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Cali ist kein Ort Kolumbiens, an dem sich als Tourist lange aufhält. Als Touristin noch weniger. Und wann, dann höchstens im Quartier „Granada“, woanders würde man hier ausgeraubt, so der Tenor. Auch der Taxifahrer will uns nicht in das Quartier „el Retiro“ fahren. Es sei mitten in der Nacht, was wir dort überhaupt verloren hätten. Er ist genervt.
„Ist es denn wirklich so gefährlich?“ frage ich Pedro, der soeben mit uns tanzen war. Ein Lacher entgeht seiner Kehle, seine Zähne treten weiss hervor. Er ist ziemlich amüsiert und scheint zugleich über meine Frage überrascht. Dann schüttelt er den Kopf und antwortet: „ Natürlich ist es das. Es ist gefährlich für mich, für ihn da drüben und für dich…es ist für alle gefährlich.“
José hat sein Auto, das nur aufgrund seiner abblätternden gelben Farbe aussieht wie ein Taxi, am Strassenrand geparkt. Dort wo alle Taxis stehen. Eigentlich sind sie gar keine richtigen Taxis, es sind herunter gekommene Autos, „Piratas“ genannt. Sie sind illegal, günstig und haben oftmals keinen Boden oder eine zugeklebte Tür. Die richtigen gelben Taxis sind in dieser frühen Morgenstunde nicht mehr auf den Strassen. Es sei zu gefährlich, ausserdem steige jetzt ohnehin keiner mehr ein, der Geld habe. José ist der dritte Fahrer, den wir bitten, uns ins berüchtigte Quartier zu fahren. Er hat sich die Diskussion schon mitangehört und schaut uns nicht mal an, als wir fragen, ob er uns mitnehmen würde. Er hat seinen Blick starr nach vorne gerichtet und schüttelt langsam den Kopf. Die Nacht ist heiss, hinter uns torkeln die betrunkenen Partiegäste aus dem Club, in dem soeben ein Dancehall-battle stattgefunden hat, und verschwinden langsam in den Gassen. Andere verabschieden sich mit dem ohrenbetäubenden Geräusch ihrer Motorräder. Es werden immer weniger, bald werden wir alleine hier stehen.
Wir, sonst eigentlich geübte Reisende, stehen nun an diesem verlassenen Strassenrand und haben keine Wahl. Wir müssen zurück in das Quartier, in das wir gestern unseren Rucksack abgeladen hatten. Es gibt hier weder Hotels noch andere Übernachtungsmöglichkeiten und es ist bereits 3.00 Uhr morgens. Der Fahrer schaut mich nun doch an. „Was wollt ihr eigentlich da?“
„Wir übernachten bei einem Freund.“
„Und wo ist dieser Freund?«
Ich sage ihm nicht, dass ich es nicht weiss, dass er längst hätte eintreffen sollen, und dass er auch nicht an sein Handy geht.
„Er ist zu Hause und wartet auf uns, er sagt es sei wirklich kein Problem. Ich kann ihn anrufen, dann können sie mit ihm sprechen.“ Das ist eine Lüge und ein Versuch mich selbst davon zu überzeugen, dass wir nicht verloren sind. Der Taxichauffeur, dessen Bauch sich prall gegen das Steuerrad drückt, seufzt. Ob er einlenken wird? „Ich bezahle gerne mehr, ich möchte einfach nach Hause.“ Mein letzter Zug.
Es dauert eine Weile, aber dann gibt er mir mit einer Kopfbewegung genervt zu spüren, dass wir einsteigen sollen. Ich habe das Glück, wie eine Kolumbianerin auszusehen und trotzdem mit einem Weissen unterwegs zu sein. Wir werden als reich und vertrauenswürdig eingestuft. Pedro ist auch froh, uns endlich los zu sein, setzt sich auf sein Motorrad, winkt uns zu, zeichnet das Kreuzzeichen in die Luft, küsst seine Kette und fährt mit einem ohrenbetäubenden Geräusch davon.
