Kopflose Ziegen, schmerzender Hintern und große Freiheit

Noma­den sind in aller Mun­de: digi­ta­le Noma­den, moder­ne Noma­den. Seit jeher haf­tet dem Noma­den­sein der Geruch nach Frei­heit an. Noma­den leben ent­ge­gen der gän­gi­gen Vor­stel­lung vom gere­gel­ten Leben, vom Schaf­fe-schaf­fe-Häus­le-baue und allen Zwän­gen, die mit in die Bis-der-Tod-uns-schei­de-vier-Wän­de ein­zie­hen. Ich ver­brin­ge einen Teil mei­nes Som­mers dort, wo die Men­schen das Noma­den­sein im Blut haben. Wo Noma­den­sein aus Not­wen­dig­keit und nicht aus Flucht oder Träu­me­rei ent­steht. Wo die Noma­den­rea­li­tät wet­ter­ge­peitscht und bit­ter­kalt ist. Und doch auch ein wenig roman­tisch. In den Wei­ten Kir­gi­si­ens.

Zwi­schen Step­pe, Was­ser und Him­mel

Kir­gi­si­sche Musik, die an tür­ki­sche erin­nert, wum­mert aus den Laut­spre­chern, Ormon tritt im Rhyth­mus dazu aufs Gas­pe­dal. Mein Blick hängt an kahl­ge­feg­ten Ber­gen hin­ter irisch­grü­nen Fel­dern, streift Men­schen auf Eseln, wei­den­de Pfer­de, einen Fluss. Plötz­lich schie­ße ich auf die Wind­schutz­schei­be zu. Anschnal­len ist in Kir­gi­si­en uncool, die Gur­te sind meist kaputt. Der Wagen kommt vor einer Grup­pe Yaks zum Ste­hen, die uns anse­hen, als woll­ten sie Maut kas­sie­ren. Yaks! Gro­ße, gehörn­te Rin­der, bei denen der Fri­sör­be­such längst über­fäl­lig ist. Ormon ver­steht mei­ne Auf­re­gung nicht. Für ihn sind die zot­te­li­gen, ins Auto star­ren­den Bies­ter stink­nor­mal. Für mich ist es der Moment, in dem ich in Zen­tral­asi­en ankom­me. In dem Land, das von allen Län­dern der Welt dem Meer am ferns­ten ist.

Hin­ter mir liegt die im Som­mer bis zu 40 Grad hei­ße Haupt­stadt Bish­kek mit ihren bau­klotz­ar­ti­gen Sowjet­bau­ten, mir unbe­kann­ten guss­ei­ser­nen Hel­den und Kami­ka­ze-Taxi­fah­rern. Eine ehe­ma­li­ge Kara­wa­nen­sta­ti­on an der Sei­den­stra­ße, von der mir die Geruchs­mi­schung aus Gewür­zen, fri­schem Fleisch und Schweiß vom Osh-Bazaar geblie­ben ist. Ein Ort, wo ein­hei­mi­sche Frau­en mit oder ohne Kopf­tuch Lebens­mit­tel kau­fen und neben­bei Kla­mot­ten von über­la­de­nen Stän­den abgrei­fen. Und eins war da noch, so exo­tisch wie Kän­gu­ru und Kro­ko­dil am Fleisch­stand in Aus­tra­li­en: Säcke vol­ler wei­ßer Bäll­chen. Her­aus­zu­fin­den, was es damit auf sich hat, war nicht leicht. Die Haupt­städ­ter kön­nen sel­ten Eng­lisch, spre­chen über­wie­gend Rus­sisch, die Ver­käu­fer vom Land fast nur Kir­gi­sisch. Und doch erfolg­te eher spä­ter als frü­her eine Ant­wort: Die Bäll­chen nen­nen sich ele­gant Joghurt­bäl­le, sind aber unele­gant ver­go­re­ne Stu­ten­milch. Schme­cken tun sie wie ver­ges­se­ne Milch, die einen Klum­pen geformt hat und beim Ver­zehr zur Zahn­plom­be mutiert.

Hin­ter mir liegt auch Koch­kor, eine Klein­stadt süd­lich von Bish­kek, in die mich ein Taxi­fah­rer in Bade­lat­schen und Socken – was in Kir­gi­si­en genau­so „in“ ist wie in hei­mi­schen Gefil­den – gefah­ren hat. Noch immer hängt mir Koch­kors Staub in der Nase und des­sen Fried­hof vor Augen. Fried­hö­fe sind in Kir­gi­si­en nicht ein­fach Orte des Frie­dens, sie sind eine Ode an den Tod. Grä­ber sind nicht Grä­ber, son­dern auf­wen­di­ge Häu­ser für die Ver­stor­be­nen, oft­mals schö­ner und wohn­li­cher als die Hei­me der Leben­den.

Hei­me gibt es hier in der Wild­nis, auf dem Weg zum Song Köl See, kaum noch. Ab und an punk­ten hel­le Jur­ten die Land­schaft, die ab Juni vie­le Wei­den zie­ren wie Som­mer­blu­men und im Sep­tem­ber wie­der ver­schwin­den. Ich ver­su­che mir vor­zu­stel­len, wie die Land­schaft, die sich wie ein bucke­li­ger grü­ner Tep­pich vor mir aus­rollt, den Rest des Jah­res zum Feind des Men­schen wird. Zu einem Ort, wo ab Okto­ber Schnee fällt, wo die wei­ßen Mas­sen sämt­li­che Päs­se kapern und die Men­schen in ihre Gren­zen ver­wei­sen. Gren­zen, die es hier mit­ten im Juli nicht gibt. Nur Wei­te und Lee­re und eine so über­mäch­ti­ge Natur, dass man sich als Mensch wie Spu­cke im Regen fühlt.

