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Der Franzose an sich trinkt jeden Abend Bordeaux. Er trägt am liebsten eine Baskenmütze. Durchschnittlich liebt er 50 Frauen im Jahr. Wenn sein Chef ihn entlassen will, erschlägt er ihn mit einem drei Tage alten Baguette. Frankreich-Klischees gibt es viele. Ich mochte das Land nie. Bis ich La Rochelle kennenlernte.
Piérre – er könnte auch Antoine heißen oder Olivier – steht in einer badetuchgroßen Parklücke und rudert mit den Armen. Piérre ist um die 70. Seine Nickelbrille sitzt schief auf seiner großen Nase. Weil ich mich nicht traue, rückwärts – mit nur zehn Zentimetern Abstand zu den Autos links und rechts – einzuparken, rutsche ich auf dem grauen Ledersitz des Peugeots hin und her und fange an zu schwitzen. Nach einer Viertelstunde klopft Piérre an die Fensterscheibe. Er lacht. Ich seufze, steige aus und drücke ihm die Autoschlüssel in die Hand.
Drei Sekunden später steht der fabrikneue Mietwagen ohne jede Schramme auf dem vermutlich kleinsten Parkplatz der Welt. Und Pierre, graue Haare, blaue Shorts, braune Slipper, grinst mich an wie ein Schuljunge, dem ein besonders waghalsiger Streich gelungen ist. Dann verabschiedet er sich mit einem Handkuss. Oh lá lá: So sieht also ein Grandseigneur aus, denke ich. Und muss im selben Moment über mich selbst lachen.
Es ist der 21. Juni und in La Rochelle findet heute die „Fete de la Musique“ statt, ein nationales Musikfestival. An jeder Straßenecke spielt eine Band. Die Franzosen mögen Feste, heißt es, Musik sowieso, also sind sie von überall her gekommen und haben nicht nur die Parkhäuser und Plätze, sondern auch die Kreuzungen, Bürgersteige und sogar die Zebrastreifen zugeparkt.
Studenten sind dabei, auch viele ältere Menschen. Väter tragen ihre Kinder auf den Schultern durch das Gedränge. Auch nach neun Uhr abends sind alle Generationen beim Feiern. Diese Lockerheit ist es, die ich in Deutschland oft vermisse, wo alles immer hundertprozentig nach Plan laufen muss und die Menschen schon nervös werden, wenn ihr Bus ausnahmsweise mal fünf Minuten Verspätung hat. Und wo Passanten schon erschrecken, wenn ein Fremder sie auf der Straße nach dem Weg fragt.
Dass die Polizei von La Rochelle bei den vielen Wild-Parkern an diesem Abend ein Auge zudrückt, gefällt mir auch. Die gelassene, unkomplizierte Art der Gendarmen, die genau wie die anderen Besucher durch die Straßen schlendern und ab und zu bei Bassisten und Schlagzeugern stehen bleiben, um ihnen zuzuhören, passt nicht so recht in das Bild, das ich von den Franzosen hatte.
Arrogant sollen sie ja sein. Stolz auf „La Grande Nation“. Wer sie mit einem englisch-französischen Kauderwelsch anspricht, den lassen sie abblitzen, wurde ich von Freunden und angeblichen Frankreichkennern gewarnt.
Ich bin an der deutsch-französischen Grenze aufgewachsen. Aber Französisch habe ich nie gelernt. Aus Protest gegen den fiesen Lehrer wählte ich damals am Gymnasium lieber das staubtrockene Latein und quälte mich durch langweilige Texte über den Gallischen Krieg. Heute bereue ich, dass ich zwar vier Sprachen kann und auf allen Kontinenten war, aber immer noch den Dolmetscher brauche, wenn François Hollande vor ein Mikrophon tritt.
Dabei ist es gerade jetzt so spannend, was in Frankreich passiert. Bis zu 500.000 Menschen gingen zuletzt in Paris und vielen anderen Städten auf die Straßen. Angestellte wehrten sich gegen das Reformvorhaben der Regierung, die unter anderem die 35-Stunden-Woche abschaffen und den Kündigungsschutz lockern will. Schüler und Studenten warfen Eier und Böller. Mehrere Gewerkschaften forderten sogar, dass Hollande die Pläne komplett zurückzieht. Das Reformvorhaben hat schließlich nicht viel zu tun mit den Versprechen, mit denen der Präsident einmal angetreten war, das macht die Franzosen sauer.
Ich bewundere ihren Kampfgeist. Als in Deutschland Hartz IV eingeführt wurde, brachte niemand den Mut zu Protesten auf.
Schon bei meiner Anreise war ich über die Solidarität verblüfft. Nach einem Flug bis Paris wollte ich den Zug nehmen – und erfuhr, dass die Lokführer streikten. 27 Stunden dauerte es dann, von München bis La Rochelle, für eine Strecke von nur 1200 Kilometer. In dieser Zeit hätte ich drei Mal nach Sri Lanka fliegen können. Statt auf die Lokführer zu schimpfen, wie das bei unserem Bahnstreik war, der am Ende alle nur noch nervte, nahmen meine Mitreisenden die Streikenden in Schutz und ihre Politiker aufs Korn.
Gelohnt hat sich das lange Warten auf die Ankunft auf jeden Fall. La Rochelle ist eine der bezauberndsten Hafenstädte, die ich kenne. Und so, wie das bei mir und Menschen, die ich mag, auch ist, hat es gerade mal drei Sekunden gedauert, bis ich wusste, dass ich La Rochelle umwerfend finde.
Als ich aus dem Zug stieg, roch ich schon das Jod. In der Gegend um La Rochelle wird traditionell Salz produziert. Der Jodgeruch vermischt sich – je nach Windrichtung und Wetterlage – mal mehr, mal weniger mit dem Algen- und Fischduft, den ich vom Atlantik kenne und liebe. Für mich gibt es nichts Besseres als diese salzgeschwängerte Luft und den Wind, der die Wellen streichelt. Der auch zornig und stürmisch werden kann, im Herbst oder bei Gewittern.
Dass der Atlantik mit Verschmutzungen kämpft, blende ich aus, weil ich den frischen Fisch genießen will, ohne daran zu denken, dass viele Austern sterben, durch das Abwasser, das Konzerne ins Meer fließen lassen.
Ein Muss ist für mich in jeder Hafenstadt der Fischmarkt. In La Rochelle haben die Markthallen türkisfarbene Eisentore, eine alte Uhr hängt darüber. Am Place du Marché stehen wunderschöne Häuser aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Die Patina fehlt deutschen, denkmalgeschützten Gebäuden, das lässt sie oft kalt wirken. Glatt und zu perfekt irgendwie. In La Rochelle haben die Häuser schiefe Fensterläden, aber mehr Seele. Mit ein bisschen Fantasie kann man sie fast atmen hören und sich von den Geschichten, die sie im Laufe der Jahrhunderte schon erlebt haben, einlullen lassen.
Vielleicht haben sich vor langer Zeit zwei Offiziere hinter den Renaissancefassaden um eine Frau gestritten, bis zum Duell. Möglicherweise wurde in einem der Häuser ein berühmter, nie entdeckter Roman geschrieben. Auf raschelndem, vergilbtem Pergamentpapier. Mit Tinte und einer Feder. Auf jeden Fall wurde der Revolutionär Jacques Nicolas Billaud-Varenne in La Rochelle geboren, im Jahr 1756. Er brachte als Präsident des Konvents die Königin Marie Antoinette vor das Revolutionstribunal.
Den Zweiten Weltkrieg hat die Stadt unbeschadet überlebt, weil es einen deutschen Vizeadmiral namens Ernst Schirlitz gab, der mit dem französischen Unterhändler Capitaine de Fregate Hubert Meyer vereinbarte, auf die Zerstörung zu verzichten. Diesen beiden vernünftigen Männern habe ich also zu verdanken, dass ich jetzt auf den Kopfsteinpflasterstraßen flanieren und die alten Gemäuer bestaunen darf. Zum Beispiel das Hôtel de la Bourse mit seinem Arkadeninnenhof, erbaut im 18. Jahrhundert, heute sitzt hier die Handelskammer. Die vielen Arkadengänge und Passagen wirken herrschaftlich. Als sei die Stadt ein einziger großer Palast für alle Bewohner. Nicht nur für die reichen. Die ältesten Gebäude sind Fachwerkhäuser, deren Holzständer und –riegel mit Schieferplatten geschützt sind.
Während andere Städte gegen elf Uhr abends schon vor sich hin dämmern, wacht La Rochelle nachts erst so richtig auf. Dann wird es voll in den Bars, Restaurants und im Sommer auch in den Straßencafés. Ich muss morgen früh weiter, auf eine Insel, die Ile d´Oleron. Nach dem dritten Rotwein gehe ich deshalb zum Hotel. Noch vor Mitternacht. Das Fenster lasse ich ganz weit offen, trotz der Rockmusik vor der Tür. Schließlich will ich die Meerluft noch einatmen. Um so viel davon zu tanken, dass ich bis zur nächsten Reise an den Atlantik davon zehren kann.
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