José, unser Chauffeur sagt kein Wort, und fährt dann endlich los. Das Auto holpert, eines der Fenster ist zugeklebt worden, einen Rückspiegel gibt es nicht und von den beiden Seitenspiegeln, hält nur noch der linke, der rechte hängt zersprungen in der Luft. Wir rasen durch das nächtliche Cali, nachdem wir ihn bezahlt haben. Er würde bei unserer Ankunft nicht warten wollen. Die grossen Häuser mit ihren schützenden Zäunen werden immer rarer, im Gegensatz dazu häuft sich der Abfall am Strassenrand, Hunde ziehen durch die Gegend und die Häuser haben bald keine richtigen Dächer mehr, sondern Wellbleche. Ab und zu schleicht eine dunkle Gestalt durch die unbeleuchteten Gassen. Die Strasse holpert, ich schwitze. Aus Angst? Was, wenn es schief geht? Wie konnten wir uns nur in diese unmögliche Situation bringen. Wir reden wenig, mein Freund und ich, fühlen uns aber beide wie naive dumme Touristen.
Hinter der Strasse Bolivar gibt’s nicht mehr viel, zumindest nicht mehr viel, das auf der Karte eingezeichnet wäre. In Wahrheit aber, erstreckt sich ein gesamtes Viertel über eine Fläche, die ich nicht ausmachen kann. „Dort drin sterben jeden Tag Menschen, aufgrund von Gewalt“, meint der Taxifahrer etwas wütend und hält an. Dann legt er den Rückwärtsgang ein, es ist ihm unwohl. „Es ist nicht mehr weit Señor, wir wohnen gleich da vorne“, sage ich in der Hoffnung, dass er uns doch hinfährt. Wir können hier unmöglich aussteigen. Er seufzt, gibt Gas und hält das Polizeiauto an, das uns entgegenfährt. Die schwerbewaffneten Polizisten und der Taxifahrer bringen uns mit Blaulicht zu dem kleinen blauen Häuschen, in dem wir wohnen. Dann warten sie alle, bis wir im Haus sind, dem letzten vor dem illegalen Quartier.
Das Leben ist ein Fest
„Hättet ihr nicht noch auffälliger heimkommen können?“ Reymon sitzt auf seinem Sofa und lacht als er die Geschichte des Vorabends hört. Eigentlich hätte er uns mit dem Motorrad abholen sollen, aber dann wurde er von der Polizei kontrolliert, grundlos mit aufs Revier genommen und durfte uns nicht darüber informieren. „Die Leute da draussen haben Angst von uns. Es grenzt an ein Wunder, dass ihr den Taxifahrer dazu überreden konntet, euch hierher zu fahren.“
Wir hatten Duvan Arizala vor ein paar Monaten als Reymon in Paris kennengelernt. Kaum einer kenne seinen richtigen Namen. Er gehörte zu den erkorenen seines Quartiers, die sich nach Europa getanzt hatten. Dank seines Talents, durfte er in Paris auftreten. Während seines Aufenthalts trainierte er im Kulturzentrum 104, wo auch mein Partner Lucas seine Tanztrainings abhielt und erzählte irgendwann, dass er keinen Schlafplatz hätte. Also nahm ihn Lucas zu uns nach Hause und so begegnete ich Reymon zum ersten Mal. Wir versprachen, ihn ebenfalls zu besuchen. Und hier waren wir, mitten in Kolumbien, Cali, El Retiro.
Tatsächlich ist die pulsierende Stadt im Süden Kolumbiens eine Hochburg der Bandenkriminalität und gehört zu den weltweit gewaltträchtigsten Orten. Die Stadt beklagt eine Mordrate von 64 pro 100.000 Einwohner, weltweit sind es zum Vergleich gerade mal 6,2. In Cali selber sind Morde am helllichten Tag keine Seltenheit.
Reymon trägt eine zerrissene Jeans und ein farbiges T‑Shirt von H&M. An seiner silbernen Halskette hängt eine kleine Maria, welche er regelmässig küsst. Er bindet seine schwarze Rastamähne zu einem Schwanz zusammen, steht auf und bedeutet mir mitzukommen. Vor dem kleinen Haus liegt eine Art Fussballfeld und dahinter erkennt man, was man als Tourist wohl als Favela bezeichnen würde. „Dieses gesamte Quartier gibt es offiziell gar nicht. Cali gehört zu den gefährlichsten Städten der Welt und dieses Quartier ist wahrscheinlich das gefährlichste in der Region. Aber wir sind ja hier und nicht dort drüben.“ Dieses unbenannte Quartier befindet sich rund 50 Meter entfernt.