End­lich erha­sche ich den ers­ten Blick auf den Song Köl See, Kir­gi­si­ens zweit­größ­ten nach dem Yssykk­öl und nur im Som­mer über zwei Schot­ter­stra­ßen erreich­bar. Wie ein gezähm­tes Meer schlum­mert das Was­ser unter­halb der fer­nen Berg­gip­fel. Ein Berg­kamm liegt hin­ter uns, die nächs­te Gebirgs­ket­te vorm Hori­zont, in der Mit­te der See und Step­pe, Jai­loo genannt, alpi­ne Wei­den. Ein Schla­raf­fen­land für Hir­ten und ihr Vieh, die den Som­mer über ihre Dör­fer ver­las­sen und her­kom­men, damit sich die Tie­re auf den Wei­den satt­fut­tern kön­nen. Und ich darf ein­mal Teil die­ser fer­nen noma­di­schen Welt sein, wo die Begrif­fe digi­tal und modern noch nicht ange­kom­men sind. „Seit mehr Tou­ris­ten kom­men, kom­men weni­ger Hir­ten mit Vieh“, gesteht Ormon. „Tou­ris­ten und Vieh, das passt nicht gut zusam­men“. Den­noch hät­ten auch die Hir­ten das Poten­zi­al der aus­län­di­schen Besu­cher erkannt und ver­mie­te­ten gern ein Bett in ihrer Jur­te. Einer die­ser Besu­cher bin ich. Dank CBT, Com­mu­ni­ty Based Tou­rism, mit des­sen Hil­fe Besu­cher Kir­gi­si­en ken­nen­ler­nen kön­nen. Das Gute dabei: Das Geld fließt in die besuch­ten Gemein­den, geht an Fah­rer wie Ormon, Hir­ten, die ihre Jur­ten zur Ver­fü­gung stel­len, an Pfer­de­füh­rer und jeden Ein­hei­mi­schen, der bei einer Tour gefragt ist.

Song Köl ist für mich ein Ort mei­ner Träu­me. Einer, der mit Abge­schie­den­heit syn­onym ist und mit dem Gefühl, den Ansprü­chen der moder­nen Welt ganz fern zu sein. Nicht zuletzt, weil an die­sem Tag zufäl­lig auch das Hor­se Games Fes­ti­val steigt. Ein Fest der kir­gi­si­schen Tra­di­tio­nen und Sin­ne und Spiel mit einer kopf­lo­sen Zie­ge.

Zie­gen­fuß­ball und ande­re kir­gi­si­sche Beson­der­hei­ten

Es sind an die 200 Besu­cher am Song Köl, doch da, wo Natur und Him­mel so weit sind, wird es nicht eng. Wer die Chan­ce hat, in Kir­gi­si­en einem Hor­se Games Fes­ti­val bei­zu­woh­nen, hat Glück. Pfer­de spie­len seit jeher eine zen­tra­le Rol­le im Leben der Kir­gi­sen, sei es zum Rei­ten oder um sie zu essen. Kein Wun­der also, dass sich auch vie­le Spie­le ent­wi­ckelt haben, die auf dem Rücken von Pfer­den aus­ge­tra­gen wer­den. Ganz nach dem Mot­to „Save the best for last“, beginnt das Hor­se Games Fes­ti­val am Song Köl jedoch nicht mit den Pfer­den: Zuerst musi­ziert eine sie­ben­köp­fi­ge Grup­pe in Trach­ten. Zwei Frau­en spie­len die typisch kir­gi­si­sche Komuz, eine zwei- oder drei­sai­ti­ge Lang­hals­lau­te, eine Art Uku­le­le, die gezupft wird, dazu kom­men Akkor­de­on, eine klei­ne Trom­mel und Gesang. Dem folgt ein Tanz jun­ger, elfen­glei­cher Frau­en in wei­ßen Klei­dern und mit spit­zen roten Müt­zen auf dem Kopf, wie eine ver­ein­fach­te Ver­si­on des tür­ki­schen Der­wisch­tan­zes.

Auf der Motor­hau­be eines alten Audi brei­ten Frau­en selbst­ge­näh­te Tep­pi­che zum Ver­kauf aus, beim Tep­pich­work­shop neben­an demons­triert eine wei­te­re, wie die auf­wen­di­gen Stü­cke ent­ste­hen – aus einem Schafs­pelz, der zunächst weich­ge­kloppt und dann mit ver­schie­den­far­bi­gen Woll­stü­cken ver­ziert wird. Zumin­dest beim Ala Kiyiz-Stil, wobei jede Far­be eine eige­ne Sym­bo­lik ent­hält: „Rot für Blut, Blau für den Him­mel und Grün für die Erde“, erklärt die alte Frau in Kir­gi­sisch, was ein jun­ger Mann ins Eng­li­sche über­setzt. Ist das Mus­ter fer­tig, kommt hei­ßes Was­ser dar­über, dann wird der Tep­pich fest ein­ge­rollt. Jetzt heißt es Frei­wil­li­ge vor, denn nun zieht man den Schafs­pelz oft stun­den­lang über den Boden und mög­lichst vie­le Per­so­nen tram­peln dar­auf her­um, damit alles fest wird.

