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Einmal Kaschmir von der Terrasse eines Hausbootes zu erleben, dabei auf die schneebedeckten Berge des vorderen Himalayas zu schauen, Kashmiri Khawa, einen goldfarbenen Tee, zubereitet mit Safran, Zimt und Mandeln, zu trinken und in orientalisch-kolonialem Ambiente ein paar Tage die Seele baumeln zu lassen, ist ein Gedanke, der uns schon lange begeistert.
Den Briten verdanken wir diese Idee, denn als sie im 19. Jahrhundert Indien unter ihre Kontrolle bringen, haben sie lange Zeit unter dem heißen und feuchten Klima des Subkontinents zu leiden. Erst die Flucht in den Norden, an den Rand des Himalayas, verschafft den müden Briten Linderung. Doch sie stehen vor einem neuen Problem. Die lokale Regierung Kaschmirs erlaubt es Ausländern weder ein Grundstück zu kaufen, noch zu mieten. Also ersinnen die britischen Kaufleute und Handlungsreisende einen Plan; wenn nicht auf dem Land, dann eben auf dem Wasser.
Am Ufer des Dal Sees, im Zentrum der alten Handelsstadt Srinagar, lassen sie luxuriöse Hausboote errichten. Geräumig sind sie, charmant und natürlich richtig britisch. Schwere Kronleuchter hängen über massiven, reich verzierten Möbeln, dicke Polster und weiche Teppiche dämpfen die Schritte, Deckenvertäfelungen aus Wallnussholz schmücken die Zimmer und auf der Veranda mit Blick auf Wasser und Berge, prostet man sich mit Whiskey zu.
Heute liegen in Srinagar hunderte Hausboote am Ufer des riesigen Dal Sees. Es sind längst nicht mehr britische Geschäftsmänner, die hier dem heißen indischen Sommer entfliehen, sondern Touristen aus allen Teilen der Welt, die in Kaschmir Erholung suchen.
Doch bevor wir Kaschmir, bevor wir Srinagar erreichen, liegt ein langer und beschwerlicher Weg vor uns. Wir verlassen das kleine Bergstädtchen Chamba, berühmt für seine mehr als tausend Jahre alten hinduistischen Tempel, in der Provinz Himachal Pradesh. Am Ufer des Flusses Ravi gelegen, verschlägt es kaum ausländische Touristen hierher, weshalb wir von allen Seiten wie eine Rarität ungeniert beobachtet werden. Als wir mit unseren Rucksäcken in der Morgensonne am Straßenrand stehen, vergisst die Belegschaft einer nahen Tankstelle minutenlang ihre Arbeit. Stattdessen reihen sie sich vor uns auf, um uns genauer zu beobachten.
„Where are you from?“
„Where are you going?“
„Getting a lift for free? Nobody will give you a lift for free!”
Wir hören die immer gleichen Fragen und Aussagen. Mittlerweile haben wir es aufgegeben zu erklären, dass wir von Deutschland per Anhalter nach Indien gekommen sind und dass es durchaus möglich ist, auch hier eine Mitfahrgelegenheit zu ergattern.
Tatsächlich hält nach etwa einer Stunde des Wartens ein Kleinwagen am Straßenrand. Wir steigen ein und zusammen mit dem freundlichen Fahrer machen wir uns auf den Weg in Richtung Dalhousie. Wir verfallen schnell in ein Gespräch über den Lauf der Welt, über das Leid der Leistungsgesellschaft und mögliche Auswege.
Unser Fahrer schwört auf Yoga und Atemübungen. Seiner Meinung nach lassen sich alle Probleme des Alltags wortwörtlich wegatmen. Mit der richtigen Atmung gegen die Unzulänglichkeiten der Welt; eine Theorie, die ich mir nur zu gerne aneignen möchte. – In Banikhet, kurz vor Dalhousie, trennen sich unsere Wege. Wir wollen weiter hinab in die nordwestliche Ebene. Unser Fahrer hat eine Besprechung in der Schule seiner Tochter. Wir steigen aus.