Keiler, Reymons 5‑jähriger Sohn stellt sich neben uns und beobachtet mein Gesicht. Er versteht wohl nicht, was es da zu sehen gibt und zeigt mir die 2500 kolumbianischen Pesos, die er neben meinem Rucksack gefunden hat. Er habe sie entdeckt und darum gehören sie jetzt ihm. Ich bestätige ihm, dass er die Pesos – es ist nicht mal ein Schweizer Franken – verdient habe. Er öffnet das kleine Tor, steigt vorsichtig die Treppe hinunter und verschwindet in der staubigen Strasse. Kurze Zeit später kommt er mit einem breiten Lächeln zurück. „Ich habe ein Geschenk für dich!“ Er öffnet seine kleine Hand und bedeutet mir eines der drei Stück Schokolade zu nehmen.
Vanessa, Reymons Schwester macht Frühstück, es gibt Eier mit Kochbananen. Auf der Strasse stolzieren immer Mal wieder braune Pferde vorüber und ziehen Wagen mit Menschen und Waren nach sich .Türen und Fenster der Wohnung sind offen, aus den Boxen auf der Strasse dröhnt Salsa-Musik, es fühlt sich an wie ein spezieller Anlass, ein Fest. Reymon lacht, so ist es nicht. „Hier hörst du von früh morgens bis spät abends Musik, dazu braucht es kein Fest, das Leben selbst ist eins.“
Das Dorf, das es nicht gibt
Noch am selben Nachmittag gehen wir in das illegale Quartier. Reymon ist etwa 1.80m gross, seine schwarze Rasta-Mähne fällt ihm über den Rücken. Sein Gesicht hat die angenehmen Züge eines zuverlässigen Menschen. In den Blicken der Quartierbewohner erkennt man Freude und Respekt zu gleich. „Ihr seid meine Gäste, hier passiert euch nichts.“ Den Gedanken, dass wir mit Blaulicht nach Hause gekommen sind, scheint ihn nach wie vor zu amüsieren. Die Strasse ist staubig, auf dem Fussballfeld spielen Kids in abgetragenen Schuhen. Immer mal wieder türmen sich Müllhaufen. Die ausschliesslich dunkelhäutigen Menschen schauen uns verblüfft an. Einige Kinder treten näher, amüsiert folgen sie uns.
Ein paar ältere Herren sitzen vor ihren Hütten, durch die Gitter vor den Türen erkennt man Frauen, die sich gegenseitig die Haare flechten. Reymon bleibt stehen, hämmert an ein Wellblech und ruft: „Papà, ich will dir jemanden vorstellen.“ Das Haus seines Vaters ist ungefähr so gross wie ein Schweizer Gartenhäuschen und wirkt in seiner Art allerdings viel provisorischer. Ein älterer Herr kommt lächelnd zum Vorschein. Reymon stellt uns vor und erzählt uns, dass er hier aufgewachsen sei und er sich heute aber ein Haus hinter dem Fussballfeld leisten könne, damit sein Sohn in besseren Verhältnissen aufwachen könne.
Cali: Hauptstadt des Tanzens
Es scheint alles so friedlich, kaum vorstellbar, dass es sich hier um einen der gefährlichsten Orte Kolumbiens handeln soll. Trügerische Ruhe? „Ja, gekämpft wird vor allem im Untergrund, aber die Menschen hier leben trotzdem glücklich.“ Kinder schauen schüchtern hinter den Hauswänden hervor, von weit hinten erkling Musik. Ich folge der Musik und sehe, was ich anfangs in Cali gesucht hatte. Ganz hinten, auf staubigem Boden und mit nichts weiter als ein paar schlechten Musikboxen, tanzen sie. Wie gestern in jenem Club, wie heute Morgen auf der Strasse. Sie tanzen, wie ich es noch nie zu sehen bekommen habe. „Es gibt hier viele Drogen, das Tanzen ist die wohl am meisten verbreitete“, erzählt Reymon stolz.