Wer nicht an den Tep­pi­chen mit­wer­kelt, backt Brot: Boor­sok, eine typi­sche, fett­ge­ba­cke­ne Teig­mix­tur, die in Kir­gi­si­en zu jedem Mahl auf den Tisch kommt. Zunächst wer­den die dra­chen­för­mi­gen Stück­chen aus dem Teig geschnit­ten, dann in kochen­des Öl gewor­fen, und her­aus kommt eine gold­brau­ne Ecke, die jeder­manns täg­li­chen Kalo­rien­be­darf schon fast über­schrei­tet.

Ein guter Moment, um sie beim Jur­ten-Work­shop abzu­trai­nie­ren. Jur­ten – DAS Zelt der Noma­den Zen­tral­asi­ens, das ich bis­her nur auf Rei­se­mes­sen gese­hen habe und das für mich stets Inbe­griff von Frei­heit und zen­tral­asia­ti­scher Roman­tik war. Nun steht es vor mir, ein sehr luf­tig wir­ken­des, run­des und dun­kel­ro­tes Holz- und Metall­ge­rüst mit einer etwas fehl am Platz wir­ken­den Holz­tür. Doch schnell nimmt das Gan­ze Form an, als Mat­ten rund um das Unter­ge­stell gezo­gen wer­den und sogleich Baum­woll- und Filz­de­cken über das gesam­te Gerüst kom­men, wel­che die Wär­me drin­nen und die Käl­te drau­ßen hal­ten. Beson­ders wich­tig: eine dicke Filz­de­cke über der Tür, die tags­über hoch­ge­bun­den und für die Nacht run­ter­ge­las­sen wird.

Ich bin begeis­tert – der Auf­bau scheint um eini­ges leich­ter als beim übli­chen Ikea-Möbel­stück, wo immer ein paar Schrau­ben feh­len oder irgend­ein Loch aus­lei­ert. Hier lei­ert nichts, jeder Hand­griff sitzt, und schon steht ein gemüt­li­ches Häus­chen mit­ten in der Land­schaft, das vier Mona­te lang jedem Wet­ter stand­hält. Dann, end­lich, nach der gro­ßen Mit­tags­ta­fel, zu der neben Boor­sok auch Plov ser­viert wird – ein ori­en­ta­li­sches Reis­ge­richt aus lang­kör­ni­gem Reis mit Zwie­beln, Brü­he und Fleisch – sind die Pfer­de­spie­le an der Rei­he. Im Inter­net habe ich Schau­er­ge­schich­ten dar­über gele­sen, wie eine Art Fuß­ball mit einem Zie­gen­ka­da­ver gespielt wird. Und tat­säch­lich, da ist er schon, der kopf­lo­se Kör­per einer schwar­zen Zie­ge, den ein Mit­spie­ler eines der bei­den Teams aus bis zu zehn Per­so­nen auf den Boden wirft. „Das Spiel heißt Ulak-Tar­tysh und exis­tiert bereits seit Jahr­hun­der­ten in Kir­gi­si­en“, erklärt ein Kom­men­ta­tor die Regeln, die sich nicht groß vom Fuß­ball unter­schei­den. Nur, dass alle Män­ner auf Pfer­den sit­zen, sich gegen­sei­tig den Kada­ver abrin­gen und dann ins impro­vi­sier­te Tor plump­sen las­sen. Wer gewinnt, bekommt die Zie­ge und kann sie auf­fut­tern oder aber einem Haus­halt sei­ner Wahl schen­ken.

Alle Zuschau­er sehen gebannt zu, wie die Män­ner schrei­end um die bestimmt 25 Kilo schwe­re Zie­re ran­geln, bis sie zum ers­ten Mal ins Tor klatscht. Dabei scheint das Spiel für die Zuschau­er gefähr­li­cher als für die Män­ner oder Pfer­de, denn oft­mals ver­fal­len die Tie­re in so rasan­ten Galopp, dass sie unge­bremst in die Men­schen­men­ge rasen und sich manch einer nur in letz­ter Sekun­de ret­ten kann. Irgend­wann, wir haben längst den Spiel­stand aus den Augen ver­lo­ren, ist das Geren­ne zu Ende und ein jun­ger Mann prä­sen­tiert stolz den Kada­ver, den sein Team gewon­nen hat.

Als Nächs­tes sind Engish und Tiy­in Eng­mei dran, wobei zwei jun­ge Män­ner mit nack­ten Ober­kör­pern auf Pfer­den mit­ein­an­der rin­gen. Am Ende des lan­gen Tages sind die Zuschau­er von der Fül­le an Ein­drü­cken und der auf über 3.000 Meter knal­len­den Son­ne genau­so erschöpft wie die Mit­spie­ler. Doch mich erwar­tet kei­ne stun­den­lan­ge Rück­fahrt nach Koch­kor wie vie­le ande­re. Ich wer­de die Nacht am Song Köl See ver­brin­gen. In einer Jur­te beim Schä­fer Alten­bak und sei­ner Fami­lie.

Es war ein­mal eine Nacht am Song Köl See

Nicht über­all kann man baden, doch wo es irgend­wie geht, tue ich es. Das ist eines mei­ner Prin­zi­pi­en. Und da es nir­gends Duschen gibt und ich mei­ne Feucht­tü­cher für die nächs­ten Wochen auf­spa­ren möch­te, sprin­ge ich in den Song Köl See. Viel käl­ter als die Nord­see im Juni ist das Was­ser nicht, und so klar, dass ich jeden Stein unter mir sehe. In die­sem Was­ser zu plant­schen, mit Berg­ku­lis­se auf der einen und jur­ten­ge­spren­kel­ter Step­pe auf der ande­ren Sei­te, ist einer die­ser Glücks­mo­men­te, die nichts Mate­ri­el­les, son­dern nur ein Erleb­nis besche­ren kann.

