cher­te mir, dass auch sie sich frag­te, ob die Damen sich rein über die Pro­vi­si­on ange­wor­be­ner Mit­glie­der ihren Lebens­un­ter­halt finan­zier­ten, immer­hin war es mit­tags unter der Woche …

Eine der älte­ren Frau­en zog von irgend­wo­her ein Foto­al­bum, wäh­rend eine ande­re immer wie­der mei­nen Ober­arm berühr­te und nach­frag­te, ob wir es denn nicht den Foto­gra­fier­ten nach­tun woll­ten. Die­se hat­ten sich näm­lich bekeh­ren las­sen. Zum Bei­spiel ein paar Schwei­zer. Arme Schwei­ne – oder ernst­haft glück­lich?

Bis­lang war mir das japa­ni­sche Volk nicht als ein so unnach­gie­bi­ges auf­ge­fal­len. Nor­ma­ler­wei­se wur­de man ja ohne­hin kaum ange­spro­chen, außer, es ging um Wer­bung für Ramen­lä­den. Die Idee, dass die Freund­lich­keit eini­ger Japa­ner aus die­ser Reli­gi­on kom­men könn­te, fand ich inter­es­sant, aber so dafür ackern, ande­re auf den Pfad der Erleuch­tung zu lei­ten?

Und da inzwi­schen schon sehr viel Zeit ver­gan­gen war und mein Hun­ger mitt­ler­wei­le groß, beschloss ich, zu lügen, wir hät­ten Tickets für den Sky­tree, die wir ein­hal­ten müss­ten. Neu­gier­de hin oder her, wir hat­ten genug gese­hen!

Die son­der­ba­re Grup­pe an Frau­en ließ es sich nicht neh­men, uns hin­aus­zu­be­glei­ten und zu ver­ab­schie­den mit der Bit­te, bald zurück­zu­keh­ren. Inzwi­schen hall­ten die Trom­meln des Mats­u­ri zu uns rüber. Als wir uns wie­der in Rich­tung Sky­tree auf­mach­ten, bemerk­te ich, wie ein Mäd­chen hin­ter uns ange­quatscht wur­de.

„Weißt du, was lus­tig gewe­sen wäre? Wenn wir am Schluss das Foto von den Lam­pi­ons doch noch hät­ten löschen müs­sen.“

 

 

Sze­nen­wech­sel: Nago­ya, die Haupt­ein­kaufs­stra­ße wird hier mit Pop­mu­sik beschallt. Es war an die­sem Tag Mit­te Sep­tem­ber so son­nig, dass die Men­schen meter­weit von der Ampel ent­fernt ste­hen blie­ben, um dabei im Schat­ten zu blei­ben. Nach­dem wir uns aus­gie­big den Stadt­kern vor­ge­nom­men hat­ten – ich hat­te inzwi­schen mei­ne Grip­pe und den Jet­lag gleich mit über­wun­den –, mach­ten wir uns auf zum Ats­u­ta Shri­ne.

Noch wäh­rend wir unse­re Hän­de rei­nig­ten an der dafür vor­ge­se­he­nen Wasch­stel­le, fiel mir ein Hahn ins Auge. Und ein älte­rer Japa­ner, der die­sen füt­ter­te. Als wir uns über das Tier unter­hiel­ten, „Ist 2017 nicht das Jahr des Hahns?“, fiel dem Her­ren unse­re Spra­che auf: „Ihr seid aus Deutsch­land?“

Und schon zähl­te er uns die deut­schen Tech­no­lo­gie­fir­men auf, für die er gear­bei­tet hat­te. Und die Städ­te, die er dadurch besucht hat­te. Ich hat­te mein Buch „Matsch-Memoi­ren“ über Fes­ti­vals im deutsch­spra­chi­gen Raum geschrie­ben und J. die Tech­nik auf deut­schen Con­ven­ti­ons gemacht und den­noch hat­ten wir deut­lich weni­ger von unse­rem Land gese­hen als er!

„Wo seid ihr genau her?“

„Mün­chen!“

Er zog sei­nen dunk­len Leder­geld­beu­tel her­vor: „Den habe ich bei Kauf­hof am Mari­en­platz gekauft!“

Ungläu­big sahen J. und ich uns an.

Der älte­re Herr, der neben dem Ats­u­ta Shri­ne wohn­te, beschloss daher, uns eine Füh­rung zu geben, als Dank für Okto­ber­fest, Eng­li­scher Gar­ten und Erdin­ger Weiß­bier. Nicht, dass wir mit die­sen baye­ri­schen Kul­tur­gü­tern per­sön­lich etwas zu tun gehabt hät­ten.

Es war auch Zeit, los­zu­ge­hen, denn inzwi­schen fie­len die blut­saugen­den Insek­ten über uns her, wie so oft, wenn wir uns in einer Tem­pel­an­la­ge auf­hiel­ten. Die­ses Mal fehl­te mir jeg­li­che Über­vor­sicht, ich ließ mich neu­gie­rig trei­ben.

„Wir sind ihr Abend­essen!“, unter­mal­te er mein Schla­gen gegen mei­ne Unter­schen­kel. Blut rann aus mei­ner bren­nen­den, jucken­den Haut, auf mei­ne dün­ne Strumpf­ho­se. Mos­qui­to­lei­chen säum­ten bald mei­nen Weg. Einen mora­li­schen Kom­men­tar hat­te unser neu­er Freund dafür zum Glück nicht parat.