Mittlerweile steht die Sonne in ihrem Zenit. Es ist heiß, die Straße staubig. Laut hupender Verkehr stört die Mittagsruhe. Wir warten im Schatten eines Baumes, kurz hinter der Ortsgrenze. Der Verkehr ist mäßig und bisher sind wir nicht besonders weit gekommen. Doch wir haben Glück. Elektrisch regulierte Fensterscheiben eines weißen Mittelklassewagens senken sich. Im Inneren sitzt ein Mann in gelbem Shirt und drei Mädchen in rot-weißer Schuluniform.
Es ist Wochenende und die Internatsschülerinnen sind mit ihrem Fahrer auf dem Weg nach Jammu – auf dem Weg zurück in ihre Elternhäuser. Trotz der etwas ungemütlichen Platzsituation rutschen die Mädchen gerne für uns zusammen und gemeinsam verbringen wir die nächsten 180 Kilometer in freundschaftlicher Unbekümmertheit.
Rajika, 14 Jahre alt, lernt mit ihren Mitschülerinnen in Dalhousie in einer der besten Privatschulen Indiens. Für ihre Ausbildung zogen ihre Eltern, die einst ins Vereinte Königreich auswanderten, zurück in die alte Heimat. Mit charmantem britischem Akzent berichtet das auffällig wohlerzogene Mädchen von ihrem baldigen Klassenausflug: eine Woche Paris.
Viel zu schnell erreichen wir Jammu und verlassen die reizenden Mädchen und ihren herzlichen Fahrer beinahe wehmütig. In der 650.000 Einwohner zählenden Stadt stecken wir dann erstmal fest. Wir wollen weiter in Richtung Srinagar, doch die Sonne neigt sich bereits dem Horizont und wie wir bald feststellen, stehen wir an einer fürs Trampen völlig ungeeigneten Stelle mitten in der Stadt. Doch auf die Hilfsbereitschaft der Inder ist Verlass: Mit zwei PKWs schaffen wir es hinaus aus Jammu und stehen kurz vor Sonnenuntergang an der Schnellstraße nach Udhampur, auf dem Weg nach Srinagar. Es ist ein Militäroffizier außer Dienst mit seinem Sohn, der uns noch am selben Abend bis nach Udhampur bringt. In energisch-zackigem Ton werden wir ausgefragt. Wo kommen wir her und wo gehen wir hin? Die militärische Erziehung des Älteren macht auch vor Privatgesprächen nicht halt.
In Udhampur finden wir nur mit einiger Schwierigkeit eine Unterkunft. Irgendwo in der Stadt wird am folgenden Tag irgendeine wichtige Prüfung abgenommen. Alle Hotels und Gasthäuser sind ausgebucht; Prüflinge haben sich eingemietet. Erst in einem dunklen, heruntergekommen Teil Udhampurs finden wir ein dunkles, heruntergekommenes Hotelzimmer.
Am nächsten Morgen stehen wir erneut am Straßenrand und es dauert gar nicht lange, als uns ein Mann um die 50 Jahre fröhlich in seinen Wagen bittet. Die Straße bis nach Srinagar ist in einem miserablen Zustand. Staubig, kurvig, übersät mit Schlaglöchern und völlig überfüllt. Es braucht Zeit, um diese Umstände zu überwinden und so freut sich unser Fahrer, dass er bis nach Srinagar Gesellschaft hat. Er sorgt dafür, dass im Inneren des Autos keine Minute Stille herrscht. Ununterbrochen sprudelt es aus ihm heraus – stundenlang.
Von Udhampur nach Srinagar sind es lediglich 230 Kilometer, doch wir werden für die Strecke satte 15 Stunden brauchen. Bereits nach wenigen Minuten gemeinsamer Fahrt stecken wir im ersten Stau. Zwei Stunden bewegen wir uns nicht einen Zentimeter von der Stelle. Dabei ist die Ursache der Verzögerung nicht auszumachen. Kein Unfall, keine Baustelle, kein Erdrutsch, der bereinigt werden müsste.
Es sind die Inder selbst, die mit ihrer „Fahrkunst“ für ein heilloses Durcheinander sorgen. Auf der kurvigen Straße ist sich kaum jemand zu Schade, die einspurige Fahrbahn als eine drei- oder vierspurige Fahrbahn zu nutzen. Es wird gedrängelt, gehupt und jede (Un-)Möglichkeit zum Überholen genutzt. „Rücksicht für Niemanden“, scheint die oberste Verkehrsregel in Indien zu sein, die vor allem von Taxifahrern sehr ernst genommen wird. Keine Rücksicht schon gar nicht für den Gegenverkehr. Dass es hier nicht im Minutentakt zu tödlichen Unfällen kommt, ist eines der großen Wunder Indiens.