War es tags­über noch so heiß und son­nig, dass alle Fes­ti­val­be­su­cher, die ihren Sun­block ver­ges­sen haben, krebs­rot sind, fal­len die Tem­pe­ra­tu­ren ab spä­tem Nach­mit­tag in den ein­stel­li­gen Bereich. In Alten­baks Jur­te lie­gen zehn Matrat­zen auf dem Boden ver­teilt, doch ich muss das Häus­chen nur mit einem älte­ren fran­zö­si­schen Paar tei­len, das ich beim gemein­sa­men Abend­essen ken­nen­ler­ne. Alten­baks klei­ne Toch­ter Rami­ya ist auch mit von der Par­tie, nimmt mich ein­fach bei der Hand. Immer wie­der zeigt sie in ver­schie­de­ne Rich­tun­gen, als wol­le sie mir das Wun­der ihrer Umwelt durch Ges­ten erklä­ren. Selbst wenn wir die­sel­be Spra­che sprä­chen und gleich­alt­rig wären, bezweif­le ich, dass wir die Schön­heit der wel­li­gen grü­nen Land­schaft, das Gefühl der Gren­zen­lo­sig­keit und den lang­sam in der Abend­son­ne dun­kel wer­den­den See in Wor­te fas­sen könn­ten. Egal, wie vie­le Spra­chen ich ler­ne, egal, wie wort­ge­wandt ich ver­su­che, mich auf Papier aus­zu­drü­cken, in einer Land­schaft wie die­ser füh­le ich mich stets wie das Klein­kind, das sei­ne Umwelt stam­melnd oder mit alber­nen Kose­wor­ten zusam­men­fasst. Ich tue es Rami­ya gleich und zei­ge. Stumm.

Der Mond steht blass am hohen Him­mel, wäh­rend sich die Son­ne im Wes­ten hin­ter Wat­te­wol­ken ver­ab­schie­det. Wind wühlt an dem zuvor spie­gel­glat­ten Song Köl. Unter mei­nen Füßen knir­schen die Kie­sel­stei­ne am Strand, ich lau­sche den Wel­len, sonst ist da nichts. Kein ande­rer Mensch, nur ein ein­sa­mer, fest­ge­bun­de­ner Esel, der am Gras zupft und eine Zie­ge. Alle Zivi­li­sa­ti­on scheint end­los weit ent­fernt und mit ihr mein gewöhn­li­ches Leben. Seit ich Koch­kor ver­las­sen habe, ist mein Han­dy still. Ich bli­cke zurück, sehe Alten­baks drei Jur­ten in wei­ter Fer­ne, und mich packt eine unglaub­li­che Dank­bar­keit für die­ses Jetzt und Hier. Ich allein mit der Wei­te Zen­tral­asi­ens, die mich kühl und doch warm umarmt. Ein biss­chen benei­de ich sie schon, die Noma­den, die es immer dort­hin ver­schlägt, wo gera­de die bes­ten Lebens­be­din­gun­gen vor­herr­schen. So anders als wir im Wes­ten, die oft glau­ben, an einem Ort sess­haft wer­den zu müs­sen und aus­zu­har­ren, egal, was auch pas­siert.

Das Gefühl der Dank­bar­keit ver­pufft ein wenig, als ich nach einer Sit­zung auf dem Plumps­klo, im Ver­gleich zu dem Bahn­hofs­klos Par­füm­lä­den schei­nen und das Tau­sen­de von Flie­gen behei­ma­tet, unter der dün­nen Decke auf mei­ner Matrat­ze lie­ge. Die Tem­pe­ra­tur ist etwa auf den Gefrier­punkt abge­sackt, ich tra­ge Ther­moun­ter­wä­sche, dicke Socken und einen Pyja­ma, doch die Wär­me will nicht unters Laken ein­zie­hen. Ein Pro­blem, das der bereits schnar­chen­de Fran­zo­se nicht zu haben scheint. Kur­zer­hand zie­he ich eine wei­te­re Decke aus einem lee­ren Bett zu mir rüber. Pro­blem gelöst. Mein Atem steigt im Schein der Taschen­lam­pe auf, doch bald schla­fe ich zufrie­den ein. Mein ers­tes Mal in einer Jur­te, vom Wind geschützt durch die bunt gemus­ter­ten Stoff­wän­de und ein dickes Fell dar­über. Wie schön, sich so weit außer­halb der Kom­fort­zo­ne doch so kom­for­ta­bel zu füh­len.

Die ande­re Sei­te der Medail­le

Am nächs­ten Mor­gen gesellt sich Mir­din zu mir und den Fran­zo­sen, mein Gui­de, der mich zu Pferd zur nächs­ten Jur­te und ein paar Tage spä­ter wie­der zurück ins Tal brin­gen soll. Der 21-jäh­ri­ge IT-Stu­dent ver­dient sich in den drei­mo­na­ti­gen Som­mer­fe­ri­en etwas dazu, indem er bei CBT mit Tou­ris­ten arbei­tet. „Wie alt seid ihr?“, lau­tet sei­ne ers­te Fra­ge in die Run­de. Die Fran­zo­sen, die auf die 60 zuge­hen, sehen ihn scho­ckiert an, ich lache. Immer wie­der pas­siert es mir in ande­ren Län­dern, dass offen übers Alter gespro­chen wird, auch wenn man nicht mehr aus­sieht wie 20. Nur bei uns scheint Alter ein Tabu zu sein, als müss­te man sich dafür schä­men, durch­zu­hal­ten und das Leben zu leben anstatt früh ins Gras zu bei­ßen.

