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Leka, zwei Stunden nördlich von Trondheim gelegen, ist eine der kleinsten unabhängigen Kommunen Norwegens. Damit das so bleiben kann, muss sich die Insel dem Tourismus öffnen. Zuständig ist eine 20-Jährige.
Als die ersten kalten Bugwellen der Fähre gegen die Kaimauer schwappen, wirft Marie einen Blick auf die Uhr. Es bleiben 30 Minuten für die Zukunft der Insel, die in der Ferne grünlich schimmert. Auf Plastikbänken verstreut sitzen französische Rentner, ein norwegisches Paar, ein bärtiger Wanderer. Marie atmet tief ein. Es ist ihr, als schauten ihr 570 Gesichter über die Schulter.
Wie wäre es mit einem Tipp für die Erkundung der Insel? Aber gern, wie aufmerksam.
Jeden Tag kreuzt die Fähre zwischen dem Festland und der Insel. Sie transportiert Holz, Wasser, Gemüse, Post, Tierfutter, Pendler, manchmal auch Touristen. Und Marie. Die soll den Besuchern und denen, die nur zufällig hier sind, weil sie wandern oder angeln wollen zeigen, dass Leka einzigartig ist, damit es sich herumspricht. Aber eigentlich verirren sich nicht viele Touristen auf die Insel, die versteckt hinter der zerklüfteten Küste liegt, 300 Kilometer von Trondheim, zwei Stunden abseits der Autobahn, an den Fjorden entlang, was einzigartig schön ist, aber auch schrecklich umständlich. Eigentlich kommen in die Trøndelag-Region sowieso wenig internationale Gäste, 2015 waren 80 Prozent der Besucher Norweger, dabei stieg die Zahl der Norwegen-Touristen aus dem Ausland um zwölf Prozent. Die meisten von ihnen wollen Nordlichter, Oslo, die Lofoten sehen.
Leka könnte für ihre Wander- und Angelreviere bekannt sein, für die imposanten Felsformationen im Westen der Insel, für ihre Bedeutung in der Geschichte Norwegens. Stattdessen fahren ihr die Bewohner mit der Fähre davon und kommen nicht wieder. Nicht, weil sie die geschwungenen Kornhügel mit den vereinzelt hingeklecksten roten Häusern, die kräftigen Kühe und das Krähen der Möwen über den Fischerbooten leid wären. Oder die Einschränkungen. Wer auf Leka lebt, hat zwei Supermärkte zur Auswahl, ein Restaurant, ein Pub, einen Arzt, einen Leuchtturm. Schwerer wiegt, dass nicht genug Arbeit da ist. Vor 30 Jahren lebten auf der Insel 1000 Menschen, heute sind es 570, viele von ihnen sind alt. Jetzt soll der Tourismus die Verlorenen zurückholen, damit die Insel wächst und unabhängig bleiben kann. Zuständig dafür ist Marie Thorsen, 20 Jahre, Psychologiestudentin.
Es begann mit einem Brief an den König. „Ein Hilferuf der kleinen Kommunen Norwegens“, sagt die junge Frau mit den blonden Haaren, die wie ein Mädchen aussieht und wie jemand spricht, der schon alles erlebt hat. Es war vor sechs Jahren, als immer mehr Menschen wegzogen. Die Bewohner schimpften auf den Staat, der nach ihrer Ansicht die Kommunen unzulänglich finanzierte. Marie war 14 und „politisch engagiert“, sagt sie und lächelt dabei, denn politisch zu sein ist auf Leka rühmlich. Also schrieb sie an den König. Als Antwort wurde sie ins Parlament der Provinz Nord-Trøndelag eingeladen. Für die Insel wurde ein Finanzplan aufgestellt. Der Name des Mädchens, Tochter von Venke und Helge, war auf einmal der Bekannteste der Insel.
Es ist Sommer, als Marie sechs Jahre später zum ersten Mal die Fähre betritt, ohne ans andere Ufer zu wollen. Es ist die Zeit der Sommerferien, der längsten Tage, an denen die Sonne, kaum ist sie untergegangen, schon wieder über dem Festland zum Vorschein kommt. Bergen, die Universität und das Psychologiestudium sind weit entfernt. Der Bürgermeister hat sie darum gebeten, also steht sie jetzt jeden Tag auf der Fähre. „Hei hei“, sagt Marie. „Is there anything I can do for you?“ Sie spricht in einem selbstverständlichen Englisch, aus Fernsehserien und Urlauben zusammengetragen, von ihrer Insel: von den ungewöhnlichen Felslandschaften im Westen, wo beim Zusammenstoß tektonischer Platten vor 400 Millionen Jahren Gestein an die Oberfläche kam, das gelblich glänzt und in Europa einmalig ist. Wo es kaum Bäume und Blumen gibt, dafür urzeitlich aussehende Schafe und das schönste Abendlicht der Trøndelag-Region. Sie erzählt die Sagen der Insel, die von Kinderstehlenden Adlern handeln und von schönen Frauen, die auf der Flucht vor gierigen Königen zu Stein erstarrten. Dass ein Adler vor 100 Jahren ein Kind davongetragen hat, davon sind alle auf Leka überzeugt, schließlich vertrauen sie ihren Augenzeugen.
Weil auf der Insel der Wille der 570 zählt, besucht Marie nach ihrem ersten Dienst die Bewohner. Die Chefin des Restaurants, das einmal ein Kino war und dann ein Jugendhaus, bevor es nicht mehr genug Kinogänger auf Leka gab und kaum noch Jugendliche. Die weißhaarige Bäckerin im Haus mit dem Schild „Ednys Bakeri“. Den Barbesitzer im „Herlaugshagen Pub“ an der großen Kreuzung, dem mürrischsten Mann der Insel. Den Bürgermeister, der ihr auf die Schulter klopft und viel Erfolg wünscht.
Greta Granås, einsachtzig groß und stämmig, Chefin des Lekamoya Restaurants, in dessen mit Porzellanfiguren und Landschaftsgemälden dekoriertem weitläufigen Speisesaal bisher vor allem Hochzeiten und Beerdigungen begangen werden, sagt: „Wir brauchen Menschen mit Ambitionen.“
Edny Aune, die weißhaarige Bäckerin, steht vor der Tiefkühltruhe, in der ein Großteil ihrer Zimtschnecken landet, und sagt: „Wir müssen den Menschen etwas bieten. Gebäck ist ein Anfang.“
Der Barbesitzer Åsmund Aune, der im Unterhemd hinter dem Tresen seines leeren Pubs Rechnungen sortiert, sagt: „Was zählt ist, dass wir es alleine schaffen. Und dass mein Bauantrag bewilligt wird.“ Er will ein größeres Pub bauen, das bisherige könnte zu klein werden, wenn die Touristen erst kommen.
Dann gehen alle wieder an die Arbeit und es wird still, so still, wie ein Sommertag nur an einem Ort wie Leka sein kann. Nach Maries Brief an den König ging es der Insel erst besser, dann wieder schlechter. Seit den letzten staatlichen Wahlen regieren die Konservativen. Sie planen, die regionalen Strukturen zu vereinfachen, aus 428 Kommunen 100 zu machen. Auf Leka soll eine Abstimmung im Parlament zeigen, dass die Insel nicht Außenposten einer Festlandkommune sein will.