Zwischen dieser lauten, nach Abgasen stinkenden Blechlawine, die sich trotz des veranstalteten Chaos nur mühsam nach vorne schiebt, zwängen sich immer wieder riesige Schaf- und Ziegenherden. Die Tiere werden im Sommer von ihren Hirten zu neuen Weidegründen getrieben und verengen die ohnehin schon schmale Straße noch weiter.
Als wäre das nicht alles schon ausreichend, um regelmäßig hinter dem Steuer auszurasten, verstopfen auch noch tonnenschwere LKWs die Straße. Einem dieser klapprigen, schaukelnden Monster hinterher schleichen zu müssen, lässt uns ebenso in Trance fallen wie die nicht enden wollenden Monologe unseres Fahrers.
Doch irgendwann ist all das überstanden. Wir verlassen die Berge und fahren hinein ins Kaschmirtal. Srinagar und der weitläufige Dal See liegen vor uns.
Das Hausboot „Chicago“ ist unsere Basis in Srinagar. Ganz leicht wankt das Boot im Takt der Wellen auf und ab. Ganz leicht versinkt jeder Schritt im dicken Teppich des Wohnzimmers. Ganz leicht fallen wir auf weiche Betten und mit uns fällt der Ballast einer anstrengenden Reise durch die Berge.
Srinagar ist damals wie heute eine Handelsstadt. Srinagar ist lebendig und geschäftig und alles andere als indisch. In den Straßen der Altstadt erinnern wir uns mehr an Pakistan; an Rawalpindi, Karachi oder Lahore, als an irgendein Indien, das uns jemals vorgestellt wurde. Frauen verschleiern sich mit der Burka, Männer tragen lange Bärte, der Muezzin ruft zum Gebet. Die muslimische Gemeinschaft stellt in Srinagar, in Kaschmir allgemein, den überwiegenden Teil der Bevölkerung – ein Grund für mitunter gewalttätige Auseinandersetzungen mit den hinduistischen Autoritäten in der Vergangenheit.
Srinagars Altstadt ist geprägt vom morbiden Charme kolonialer Herrlichkeit. Wie es die Geschichte so will, fällt Kaschmir 1846 in britische Hände, wird zum Fürstenstaat ernannt und zum Protektorat der britischen Krone erklärt. Heute siecht der Stolz einstiger reicher Händler vor sich hin. Die Gebäude sind nun sich selbst überlassen, darbend, ungeschönt. Farbe blättert von Fensterrahmen, rostendes Wellblech liegt auf den Dachbalken, in den Ecken sticht der Geruch von Ammoniak in die Nase. Ein paar Hunde streunen umher.
Allein in den Erdgeschossen lebt der Handel weiter. Gemüse- und Obstverkäufer preisen ihre Waren an. Gurken, Zwiebeln, Kartoffeln, Kohlrabi, Zitronen, Salat, Trauben. In den Kiosken nebenan gibt es allerlei Snacks, Knabbereien und Zigaretten. Aus vielen Türen und Fenstern dringt das Hämmern, Feilen, Kreischen und Rattern des Handwerks hinaus auf die Straße. Schmiede und Schneider arbeiten in kleinen Ein-Mann-Manufakturen. Kiloschwere Fleischmasse hängt an Fleischerhaken. Tischler stellen die unverwechselbaren Holzarbeiten her, für die Kaschmir seit Jahrhunderten berühmt ist. Pferdekarren klappern über den Asphalt. Autorikschas drängeln sich hupend von einem Straßenende zum nächsten. Immer wieder werden wir mit einem freundlichen „Welcome to Kashmir“ gegrüßt.
Zwischen all der Geschäftigkeit auf der Straße tauchen wir stets in Oasen der Ruhe ein. Moscheen in reich verziertem kaschmirtypischen Holzdesign, geschmückt mit allerlei bunt bemaltem, schön anzuschauendem Pappmaché. Die schönste Moschee Srinagars ist wohl die Khanqah Shah-i-Hamadan. Die um 1400 errichtete Konstruktion aus Holz und Backstein ist eines der Wahrzeichen der Stadt.