Sobald wir fer­tig­ge­ges­sen haben, geht es auf die Rücken unse­rer brau­nen Pfer­de, die schon gesat­telt vor den Jur­ten ste­hen. Ich habe wenig Pfer­de­er­fah­rung, doch in Kir­gi­si­en nicht zu rei­ten wäre wie ein ers­ter Deutsch­land­be­such ohne Bier. Es ist grau und kühl an die­sem Mor­gen, die ers­ten Trop­fen fal­len. Mir­din will schnell ankom­men, ich die Land­schaft anschau­en. Doch der stär­ker wer­den­de Regen treibt uns an. Mir­din ergreift einen Zügel mei­nes galop­pier­scheu­en Hengs­tes, und schon flie­gen wir über die Step­pe. Es reißt mir die Kapu­ze vom Kopf, die Haar­span­ge geht flie­gen und der Sat­tel könn­te nur noch schlim­mer sein, wenn er mit Nägeln besetzt wäre. So rich­tig will das Frei­heits­ge­fühl noch nicht auf­kom­men, das ich eigent­lich beim Galopp durch die End­lo­sig­keit emp­fin­den soll­te.

Zum Glück ist es nicht weit bis zum nächs­ten Jur­ten­camp wei­ter west­lich, eben­falls weni­ge Meter vom See ent­fernt, wo mich die nächs­te Hir­ten­fa­mi­lie in Emp­fang nimmt. Hier spricht kei­ner Eng­lisch, Mir­din muss über­set­zen. Eine alte Frau mit dicker Strick­ja­cke, Kopf­tuch und Rosen­kranz in der Hand schaut mich inter­es­siert an, und ihr gan­zes Gesicht legt sich in Fal­ten, als sie mich angrinst. „Babush­ka“, erklärt sie mir auf Rus­sisch, dass sie die Oma sei. Ihre Toch­ter ist damit beschäf­tigt, am klei­nen Ofen in der Fami­li­en­jur­te zu kochen, dane­ben steht eine sepa­ra­te Ess­jur­te für Gäs­te. Zu mei­ner Über­ra­schung bekom­men Mir­din und ich eine gemein­sa­me Jur­te zuge­wie­sen.

Mir bleibt ein wenig Zeit, mit ein paar Kin­dern, einem Wel­pen und einem Kat­zen­ba­by zu spie­len, dann ist das Essen fer­tig: Toma­ten- und Gur­ken­sa­lat und als Haupt­ge­richt ein Hau­fen fet­ti­ger Kar­tof­feln mit eben­so fet­ti­gen Schafs­fleisch­stü­cken. Mir­din und ich sit­zen allein am Tisch, er rührt lust­los in sei­nem Kar­tof­feltel­ler. „Ich bin der Jüngs­te in mei­ner Fami­lie, und bei uns muss sich der Jüngs­te spä­ter um die Eltern küm­mern“, fängt er an zu erzäh­len. Das sei des­halb fair, weil auch der Jüngs­te alles von den Eltern erbe. „Das heißt, wenn ich hei­ra­te, muss mei­ne Frau auch für mei­ne Eltern kochen.“ Es sei näm­lich in Kir­gi­si­en immer die Frau, die koche. „Nur wenn sie ganz schlecht kocht, macht der Mann das selbst.“ Ich fra­ge ihn, ob er auch bald hei­ra­ten und Kin­der haben wol­le. Er zuckt mit den Ach­seln. „Noch nicht, aber es ist wich­tig, Kin­der zu bekom­men, denn wer soll sich sonst im Alter um einen küm­mern?“ Meis­tens lie­ßen sich Män­ner von Frau­en schei­den, die kei­ne Kin­der bekom­men könn­ten.

„Wenn du willst, kannst du gleich zuse­hen, wie die Stu­te gemol­ken wird“, rät mir Mir­din. Ich habe noch nie gese­hen, dass Stu­ten gemol­ken wer­den, erin­ne­re mich aber an die sau­ren Bäll­chen auf dem Osh-Bazaar in Bish­kek. Mei­ne Gast­ge­be­rin und ihr Sohn lau­fen mit Eimern hoch zu den Tie­ren, die dar­an gewöhnt zu sein schei­nen. Es sieht genau­so aus wie bei der Kuh, nur, dass da eben ein Pferd steht. Die Milch fer­men­tiert dann in einem dicken Leder­sack, der bei den Jur­ten hängt und wird zu Kymys, dem abso­lu­ten Lieb­lings­drink der Kir­gi­sen. Was­ser habe ich bis­her noch nie beim Essen gese­hen, es gibt stets nur Tee – oder eben Kymys, was die meis­ten Tou­ris­ten bei zu viel Ver­zehr öfter als gewollt aufs Plumps­klo schickt.