Auch die Bei­ne von J. waren bald mit geschwol­le­nen Beu­len deko­riert, doch wir bis­sen höf­lich die Zäh­ne zusam­men. Denn sei­ne im Sau­se­schritt durch­ge­führ­te Tour war extrem inter­es­sant, so erklär­te er uns zum Bei­spiel den Hin­ter­grund eini­ger bun­ter Gir­lan­den aus unzäh­lig anein­an­der gereih­ten Ori­ga­mikra­ni­chen. „Sie sol­len den jun­gen Frau­en Kin­der­se­gen brin­gen!“

Der Schin­to­is­mus hat weder einen Grün­der, noch eine Hei­li­ge Schrift – wenn­gleich man doch die „Koji­ke“, die Auf­zeich­nung der Alten Geschich­te, sowie „Nihon­gi“, die Chro­nik Japans, als wich­ti­ge Tex­te aus der Zeit um 700 zäh­len kann. Die Reli­gi­on „darf“ mit einer zwei­ten Reli­gi­on aus­ge­übt wer­den, was für die fried­li­che Koexis­tenz ver­schie­de­ner Reli­gio­nen in Japan spricht. Soviel zum ein­zig wah­ren Bud­dhis­mus. Eine Art Altar mit ähn­lich trau­ri­gen Stüh­len davor wie zuvor in Tokio gab es hier übri­gens auch – nur deut­lich prunk­vol­ler.

Eigent­lich ist aber das Wich­tigs­te die Natur. Die­se ist hei­lig. Ein Kon­takt mit ihr bedeu­tet Kon­takt mit den Göt­tern, den Kami.

Unser neu­er älte­rer Freund freu­te sich sicht­lich dar­über, uns sei­ne Kul­tur näher­brin­gen zu kön­nen. Er wies auf den Wald rings­her­um: „Die Bäu­me in der Tem­pel­an­la­ge reprä­sen­tie­ren die Facet­ten der japa­ni­schen Gesell­schaft. Jeder ist indi­vi­du­ell, ver­biegt sich mehr oder weni­ger, um sich anzu­pas­sen. Eini­ge spen­den Schat­ten, ande­re wach­sen, wie es ihnen gefällt, ohne Rück­sicht auf ihr Umfeld.“

Wäh­rend wir ihm folg­ten, dach­te ich an ein Inter­view zurück, dass ich mit der japa­ni­schen Rock­mu­si­ke­rin Haru­ka für anim­ePRO geführt hat­te: „Ich möch­te, dass die­se Welt fried­li­cher wird. In den letz­ten Jah­ren spür­te ich einen star­ken Drang, über sozia­le Pro­ble­me durch mei­ne Musik zu spre­chen.“

 

 

Einen ähn­li­chen Tenor hat­te der Singer/​Songwriter Fut­a­ri, den wir 2016 live in Hiro­shi­ma erlebt hat­ten, in mei­nem Inter­view für Kon­eko ange­schla­gen: „Ich glau­be an die Kraft von Musik und dass die Men­schen Hand in Hand gehen kön­nen, was die Welt mit lächeln­den Gesich­tern erfül­len wür­de.“

Es moch­te sehr nach Hip­pie klin­gen und den­noch wur­de mir in die­sem Moment bewusst, wie wenig das die deut­sche Popu­lär­mu­sik antrieb. Oder gene­rell, die meis­ten Deut­schen.

Dabei ver­pass­te ich fast, wie er die Funk­ti­on der vie­len Häus­chen erklär­te. Im „Ats­u­ta-jin­gū“ wird angeb­lich das Kusa­na­gi-no-tsu­ru­gi, das hei­li­ge Schwert und eines der drei Thron­in­si­gni­en Japans, auf­be­wahrt. Ja, das Space Sword aus „Sail­or Moon“, ganz recht. Das hat­te ich als ein­ge­fleisch­ter Fan noch nicht ein­mal ein­ge­plant. Auch so konn­te es lau­fen.

Wir pas­sier­ten eines der vie­len Torii – ein röt­li­ches Tor, bestehen­den aus zwei waa­ge­rech­ten Bal­ken, wobei sich der obers­te gen Him­mel wölbt. Bei die­sem Ein­gang zur Tem­pel­an­la­ge lüpf­te der Herr sei­ne Schie­ber­müt­ze mit den Wor­ten „Bye-bye God“, und wir mach­ten uns auf den Weg zurück.

„Immer, wenn ich in Leip­zig bin, ver­beu­ge ich mich vor der Sta­tue von Johann Sebas­ti­an Bach“, erzähl­te er uns. Er bewun­de­re den Kom­po­nis­ten – aber er lie­be auch Hele­ne Fischer.

Da waren wir wie­der beim feh­len­den Hip­pie­tum.

Nach dem schnel­len Fuß­marsch über das Gelän­de waren wir fast blut­leer, aber eine Sache war mir klar gewor­den: Es war okay, sich ein­zu­las­sen auf Men­schen und Ereig­nis­se. Es führ­te zu Geschich­ten, die man erzäh­len konn­te. Man konn­te nicht immer alles pla­nen, schon gar nicht eine Rei­se in so ein gewal­ti­ges Land. Ich hat­te es in den Mona­ten zuvor über­trie­ben. Wie eine Beses­se­ne gear­bei­tet. Nun war es Zeit, bei mir zu sein und vor allem auch zu blei­ben.

Bei mei­nem ers­ten Besuch in Japan fühl­te ich mich ange­kom­men. Bei mei­nem zwei­ten fand ich mich selbst.

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  1. Avatar von Su Ju

    Sehr schö­ner Bei­trag über Tokyo und Nago­ya. Nago­ya habe ich lei­der noch nicht besucht. Aber es steht auch noch auf mei­ner To-Do-Lis­te. Aber ich möch­te mei­nen Glau­ben auch behal­ten. Viel­leicht ist es auch bes­ser das ich noch nicht da war…
    Gruß Su Ju

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