Er tanzt sich nach New York und Paris
Dass er heute auf der anderen Seite des Fussballfeldes leben kann, hat Reymon auch dem Tanzen zu verdanken. Als Tanzlehrer in den wohlhabenderen Quartieren Calis, kann er seinen Lebensunterhalt gut bestreiten und für seine kleine Familie sorgen. Im vergangenen Jahr erlangte er zudem die Hauptrolle im Film „Somos Calentura“, welcher diesen Herbst in den kolumbianischen Kinos erscheint und nächstes Jahr auch in Europa gezeigt werden soll.
Der Film erzählt vom Leben junger Menschen in der Stadt Buenaventura an der Pazifikküste. Reymon spielt den 23- jährigen Hauptdarsteller Harvey, der inmitten düsterer Zukunftsaussichten zum dritten Mal sein Leben riskiert, um per Schiff illegal in die Vereinigten Staaten eindringen zu können. Aber wie bei den vorhergehenden Versuchen, wird Harvey vom Deck des Schiffes ins offene Meer geworfen. Zusammen mit seinen drei Freunden teilt er eine Leidenschaft, die stärker ist als das Elend ihrer Lebenssituation: Tanz und Musik. Ihre letzte Hoffnung ist die Teilnahme an den nationalen Meisterschaften des urbanen Tanzens. Der Zuschauer kriegt im Film verschiedene kolumbianische Tänze zu sehen, die in diesen Regionen des Landes verbreitet sind. „Die Hauptdarsteller versuchen, Gewalt durch Musik zu ersetzen“, erklärt Reymon, dessen Leben sehr viel Parallelen mit jenem Harveys aufweist. Auch er hat einen Teil seiner Kindheit in Buenaventura verbracht und hofft nun mit dem Tanzen seine Lebenssituation und jene seines Sohnes Keiler verbessern zu können.
Dass in den vergangenen Jahren die Kultur des Pazifik die kolumbianische aber auch die Weltöffentlichkeit besonders auf sich gezogen hat, war vor allem eine Folge des bewaffneten Konflikts. „Für mich ist der Film sehr wichtig. Damit können sich die Menschen hier in Kolumbien identifizieren und jene ausserhalb von Kolumbien sehen, dass es nicht nur mit Pablo Escobar, Drogen oder Guerrillias gibt. Wir haben Kunst und viele talentierte Menschen. Kolumbien ist ein Land, deren Bewohner singen und tanzen und Gäste gerne willkommen heissen.“
Zwei Wochen nach unserem Blaulicht-Vorfall wollen wir weiter ziehen. Wir räumen unsere paar Sachen in den Rucksack und geben das Zimmer zurück an Reymon, der uns seine Ehe-Matraze überlassen hat und zusammen mit seiner Frau, seinem Sohn und seinen beiden Schwestern in demselben kleinen Zimmer zu schlafen. Wir werden bis zu einem richtigen gelben Taxi begleitet und während wir durch da Quartier marschieren, wird unser Gefolge immer grösser. Als ich Keiler hochhebe, um ihn ein letztes Mal zu drücken sagt er tröstend: „Keine Sorge, eines Tages werde ich nach Paris kommen.“ Wenige Minuten später sitzen wir stillschweigend im Taxi, fahren ein letztes Mal durch die Strassen Calis. Zu unserer linken stehen wie bereits bei unserer Ankunft, hunderte von Frauen vor dem Villanueva Prison, um ihre Männer zu besuchen. Der Chauffeur lacht, schaut in den Rückspiegel und meint: „Was hattet ihr denn in dieser Gegend zu suchen?“
Lucas antwortet nur knapp: „Wir haben Freunde besucht.“ Er stellt keine weiteren Fragen, sein Gesichtsausdruck spricht für sich.
Es fällt uns schwer zu gehen, wir hatten uns an Vanessas Kochbanahnen, das Geräusch der vorbeiziehenden Pferdekutschen und der überdrehten Musik, Keiler und all seine Freunde gewöhnt. Aber nicht nur das, nach der mehrmonatigen Reise durch Kolumbien, waren es diese Tage im Quartier von El Retiro, die mir ein Kolumbien gezeigt haben, das ich so schnell nicht wieder vergessen werde.
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