Danach gehe ich spa­zie­ren. Am See­ufer ent­lang in Rich­tung Wes­ten, neben mir ein gro­ßes grü­nes Nichts mit ver­ein­zel­ten Jur­ten. Die Wol­ken wer­den immer dunk­ler, der Wind peitscht das See­was­ser in die Höhe, doch die Wei­te vor mir zieht mich magisch an. Plötz­lich ent­lädt sich die ers­te Wol­ke, der Regen schlägt mir ins Gesicht. Soll ich doch umkeh­ren? Dann ver­neh­me ich Geräu­sche hin­ter mir. Zwei Kin­der auf Pfer­den, um die sechs Jah­re, die Wan­gen von der Käl­te gerö­tet. „Jur­ta?“, fra­gen sie mit hoff­nungs­vol­len Augen und deu­ten auf einen klei­nen wei­ßen Punkt am Hori­zont. Ich ver­su­che ihnen mit ein paar Bro­cken Rus­sisch zu erklä­ren, dass ich schon eine Jur­te habe, und sie rei­ten ent­täuscht davon. Als Nächs­tes begeg­ne ich einem Schä­fer mit sei­ner Her­de. Auch er bie­tet mir eine Jur­te an, wie­der muss ich ableh­nen. Auf dem Rück­weg hagelt es, dass der See neben mir kaum noch aus­zu­ma­chen ist. So schnell schlägt das Para­dies in die Höl­le um, so schnell weicht die Sze­ne­rie der traum­haf­ten Wei­te der har­schen Berg­rea­li­tät, die so lau­nisch ist wie eine menstru­ie­ren­de Frau am Mon­tag­mor­gen.

Ein lan­ger Weg

Am nächs­ten Mor­gen schmerzt mein Hin­tern noch immer von sei­ner ers­ten kir­gi­si­schen Pfer­de­be­geg­nung, doch es geht wie­der hin­auf in den Sat­tel: Ein mehr­stün­di­ger Ritt über den Berg­kamm Tuz-Ahuu erwar­tet Mir­din und mich, bis ins Dorf Kyzart, wo mich Ormons Bru­der Aziz abho­len und nach Tam­chy am Yssykk­öl-See brin­gen soll. Zunächst ein­mal geht es hoch hin­auf auf 3.500 Meter, durch eine Land­schaft, wo die Ber­ge zunächst nicht karg-feind­lich, son­dern ein­la­dend grün sind. Immer wie­der blitzt der Song Köl See in der Fer­ne zwi­schen den Berg­kup­pen hin­durch, dann sind wir ganz oben – schau­en auf der einen Sei­te über die wel­li­gen Ber­ge hin­un­ter zum See, auf der ande­ren in eine röt­li­che Fels­schlucht, die auf den ers­ten Blick an den Grand Can­yon erin­nert. Ein paar Hir­ten rei­ten an uns vor­bei, Pfer­de fut­tern auf Wei­den, ansons­ten ist da nichts. Wei­te und Stil­le und ein Wind­hauch. Wenn mein Hin­tern nicht so weh­tä­te, wür­de ich wün­schen, der Moment wäre unend­lich. Bald hebt sich das Dorf Kyzart wie eine Fata Mor­ga­na vom Hori­zont ab. Und will lan­ge nicht näher­kom­men. Mir­din nimmt eine angeb­li­che Abkür­zung – eine Fehl­ent­schei­dung, die uns eine wei­te­re Stun­de auf den Pfer­den beschert.

Am Ende ist mir heiß, mein Hin­tern ist jen­seits von Gut und Böse und ich bin in einer Stim­mung, wo ich am liebs­ten nör­geln wür­de wie ein Klein­kind im Som­mer­fe­ri­en­stau. Mir­din will wie­der galop­pie­ren, doch mein Hin­ter­teil streikt. Was ich kurz ver­ges­se, als wir auch noch einen rei­ßen­den Fluss durch­que­ren, bei dem die Pfer­de bis zum Bauch im Was­ser ver­sin­ken und mich mein Gaul bei sei­ner Trink­be­geis­te­rung fast abwirft. Nein, Rei­ten wird wohl nie mein Lieb­lings­sport. Als wir erst­mal im Dorf ange­kom­men sind und ein lecke­res Essen vor mir lan­det, sind die Stra­pa­zen aber schnell ver­ges­sen. Was bleibt, sind die Bil­der der grü­nen Wei­te, Stil­le durch­bro­chen vom Kla­ckern der Hufen und das Gefühl, in der Mit­te der Welt ange­kom­men zu sein.

Strand­le­ben auf Kir­gi­sisch

Eigent­lich bin ich eher Meer- als Berg­mensch, und wenn es in einem Land schon weit und breit kein Meer gibt, muss ande­res Was­ser her: in Kir­gi­si­en neben dem Song Köl der Yssykk­öl-See, zweit­größ­ter Berg­see der Welt nach Titi­ca­ca, auf 1.607 Metern Höhe. Anschei­nend fehlt nicht nur mir das Meer, denn die Strän­de aus dunk­lem Sand sind voll von kir­gi­si­schen und kazak­hi­schen Urlau­bern, so auch der schma­le Strand von Tam­chy. Nach der Ein­öde am Song Köl See kom­me ich mir vor wie auf einer Kir­mes nach ein­wö­chi­gem Klos­ter­auf­ent­halt. Ich woh­ne bei Bak­ty­gul, einer älte­ren Frau, die an der Haupt­stra­ße von Tam­chy einen Homestay anbie­tet. Ihre Enkel­kin­der tol­len im Hof her­um und wer­den vom Tisch geräumt, als mein Essen dar­auf kommt – Dum­plings mit einer dicken Fleisch­fül­lung, die­ses Mal wohl kein Schaf.

