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Wir sind gerade ein Mal um unseren halben Planeten gereist. Es ist Anfang 2020, und ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemals unmöglich war oder jemals unmöglich sein wird. Jetzt sind wir an einem tropischen Strand in Costa Rica und schwitzen uns die Seele aus dem Leib, und vor weniger als 10 Tagen waren wir in der Schweiz Schlitten fahren. Das ist eine Reisegeschwindigkeit, bei der meine Seele nur hinterherhinken kann.
Wir, das sind mein Mann und unsere zwei kleinen Mädchen, 4 und 2 Jahre alt. Auf unserer Langzeitreise versuchen wir Langstreckenflüge zu vermeiden. Am liebsten laufen wir durch die Gegend, oder hangeln uns von Dorf zu Dorf. Aber wer von Europa nach Amerika will, dem bleibt wohl nicht viel anderes übrig, als in ein Flugzeug zu steigen. Deshalb haben wir ganz geschickt unsere Route gesplittet und bleiben an den Zwischenstationen mehrere Tage. Das soll mit Kindern ganz hilfreich sein, dachten wir uns. Und für unsere Gemüter auch, denn nach menschenreichen Tagen voller Unternehmungen wollten wir zwischendurch einfach Zeit zum Schlafen haben. Schweiz, Mailand, Barcelona, New York, San José. Wir planen sonst nicht viel auf unserer Reise, aber diesmal haben wir alles im Griff: Wir wissen, wann wir wo ankommen, wo wir schlafen, und haben alle Tickets. Da kann ja nichts mehr schief gehen bei so einer Überfahrt, denken wir uns. Und das Leben lächelt heimlich über unsere Naivität.
Als wir im Zug von der Schweiz nach Mailand sitzen, fühlt sich alles noch so locker an. Unsere zwei Töchter schlafen beide auf den gemusterten Zugsitzen, und der Flug von Mailand nach Barcelona ist völlig entspannt. Auch, als wir um Mitternacht durch den spanischen Flughafen irren, nur, um festzustellen, dass der letzte Zug schon abgefahren ist, machen unsere Kinder gute Miene zum bösen Spiel und rennen fröhlich durch erleuchtete Flughafenhallen. Ein Taxi bringt uns in einen Außenbezirk von Barcelona. Es ist eine kleine Wohnung direkt an einer riesigen Dachterrasse, und die nächsten Tage sind gefüllt von gutem Essen, der wärmenden Januarsonne und guter Musik. Wir alle genießen die kleine Pause auf unserer Reise, die uns schon durch viele Länder und zu vielen Menschen geführt hat.
Ich nutze die Zeit, um innerlich von Europa Abschied zu nehmen. Wir wissen nicht, wie lange wir unterwegs sein werden. Reise ohne Rückflugticket. Jetzt sind wir mehrere Monate durch Europa gezogen, und ich habe die Nähe zu vertrauten Menschen doch genossen. Wie wird es sein, wenn wir so ganz weg sind? Ich denke daran zurück, dass ich eigentlich schon längst weg wäre. Denn wir hatten einen Flug gebucht, der uns schon vor Weihnachten nach Mittelamerika bringen sollte. Doch dieser Flug war mit einer Airline von Thomas Cook gebucht, und irgendwann lasen wir auf einem dieser unseriösen Nachrichtenportale, dass Thomas Cook pleite war. ´Tja, dachten wir uns. Einen neuen, günstigen Flug heraus zusuchen – dafür waren wir direkt danach zu faul. Und so beschlossen wir, einfach über Weihnachten Familie und Freunde zu besuchen, und dann im neuen Jahr einen erneuten Anlauf zu starten. Es fühlte sich genau richtig an. Aber auch ein bisschen so, als würde mich Europa nicht gehen lassen wollen. Als wäre ich irgendwie fest gekrallt in einen Kontinent. Doch die Krallen spüre ich nicht, hier in Barcelona auf der Dachterrasse. Abends streifen wir über die Spielplätze, lächeln lächelnden Menschen zu und freuen uns an wilden Papageien. Die Sonne ist leicht und das Leben eine Schüssel voller Magdalenas.