Die bei weitem größte Moschee Srinagars ist jedoch die Jama Masjid. Errichtet im Jahr 1672 ist der zentralasiatische Einfluss ihrer Bauherren, den Moguln, kaum zu verkennen. Viel Holz und das pagodenähnliche Dach lassen die Moschee wie das Schloss eines asiatischer Herrscher á la Dschingis Khan erscheinen. 378 Säulen, jede einzelne aus dem Stamm einer Himalaya-Zeder geschnitzt, stützen das Dach unter dem bis zu 30.000 Gläubige Platz finden. Im Innenhof ziehen ein paar Vögel zwischen den Dächern umher und allein das leise Rauschen des Brunnens durchdringt die Stille. Wir genießen die Ruhe, schöpfen etwas Kraft und kehren zurück in den Trubel der Stadt und weiter an das Ufer des Dal Sees.
An der Uferpromade liegen dutzende Schikaras, kleine Boote, einer venezianischen Gondel gleich, die darauf warten Passagiere oder Waren über den See zu befördern. So gelangen nicht nur Touristen zu ihren Hausbooten, sondern auch Schulkinder in ihre Klassenräume, Männer und Frauen an ihre Arbeitsplätze und wir weit hinaus auf den See.
Gleichmäßig sticht unser Steuermann mit dem herzblattförmigen Paddel in die Wasseroberfläche. Wir liegen währenddessen ausgestreckt auf weichen Polstern unter einem schattenspendenden Sonnendach. Kleine Wellen erheben sich vor uns am Bug, als wir langsam durch die schmale Südspitze und weiter hinaus auf den See gleiten. Unzählige Händler schippern mit uns durch die Enge. Sie verkaufen Safran und Schmuck oder preisen Fotoshootings in traditioneller Kaschmiri-Kleidung an. Das alles sagt uns jedoch nicht zu und wir lassen uns lediglich zu einem Tee am schwimmenden Imbissstand überreden.
Doch hinter den Geschäftemachern kehrt Ruhe ein. Als sich der See öffnet, bleiben die Händler zurück und vor uns breitet sich die große, spiegelglatte Weite des Sees aus, die nur hier und da von ein paar Seerosenfeldern unterbrochen wird. Wir gleiten hinaus, immer weiter, bis Srinagar in der Ferne beinahe verschwindet. Der See und die Berge sind nun die einzigen noch verbleibenden Konstanten.
Wir gleiten beinahe bis ans andere Ufer des Sees, gegenüber der Stadt. Im 16. Jahrhundert ließen hier die früheren Mogulherrscher Kaschmirs prachtvolle Gärten anlegen, um mit ihren Frauen und Hofdamen darin zu flanieren.
Terrassenförmig führen die Gärten von den Hängen der ufernahen Hügel Richtung Wasser. Kleine grüne, symmetrische Paradiese – vollkommen durchgeplant. Jede Pflanze hat ihr Gegenstück, jeder Baum sein Pendant. So entstehen Alleen, Blumengärten, Wasserläufe und Springbrunnen.
Der schönste und größte Garten ist der Nishat Bagh. Begrenzt vom Dal See auf der einen und den Bergen auf der anderen Seite haben wir einen fantastischen Blick von den Terrassen über das Wasser des Sees. Vor diesem Panorama trollen sich jede Menge Inder. Es ist Sonntag und Sonntag scheint Gartentag zu sein. Ganze Familien, Jungendgruppen und vor allem Paare bevölkern die Grünflächen, liegen im Gras, planschen in den Brunnen, richten ihre Pilotenbrillen und posieren wie Boygroups aus den 90ern für unschlagbare Handyfotos und Facebook Uploads.
Wir verlassen de Gärten und kehren zurück zu unserem Hausboot. Über dem Ufer des Sees geht die Sonne unter und wir genießen Kahwa aus einer kolonial anmutenden Porzellantasse. Unsere Füße baumeln über dem Wasser und mit ihnen unsere tiefenentspannten Seelen.
Wir bedanken uns bei Chicago Groups of Houseboat für die Einladung. Alle dargestellten Meinungen sind unsere eigenen.
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