Am nächs­ten Mor­gen bin ich früh am Strand, möch­te mir ein paar ruhi­ge Stun­den gön­nen, bevor ich nach bes­ter Noma­den­ma­nier wei­ter­zie­he. Doch von Ruhe ist auch am frü­hen Mor­gen nicht zu spre­chen. Bald lie­ge ich wie am Strand von Mal­le im Juli zwi­schen unzäh­li­gen Hand­tü­chern und Spiel­zeug und laut schwat­zen­den Fami­li­en und flüch­te ins küh­le Was­ser. Wür­de man durch den Dunst am Hori­zont nicht noch ein paar Berg­spit­zen aus­ma­chen, könn­te man glau­ben, am Meer zu sein. Oder in der Saha­ra? Plötz­lich spa­ziert am Ufer ein Kamel ent­lang, geführt von einem Mann mit gro­ßer Kame­ra vorm Bauch – der Geld dafür nimmt, wenn sich jemand mit dem Tier ablich­ten lässt. Aber nicht nur Kamel­bil­der sind der Hit, son­dern auch geräu­cher­ter Fisch, den Erwach­se­ne und Kin­der an Eisen­stan­gen her­um­tra­gen und als Strand­s­nack ver­kau­fen. Ich kau­fe einen. Der innen noch voll­kom­men roh ist. Was für ein Glück, dass ande­re Ver­käu­fer leicht ess­ba­re Hot­dogs, Mais­kol­ben und Fett­ge­ba­cke­nes im Ange­bot haben.

Dann geht die Rei­se wei­ter. Nach Kara­kol am öst­li­chen Ende des Yssykk­öl, Aus­gangs­punkt zu den belieb­tes­ten Berg­wan­de­run­gen in Kir­gi­si­en und Schau­platz des größ­ten Vieh­mark­tes im Land jeden Sonn­tag­mor­gen. Bak­ty­gul schickt mich auf die Stra­ße. „Streck ein­fach die Hand aus und wink eine Marshrut­ka her­an.“ Das sind Mini­bus­se, die in jeden Win­kel des Lan­des fah­ren. Ich mache mich auf voll­ge­stopf­te Gefähr­te gefasst, aus denen noch man­cher Hin­tern her­aus­hängt, wie ich sie in Süd­ost­asi­en erlebt habe – und bin umso über­rasch­ter, als der Gang nur spär­lich belegt ist und ansons­ten jeder einen fast kom­for­ta­blen Sitz­platz hat. Mit­ten im Bus gibt eine Frau ihrem Baby die Brust, eine ande­re wiegt ihr Kind auf dem Schoß, bis es fröh­lich blub­bernd in die Hose macht. Dafür sind kei­ne Hüh­ner oder Vier­bei­ner mit von der Par­tie.

In Kara­kol woh­ne ich im Guest House on Der­bis­her­va bei Ser­gej und Liuba aus Russ­land, die bereits seit vie­len Jah­ren in Kir­gi­si­en leben. Ich kann nur ein paar Wör­ter Rus­sisch, die bei­den spre­chen ein paar Wör­ter Deutsch. Sie set­zen sich zu mir an den Tisch, wäh­rend ich frisch aus dem Gar­ten geern­te­te Him­bee­ren von Liuba bekom­me und Ser­gej mir ver­sucht, die Sehens­wür­dig­kei­ten vor Ort zu erklä­ren. Da es anfängt zu reg­nen und ich im Zen­trum essen möch­te, fährt er mir kur­zer­hand hin. Wir machen einen Abste­cher zur Moschee, dann gibt es typisch kir­gi­si­sches Lamak in einem von Ser­ge­js Lieb­lings­re­stau­rants – dicke Nudeln, die ein Ita­lie­ner so gar nicht al den­te fän­de, mit Rind­fleisch­so­ße. Und ich bin wie­der mal über­rascht, wie gut man sich ohne Spra­che unter­hal­ten kann. Über Essen, Deutsch­land und Kir­gi­si­en, Musik. Wie oft, wenn es am schöns­ten ist oder die Men­schen am herz­lichs­ten sind, sind Spra­che und Wör­ter nicht mehr nötig.

Kuh­han­del ganz groß

Sonn­tags ist Markt­tag in Kara­kol. Auf dem Mal­ba­zar, dem Vieh­markt etwas außer­halb des Stadt­zen­trums, tum­melt sich dann jeder, der eine neue Kuh, ein Pferd, Schaf oder eine Zie­ge braucht. Ich tei­le mir ein Taxi zum Markt mit den Slo­wa­ken Han­nah und Mar­tin. Gemein­sam stie­feln wir durch knö­chel­ho­he tie­ri­sche Aus­schei­dun­gen und sind bald mit­ten drin im Gesche­hen: Ganz links ist der Kuh­han­del im Gan­ge, manch­mal sind die Ver­käu­fer Kin­der, meist Män­ner. Dann kommt die Pfer­de­ab­tei­lung, wo einem Gaul in einer sex­schau­kel­ar­ti­gen Ein­rich­tung die Hufen neu beschla­gen wer­den. Dane­ben rei­tet ein inter­es­sier­ter Käu­fer ein Tier zur Pro­be, galop­piert ohne Rück­sicht auf Ver­lus­te durch Käu­fer, Ver­käu­fer und Schau­lus­ti­ge. Je mehr Men­schen mit ihrem Vieh kom­men, des­to inten­si­ver wird der Geruch nach Kacke und Schweiß und Angst. Schafs­be­sit­zer zer­ren ihre Tie­re an lan­gen Lei­nen durch die Men­ge, wel­che die Hin­ter­bei­ne in den Boden stem­men, als könn­ten sie so ihrem neu­en Schick­sal ent­ge­hen. An der Stra­ße braust ein Taxi her­an. Der Fah­rer springt raus, öff­net den Kof­fer­raum, hebt ein Schaf her­aus, dann die Mat­te, schüt­telt Köt­tel ab, tut die Mat­te wie­der in den Kof­fer­raum, nimmt sein Geld, fährt wei­ter. Bereit für den nächs­ten Tou­ris­ten mit sei­nem Gepäck.