Morgen Abend geht unser Flug nach New York. Freunde werden uns dort am Flughafen abholen und mit in ihr Waldhaus außerhalb der Großstadt mitnehmen. Wir freuen uns darauf, sie zu sehen, auch wenn wir nur kurz bleiben und dann unseren Anschlussflug nach Costa Rica nehmen. Mit dem Gedanken an Schnee, Natur und eine gute Gemeinschaft setzen wir uns nachmittags an den PC, um online einzuchecken. Doch auf der Webseite der Airline steht nur: „Ihre Flugzeiten haben sich verändert. Sie können nicht einchecken.“ Und es dauert eine Weile, bis wir entdecken, was passiert ist. Der Flug wurde um einen Tag nach hinten verschoben. Einfach so. Wir durchforsten panisch unsere E‑Mails, ob wir etwas übersehen haben. Keine Mail. Keine Ankündigung, nichts. Wir sitzen hier in Barcelona, haben einen schönen Plan, wann wir wohin reisen, und jetzt hat einfach eine höhere Macht beschlossen, sich da einzumischen. Wir fluchen, patzen uns an und setzen die Kinder hektisch vor einen Fernseher. Es braucht ein paar Stunden Stress, Anspannung und Recherche, bis wir verstehen, dass diese Flugänderung nicht das Ergebnis eines Schneesturms, sondern eine ökonomische Sparmaßnahme der Fluggesellschaft ist, die schon vor einem Monat in Kraft trat. Wenn der Flug nicht voll wird, dann wird er halt gestrichen. Und uns hat halt niemand Bescheid gesagt. Die Krallen, sie drücken fest zu.
Nachdem wir das verstanden haben, geht der Stress weiter – wir sind einen Tag länger in Barcelona (wo schlafen wir?) und einen Tag weniger in New York (was sagen unsere Gastgeber dazu?). Wir werden weniger als 36 Stunden auf amerikanischem Boden sein – lohnt es sich wirklich, dass unsere Freunde dafür stundenlang durch Wald fahren und niemand zu seinem Schlaf kommt? Wir beschließen alle – nein, das ist es nicht wert. Und wir suchen nach anderen Lösungen. Ein Freund sagt spontan zu, dass wir bei ihm in Barcelona die eine Nacht in seiner WG schlafen dürfen. Und eine Freundin aus New York hat uns angeboten, dass wir auf ihrer Couch nächtigen können – sie wohnt nicht weit vom Flughafen. Einmal mehr lächeln unsere Herzen vor Dankbarkeit. Doch dazu mischt sich die Sorge, ob überhaupt alles klappt. In New York ist gerade Schneesturm, und viele Flüge können gar nicht landen. In Barcelona ist gerade ein Orkan und wir wissen noch nicht, ob unser Flug wirklich ablegen kann. Der Airline, die uns ja noch nicht einmal über die Umbuchung Bescheid gesagt hat, trauen wir mittlerweile auch zu, dass unser Flug nur imaginiert ist und gar nicht existiert. Ich spüre die Kralle, und zwar am Hals.
Wir verbringen einen windigen, schönen Tag mit unserem Freund in Barcelona. Er hat ein Skateboard, und mit dem navigieren wir unsere Tochter am Strand entlang und verbringen alle einen schönen Tag zusammen. Nachmittags streifen wir durch das Schiffsmuseum. In Barcelona wurden früher viele Schiffe hergestellt. Unsere Töchter bestaunen große Fässer und riesige Ruder. Wir tauchen ein in eine Zeit, in der es noch Galeerenschiffe auf dem Mittelmeer gab. Jedes Fortkommen, jeder Meter Geschwindigkeit war das Ergebnis harter Arbeit. Ich muss schlucken.
Und dann geht es um die Schiffe, die zuerst Soldaten, Eroberer und dann Auswanderer in die neue Welt brachten. Genauer gesagt nach New York. Menschen, die die Krallen Europas hinter sich lassen wollten. Ohne Rückfahrt. Einige dieser Schiffe wurden genau in der Halle gefertigt, in der wir stehen. Und ich muss wieder schlucken.
Eine Überfahrt war
der Mut der Menschheit, an Orte zu kommen, die ihnen die Natur verwehrt
die Hoffnung auf ein besseres Leben, die willentlich für das Risiko blind ist
und
leise Angst.
Wochenlang dümpelten Menschen aller Klassen und Nationen auf Schiffen über Wasser, in dem sie nie überleben könnten, wenn es drauf ankäme. Sie mussten gedanklich hinterher kommen, dass sie sich in einer rasenden Geschwindigkeit ihren Träumen näherten. Ohne zu wissen, was unterwegs alles passieren würde. Verrückte Menschheit.
Wenige Stunden nach diesen Eindrücken stehen wir am Flughafen, der nur ein paar Kilometer von den Schiffen entfernt ist. Alles klappt gut, und trotz heftigen Winden sitzen wir pünktlich in unseren Sitzen, angeschnallt und bereit. In rasender Geschwindigkeit nähern wir uns unseren Träumen. Die Strecke, die Galeerenhäftlingen erspart blieb, die Auswanderer mehrere Wochen in einem Schiffsbauch ausharrten, legen wir in einer Nacht zurück. Wir rasen um den Planeten, und der Nachmittag in einem Schiffsbauch erinnert mich daran, wie verrückt das ist. Wir kommen müde in New York an, und legen uns voller Dankbarkeit auf die Couch unserer Gastgeber. Unsere Körper sind angekommen, aber die Gedanken haben es nicht geschafft. Sie schwimmen noch kurz vor Barcelona.
Wir haben genau einen Tag Zeit in New York. Es ist kalt und sonnig, ein eisiger Wind weht durch die Straßen von Manhattan. Unsere Zeit ist gefüllt – wir treffen Menschen, laufen, sehen so viel wie möglich, und haben keine Zeit, uns müde zu fühlen oder etwa abgehängt. Es ist diffus wie ein Traum.
Unsere Kinder sind wie auf Droge. Es ist ein bisschen wie Weihnachten für sie – wenig Schlaf, viel Zucker, die Erwachsenen wollen ständig miteinander reden – und dementsprechend sind sie weinerlich, hyperaktiv und anstrengend. Sie werden morgens um 4 Uhr wach – in einer hellhörigen Zweizimmerwohnung – und dürfen so viel Peppa Wutz schauen wie noch nie in ihrem Leben. Zum Glück stehen wir in der nächsten Nacht sowieso früh auf, um wieder zum Flughafen zu fahren. New York ist für uns nur Zwischenstation. Und während unser Herz versucht, mit Schnee, Großstadt und den Menschen hier warm zu werden, steigen wir in einen Flieger mit gut gelaunten amerikanischen Rentnern und fliegen über Florida nach Costa Rica. Nur sind wir nicht mehr gut gelaunt – wir sind einfach nur noch fertig. Die Geschwindigkeit ist Wahnsinn. Vor wenigen Tagen noch mit vertrauten Menschen, auf einem Kontinent, auf dem wir uns auskennen, und jetzt unter unserem Flugzeug völliges Neuland.
Als wir in San José, der Hauptstadt von Costa Rica, ankommen, ist die Fremdheit greifbar. Es riecht nach Feuchtigkeit, die Farben springen uns förmlich an, die Menschen betrachten uns aus höflichem Nichtinteresse. Wir sind aber gar nicht mehr aufnahmefähig. Essen, Schlafen. Das sind unsere Bedürfnisse. In einem schön gelegenen Hostel nahe der Innenstadt gehen wir diesen Bedürfnissen nach und schlafen so viel, wie es mit Jetlag möglich ist. Morgens sind zwei kleine blonde Mädchen um 4 Uhr morgens wach. Peppa Wutz auch.
Wir machen wieder einen Tag Pause, gehen einkaufen, besorgen uns Internet auf dem Handy (der Kompass der heutigen Entdecker), essen und schlafen wieder. Und wissen: der nächste Tag wird heftig. Denn wir haben eine Unterkunft im Süden des Landes gefunden. Direkt am Strand, da wollen wir hin und erst einmal herunterfahren. Wir wissen von den Fotos, es wird es wert sein, all diese Reiserei auf sich genommen zu haben, aber der letzte Abschnitt bereitet uns noch einmal Bauchschmerzen.
Pünktlich zur regulären Peppa Wutz-Zeit setzen wir uns in den vollen Bus, der uns in den Süden fährt. Ich atme auf – jetzt ist wenigstens das Reisetempo angemessen. Wir düsen nicht über Länder und Ozeane, nein, wir stehen im Pendlerverkehr von San José. Es geht langsam voran, und wir betrachten in Ruhe die vorbeiziehenden Häuser und Bäume. Je weiter wir aus der Stadt kommen, desto dichter wird der Urwald, wir sehen Krokodile und bunte Vögel. An diese Geschwindigkeit könnte ich mich gewöhnen und gemütlich aus dem Fenster schauen, aber unsere Kinder sind nach den vielen Tagen unterwegs einfach fertig. Sie sind müde, können nicht schlafen, haben Hunger, wollen den Proviant aber nicht essen, wollen kuscheln, aber keinen Körperkontakt. Nach wenigen Stunden schon fragen wir uns, wann wir endlich ankommen, und wissen, wir werden fast den ganzen Tag in diesem Bus sitzen.
Man hat uns gesagt, dass wir an der Endhaltestelle aussteigen sollen. Es ist so weit – am Nachmittag endlich gibt uns der Busfahrer ein Zeichen, dass wir den Langstreckenbus verlassen können. Wir steigen aus und versuchen uns zu orientieren. Die tropische Hitze lässt meine Brille beschlagen. Wir sind in einem kleinen Örtchen an der Küste gelandet. Eigentlich sind es nur wenige Kilometer von hier zu der Halbinsel, auf der wir bleiben wollen, aber weil es keine direkte Straße gibt, muss man ganz außen herumfahren. Nach kurzer Zeit stellen wir fest, dass wir falsch ausgestiegen sind – es hätte eine andere Haltestelle gegeben – und unsere Weiterreise deshalb ein wenig komplizierter wird. Und wir nicht mehr viel Zeit haben, denn der letzte Bus in Richtung unserer Unterkunft fährt in einer Viertelstunde ab. Wieder Hektik. Ein hilfsbereiter Mitarbeiter fährt uns glücklicherweise an die besagte Bushaltestelle. Wir steigen – wieder einmal dankbar für so nette Menschen – in einen klapprigen Ortsbus, die Fenster sind offen und lassen Luft hineinflattern. Jetzt beginnt das eigentliche Abenteuer, denn schnell verlassen wir die geteerte Straße und zuckeln durch das Hinterland. Der Urwald weitet sich und offenbart Wiesen mit Kühen, Gärten und Bauernhöfe. Es wirkt friedlich, aber völlig aus der Welt. Ich kenne dieses Gefühl von vielen Orten, an denen ich schon war – aber jetzt bin ich in einer Weltregion, in der ich noch nie gewesen bin, und es fühlt sich völlig absurd an. Die Menschen um uns herum kennen sich alle, kommen heim vom Einkaufen in der großen Stadt (dem Dorf, in dem wir eingestiegen sind) oder vom Arztbesuch. Nach einer Stunde hält der Bus an der Abzweigung zu einem Indianerreservat. Man bedeutet uns, dass wir hier auf den Anschlussbus warten sollen. Es gibt eine offene Halle, die als Supermarkt fungiert, es gibt Indianerfrauen in traditionellen Kleidern, und es gibt jede Menge Motorräder. Menschen haben sich herausgeputzt und treffen sich auf eine Art und Weise, wie man sich vielleicht an der Strandpromenade von Nizza trifft. Und nicht täglich vor Claudias Enchilada-Stand. Es wirkt unwirklich.
Mit dem nächsten Bus tuckern wir weiter. Sobald der Bus stehen bleibt, riecht es nach austretendem Gas, aber sobald er weiterfährt, übertüncht der Wind, der durch die offenen Fenster herein weht, den penetranten Geruch. Unsere Kinder genießen die vielen Tiere am Straßenrand, und Peppa Wutz ist nicht mehr das Thema des Tages. Und tatsächlich – nach über 12 Stunden Busfahrt, 4 Flügen, jeder Menge Taxifahrten und mehreren Zugfahrten sind wir angekommen. Wir steigen am richtigen Ort aus. Wir bekommen einen Schlüssel, und werfen uns aufs Bett. Wir sind wirklich da. Aber welche Körperteile unterwegs liegen geblieben sind, wo unser Herz gerade reist und ob unsere Gedanken die letzte Strecke auch noch schaffen, wird sich in den nächsten Tagen zeigen.
Eine Überfahrt ist
der Mut der Menschheit, sich auf Neues einzulassen
die Hoffnung auf Zufriedenheit, die willentlich blind ist für die Strapazen
und
leise Dankbarkeit.
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