Per Helge Johansen, der Bürgermeister, der selbst einmal Bauer war und dessen Frau für ihn auf die Insel gezogen ist, um Kühe zu melken, sagt: „Wir müssen jetzt zusammenhalten und Stärke beweisen.“
Am Abend vor der Abstimmung über die Unabhängigkeit, als der Wind von der offenen See über die Felder streift, stellt sich Per Helge Johansen wie so oft an den Rand seines Ackers, um den Hurtigruten nachzuschauen. Zweimal täglich wälzen sich die Schiffe, Symbole der touristischen Entwicklung Norwegens, durch den eineinhalb Seemeilen breiten Streifen Wasser zwischen Leka und dem Festland, eines in Richtung Süden, eines auf dem Weg in den Norden. Dann überlegt der Bürgermeister, wie es wäre, wenn die Hundertschaften nicht ein paar Kilometer weiter im pittoresken Rørvik an Land gehen würden, sondern im Hafen von Leka.
Es gibt viele Inseln dieser Größe an der norwegischen Küste, aber nur zehn sind wie Leka unabhängige Kommunen. Mit dem Kampf für die Eigenständigkeit haben die Bewohner Erfahrung, jeden Tag erinnert sie ein grün bewachsener, formloser Hügel zwischen dem Pub und dem Hafen daran. Darunter liegt der Vikingerkönig Herlaug. Herlaug regierte die Insel, als Harald, der erste König Norwegens, mit einer Armee aus dem Süden kam und die Küste Stück für Stück eroberte. Weil Herlaug sich ihm nicht ergeben wollte, ließ er eine Festung errichten und einen Berg darüber aufschütten. Darin verschanzte er sich und kam nicht mehr heraus. Seit zwei Jahren führt ein beleuchteter Weg um den Grabhügel. Marie hat ihre Abschlussarbeit über Herlaug geschrieben. „Damals war Leka einer der mächtigsten Orte Norwegens“, erzählt der Bürgermeister gern. Und, dass er sich manchmal wie Herlaug fühlt, aber dazu lacht er laut, um nicht vermessen zu klingen. Vermessenheit ist auf der Insel unrühmlich.
Am Tag der Abstimmung hat Marie morgens eine Reisegruppe mit 20 norwegischen Pensionären unterhalten. Mittags fährt sie sechsmal mit der Fähre hin und her und erzählt Wanderern vom Reiz der Insel. „Wie in Alaska, weißt du noch“, raunt eine Französin ihrem Begleiter beim Anblick der schroffen, vom Wasser umspielten Felsen zu. Marie erzählt die Herlaug-Sage und ein paar andere. Sie kann mit den Touristen, sagen die Bewohner, die selbst manchmal ein wenig scheu sind, wenn ihnen jemand zum ersten Mal über den Weg läuft. Was selten vorkommt. Es gibt nur eine Asphaltstraße auf der Insel, einspurig, die sich wie ein Ring um die felsigen Höhenlagen schließt. Wenn sich darauf zwei Autos begegnen, muss eines am Straßenrand halten, dann winken beide.
Auf ihrem Nachhauseweg kommt Marie am Rathaus vorbei, das flach und rot an der Ringstraße liegt. Sie kommt am Lekamoya-Restaurant vorbei, wo Greta in einer roten Schürze und in die Hüften gestemmten Händen in der Einfahrt steht. Wie viele Bewohner Lekas hat Greta eine Weile auf dem Festland gelebt, war in Spanien und Schweden. „Aber nirgendwo habe ich die Freiheit gefunden, die ich hier spüre“, hat sie Marie erklärt. Einen Schuppen neben dem Haus will sie zum Antiquitätenladen ausbauen, ein paar Meter weiter sollen mongolische Jurten stehen. Glamping sei wahnsinnig im Kommen, hat Greta gehört. Und wenn erst das begehbare Vikingerboot da sei, werde es schon laufen.