Nach dem Vieh­markt erscheint es das klei­ne­re Übel, auf dem zen­tra­len Akti­lek-Bazaar wei­te­ren Kymyz zu kos­ten – und sogar Kymyz-Bier, das uns die Ver­käu­fe­rin groß­zü­gig ein­schenkt. Vor­bei an der voll­kom­men höl­zer­nen Kathe­dra­le spa­zie­ren wir schließ­lich zurück zum Guest­house, wo uns Ser­gej und Liuba freu­dig erwar­ten.

Obwohl ich nur eine Nacht bei den bei­den ver­bracht habe, füh­len sie sich an wie die lie­be Tan­te und der Onkel, zu denen man ger­ne zurück­kehrt. Das Gefühl ver­stärkt sich, als mich Ser­gej zum Bus­bahn­hof fährt und die bes­te Marshrut­ka zurück nach Bish­kek für mich aus­sucht. Die Fahrt dau­ert sechs Stun­den. Dass unter­wegs Tei­le der Stra­ße, die neu gebaut wer­den, feh­len, stört den Fah­rer nicht – es geht kur­zer­hand wei­ter durch den Stra­ßen­gra­ben und an nächst­bes­ter Stel­le in vol­lem Tem­po wie­der zurück auf den Asphalt, dass mei­nem Nach­barn fast der Kymyz hoch­kommt. Ich wer­fe einen letz­ten Blick auf den zweit­größ­ten Berg­see der Welt, doch in Gedan­ken bin ich noch bei den Step­pen am Song Köl. Ich hat­te immer eine gewis­se Ahnung, dass Wei­te und Lee­re süch­tig machen kön­nen. Nun weiß ich es. Habe ein biss­chen zu viel von die­ser Wei­te geat­met, von die­sen Land­schaf­ten auf­ge­so­gen, denen der Him­mel stets ein Stück näher ist als anders­wo. Dabei hat mein Aben­teu­er eigent­lich erst begon­nen. Denn in Bish­kek star­tet mei­ne Expe­di­ti­on in eine Wild­nis, die den Song Kol See zahm aus­se­hen las­sen soll. Eine Expe­di­ti­on zu Schnee­leo­par­den, wo selbst Plumps­klos Luxus wären.

Erschienen am



Antworten

  1. Avatar von Bernadette

    Lie­ber Mar­cel,
    noch­mals dan­ke 🙂 Und ja, ich besu­che sehr ger­ne Orte, die noch nicht ganz aus­ge­lutscht sind, obwohl es davon lei­der immer weni­ger gibt.
    LG
    Ber­na­dette

  2. Avatar von Marcel

    wow, ich mag dei­ne Berich­te da Sie von Orten han­deln über die weni­ge schrei­ben. So ent­fern­te Wel­ten. Das gefällt mir. Eine ganz ande­re Welt und Kul­tur. Die meis­ten rei­sen ja immer nur in die gro­ßen Metro­po­len usw. Also dan­ke für Dei­nen Bericht. Gruß Mar­cel

  3. Avatar von Bernadette

    Lie­ber Mar­tin,
    ich freue mich sehr, dass du Kir­gi­stan auch schon erle­ben durf­test und mei­ne Ein­drü­cke teilst. Wür­de auch jeder­zeit wie­der in das Land rei­sen und jedem eine Kir­gi­stan-Rei­se emp­feh­len 🙂
    Lie­be Grü­ße
    Ber­na­dette

  4. Avatar von Martin
    Martin

    Hal­lo Ber­na­dette,

    vie­len Dank für die ein­drucks­vol­le Beschrei­bung Dei­ner Rei­se. Da ich im 08/​15 sel­ber für 16 Tage in Kir­gi­si­stan ver­wei­len durf­te, kann ich Dei­ne Emp­fin­dun­gen mehr als nur nach­emp­fin­den, habe wäh­rend des Lesens und Sich­tens Dei­ner Bil­der regel­recht Gän­se­haut bekom­men. Sofort schwel­ge ich in Erin­ne­run­gen und bekom­me spon­tan Lust noch ein­mal dort zu sein.

    Du hast voll­kom­men recht, die­se Wei­te und Lee­re, gera­de wenn man Ruhe sucht, ist nicht nur wohl­tu­end son­dern hat – viel­leicht sogar – Sucht­po­ten­ti­al :o)

    Es ist ein wun­der­vol­les, teil­wei­se ein­sa­mes, Land, mit tol­len, war­men und hilfs­be­rei­ten Men­schen, fan­tas­ti­schen Land­schaf­ten, ins­be­son­de­re um die gro­ßen Seen her­um, all das ist wahr­haf­tig ein­drucks­voll und wirkt nach­hal­tig.

    Mir hat es sehr gut gefal­len und kann eine Rei­se dort­hin beden­ken­los emp­feh­len.

    Lie­ben Gruß
    Mar­tin

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert