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Der Millionentanz von Tokio hat mich ein wenig zermahlen, als ich Montagfrüh in Shinjuku meinen Zug nach Westen besteige. Kein shinkansen – einer dieser aerodynamischen, flachen bullettrain Schnellzüge, für die das Land der aufgehenden Sonne berühmt ist – eher eine Art Regionalzug ist es, der mich bis nach Kawaguchi-Ko bringen wird. Direkt am Fuße des berühmtesten Berges Japans, Inbegriff der Mythen und in seiner Form exakt so, wie ein Kind einen perfekten Vulkan malen würde: am Fuji. Die Fahrt führt vorbei an Reisfeldern, an ersten grünen Bergen, doch auch außerhalb der Hauptstadt scheint mir Japan bislang eine Nation, in der Abgeschiedenheit kaum zu finden ist. Selbst hier nahezu überall Häuser, Stromleitungen, Formen von Zivilisation. Der Trend geht eindeutig abwärts, doch noch hat die Überbevölkerung dieses Landes die Inseln fest im Griff, Inseln, die nicht nur durch kerngeschmolzene Atomkraftwerke niemals mehr die Spuren der Menschheit werden abwerfen können.
Fort mit diesen Gedanken, Sonnenschein und eine bilderbuchhafte Ankunft am Fuji. Dort steht er, breit, schwer, stolz – fast 3.800 Meter hoch, umgeben von einem grauen Vorland und – von meiner Position aus gesehen – flacheren Bergen zu seiner Rechten. Die ebene ringsum macht einiges aus, eben weil hier die restliche Landschaft recht gemäßigt oder gar flach wie ein Pfannkuchen ist, fällt dieser konische Berg so sehr ins Gewicht. Unterhalb der schneebedeckten Vulkanspitze ein Ring aus Wolken, als ob sich der Fuji ein Baströckchen umgelegt hat; wer könnte ihm das bei diesem warmen Frühlingstemperaturen verdenken? Vom Bahnhof aus irre ich ein wenig am Dorfrand umher, mein Gasthaus hat nur eine japanische Adresse, mehr oder weniger also gar keine. Da erkenne ich an einem Schild die Telefon-Nummer meines Ausdrucks der Reservierung wieder, und richtig, ich bin am Ziel. Mein erstes ryokan in Japan, ein traditionelles japanisches Gasthaus.
Ich habe mir einige Grundkenntnisse auf dem Flug hier her angelesen und ziehe, wie erwartet, gleich hinter der Haustür meine Schuhe aus, die hier – mit der Schuhspitze in Richtung Tür – hübsch aufgereiht nebeneinander parken, so dass die jeweiligen Besitzer beim Hinaustreten gleich wieder bequem hineinsteigen können. Dann lege ich Hausschuhe an – für mich als Europäer stehen Riesenslipper bereit – Menschen aus Nordeuropa sind riesengroß, mittelalterliche Figuren. Die Dame des Hauses entschuldigt sich unter vielen Verbeugungen, dass sie mich hat eine halbe Minute warten lassen, sie war gerade mit dem Staubsauger beschäftigt. Dann führt sie mich in den ersten Stock und in mein Reich für die nächsten zwei Nächte. Ich traue mich kaum, mich meinem plumpen Trekking Rucksack einzutreten, um die Atmosphäre dieses Raumes nicht zu zerstören. Tatamimatten, in der Ecke aufgestapelt der Futon, den ich später selbst auslegen und auf dem ich schlafen werde. Ein niedriger Tisch mit Sitzkissen davor, in der rechten hinteren Zimmerecke die Aussparung namens tokonoma, die heilige Wandnische. Diese bleibt leer, da sie seither für religiöse Gegenstände und Zwecke vorgesehen ist. Und das wäre schon genug, um sich in Japan zu verlieben, aber dann ist da noch die Aussicht. Über die gesamte Längsseite des Zimmers drei hohe Panoramafenster, mit Blick auf den zugehörigen Zengarten und den mit Nadelbäumen gesäumten Berg dahinter. Nach Tokio könnte der Gegensatz nicht krasser sein, und ich genieße diese meditative Stille von Anfang an.
Was gibt es zwei Tage lang in Kawaguchi-Ko zu tun? Am See spazieren gehen, durch die Birkenwälder und entlang der in Blüte stehenden Kirschbäume auf dem Berg Tejo wandern, und dabei immer den Fuji fest im Blick. Fuji hinter Kirschblüte, Fuji in Wolken gehüllt, Fuji gänzlich erkennbar. Allein diese Ikone zu sehen, lindert jedes Fernweh der vergangenen Monate – so viel steht fest: Ich bin in Japan angekommen. Mittags esse ich udon – Weizennudeln in der wunderbaren Fleischbrühe. Meine Beine bekommen endlich Auslauf, die Luft erfüllt von Tannenduft und die Baumwipfel ab und an in einen Schatten der riesigen Habichte geworfen, die in ihren kreisenden Flügen nach Nahrung suchen.
Zeitsprung: Eine Woche später ist mein Kopf wieder zum Bersten voll mit Bildern, Eindrücken, Gerüchen – Kyoto, die übervolle Stadt, habe ich fünf Tage lang besucht (dazu kommen wir später). Nun suche ich wieder händeringend nach einem Ausgleich, einem Fleckchen Erde, um die Millionen Gesichter, die hundert Schreine und Tempel und heiligen Stätten wieder ein wenig abzulassen, Stille und Natur zu finden. So habe ich mir ein Hotel in der Kleinstadt Ena herausgesucht, in der Präfektur Gifu. Mitten in der Region gelegen und recht klein ist es die Basis für meine Ausflüge der kommenden Tage. Am ersten Nachmittag spaziere ich durch die kleine Stadt selbst, komme an den Wohnhäusern hiesiger Reisbauern vorbei und an einer Frau, die mit Gummistiefeln knietief in ihrem Welt herumwatet und sät. Eine Bewegung, die man bei uns nicht mehr zu Gesicht kriegt. Ich gehe weiter, die Sonne gibt heute richtig Gas, es hat 25 Grad. Es soll einen Park in Ena geben, am Flussufer. Als ich den sogenannten „Park“ erreiche, schüttele ich mit dem Kopf: Ringsum grün bewachsene Berge, freie Flächen, und hier angeln Männer und toben Kinder auf dem Rasen, genau an der Begrenzungsmauer des größten, stinkenden Kraftwerks der Stadt. Was soll das denn?
Tags darauf möchte ich einen Teil des Nakasendo entlang wandern, einen Teil der alten Poststraße, die das ehemalige Edo (heutiges Tokio) mit Kyoto verband. Mit einem Zug und einem Taxi fahre ich bis Magome, von wo aus ich bei heftigem Regen losmarschiere. Glocken warnen vor frei lebenden Bären, aber die werden sich kaum blicken lassen: Im Frühjahr und Sommer ist der Wanderweg gut besucht, zudem kreuzt er mehrfach die Hauptverkehrsstraße zwischen Magome und Tsumago, meinem heutigen Ziel. Kaum habe ich die Straße und die freie Sicht auf die Region verlassen, stehe ich zwischen hohen Bambuswäldern und dann zwischen Pinien und Tannen. Ein Geruch von frisch gemähtem Rasen weht aus einer Siedlung, Frösche quaken an ihren in der Nähe gelegenen Weihern. Die meiste Zeit bin ich allein und wandere still vor mich hin. Je näher der Mittag rückt, desto mehr verdunkelt sich der Himmel, Gewittergrummeln, Donner räuspert sich zwischen den Bergen. Die Farben der Bäume und Sträucher bekommen so etwas fahles, graues, leicht tristes, das aber wunderbar zu der Stille und dem prasselnden Geräusch macht, mit dem der Regen auf meinem durchsichtigen Schirm Klavier spielt. Von den Hügeln und auch den Waldlichtungen steigt das Wasser als weißer Rauch wieder empor, der Wald atmet ein und aus. Nach einer Stunde komme ich an einem Shintoschrein vorbei, der kami steht dort wie ein nass begossener Pudel, Moss überwuchert den Kopf. Doch es macht ihm nichts aus, er ist hier zu Hause, nicht ich – und wer wäre ich, seine Ruhe länger als nötig zu stören?
Als das Gewitter näher rückt und das Donnern lauter wird, suche ich Schutz unter einem anderen Schrein. Dort sitze ich, blicke hinaus in den strömenden Regen und rieche den nassen Stein. Ein Montagnachmittag, irgendwo in den kühlen, japanischen Bergen, und ich einfach zu dieser Zeit an diesem Ort, ein zufälliger Beobachter, Zeuge des Regens und des Donners. Nach etwa drei Stunden erreiche ich Tsumago, kaum im Ort, sind sie wieder da, die japanischen Reisegruppen, Ehepaare, Schulklassen auf Ausflug mit den Horden an krächzenden Jugendlichen. Nippesverkauf, Regenschirme für 500 Yen aufwärts. Die meditative Stille ist vorbei. Tsumago liegt am Nakasendo, doch der Weg scheint auf einmal weit weg.
Dabei war es ganz in der Nähe, und doch ganz woanders. Endlich einmal ein paar Stunden allein, mit den Bäumen, den Bergen, den Geistern und Göttern der japanischen Welt – ganz weit weg, und doch genau hier.
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