Marie hält Gretas Ideen für etwas übertrieben. Aber alle, die eine Weile fort waren und zurückkamen, haben etwas daraus gemacht. Auch Gro Sørli, die rothaarige Lehrerin, die 20 Jahre in Nomsos und Trondheim gewohnt und auf dem Festland schließlich einen Mann von der Insel geheiratet hat. Als sie vor acht Jahren zurückkam, hat sie die Pension Leka Brygge aufgemacht, die umgeben von Fischerbooten am Wasser liegt. Wenn es Abend wird, stehen die Angler, einzelne Gäste aus Deutschland, Polen und Norwegen, auf dem Steg und werfen den Möwen Fischreste zu. Sie braucht Marie nicht mehr zu überzeugen: Sie finden, dass es sich nirgends stilvoller angeln lässt als auf Leka. An Menschen wie Gro denkt Marie, wenn sie überlegt, wie es wäre, nach dem nächsten Semester nicht auf die Insel zurückzukommen. Wie es wäre, in Bergen einfach das zu tun, worauf sie gerade Lust hat, immer wieder Neues zu entdecken, wie die anderen Studenten. Ein kleiner Ort voller Hoffnungen bleibt ein kleiner Ort.
Es ist später Nachmittag, Marie kommt an der Schule vorbei, die auch ihre Schule gewesen ist, bevor sie wie die meisten anderen Jugendlichen auf ein Festland-Gymnasium gegangen ist. Eine Gruppe ausländischer Jugendlicher spielt auf dem Sportplatz mit den Schulkindern Fußball. Zehn aus Afrika geflüchtete junge Männer hat Leka aufgenommen, die Bewohner sind stolz auf sie wie auf die Iren, Schweden und Philippiner, die sich vereinzelt auf der Insel niedergelassen haben. Nicht weit von der Schule verläuft der Fußweg zu einem Felsen, der an die Saga einer zu Stein gewordenen Frau erinnert, ein klassischer Ort für Besucher. Es sind wieder einmal keine Touristen zu sehen, als Marie vorbeikommt. Dafür zwei Inselbewohner mit Wanderstöcken, die fröhlich winken.
Naja, sagt sich Marie. Daran arbeiten wir noch.
Als sie an Edny’s Bäckerei vorbeikommt, riecht sie, dass es nicht mehr duftet und sieht, dass es kein Brot mehr gibt. Der Reisegruppe hatte sie am Morgen gesagt, sie könne den ganzen Tag lang Brot bei Edny kaufen. Auch im Pub, das sie den Besuchern für das Abendessen empfohlen hat, sind die Stühle hoch gestellt.
Naja, sagt sich Marie, daran arbeiten wir noch.
Manchmal versucht sie den Bewohnern der Insel zu erklären, dass sich noch vieles ändern muss, wenn sich Leka öffnen will. Dass zu wenige von ihnen Englisch sprechen und eine Website auf Norwegisch nicht reicht, wenn man Gäste willkommen heißen will. Dass den Jungen auf der Insel mehr geboten werden muss, wenn sie bleiben sollen. „Du kannst ja nicht tagein, tagaus Fußball spielen“, sagt Marie. Sie spricht mit dem Barbesitzer, wenn sich Besucher bei ihr darüber beschweren, dass seine Bar am frühen Abend verlassen in der Sonne steht. Aber andere zu bedrängen, ist auf Leka unrühmlich.
Es ist Abend geworden. Das Parlament hat entschieden, 14 von 16 Stimmen für die Unabhängigkeit der Insel, auch viele andere Kommunen Norwegens haben sich gegen die Zusammenlegung ausgesprochen. Die Entscheidung der Regierung in Oslo steht noch aus. Der Bürgermeister fährt nach Hause, um nach den Hurtigruten-Schiffen zu sehen. Die Fähre macht ihre letzte Tour. Möwen belagern die Straße, die zum Hafen führt, sitzen auf dem warmen Asphalt und krähen. Nach einer kurzen, stillen Nacht wird Marie wieder auf die Fähre gehen und von ihrer Insel erzählen. Bergen und das Psychologiestudium sind weit entfernt.
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kann ich auf leka camping machen
Sehr schoene Artikel, gerade entdeckt:-)Kompliment:-)
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