Gedanken zur Kirschblüte

Ich habe gera­de die Tür zu mei­nem neu­en Hos­tel Zim­mer geöff­net und will mei­nen Ruck­sack able­gen, als mich eine jun­ge Ame­ri­ka­ne­rin anspricht: „Ich fah­re zum Han River. Dort sind die Kirsch­blü­ten beson­ders schön. Kommst du mit?“ Es sind mei­ne ers­ten Stun­den in Süd­ko­rea. Das ich genau zur Blü­te­zeit hier bin, ist mehr Zufall, als geplant. Ein schö­ner Zufall. Weni­ge Minu­ten spä­ter stei­ge ich in die U‑Bahn nach Yeouina­ru.

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Der Weg vom Gleis bis zur Trep­pe, die uns nach oben auf die Stra­ße führt, scheint unend­lich lang zu sein. Ich füh­le mich wie­der wie damals als klei­nes Mäd­chen, kurz vor dem Aus­pa­cken der Weih­nachts­ge­schen­ke: Auf­ge­regt, vol­ler Erwar­tung, gespannt was folgt und doch ist da die­se lei­se Angst viel­leicht ent­täuscht zu wer­den.

Da sind sie: Die Kirsch­blü­ten! Noch schö­ner als in mei­ner ohne hin schon schö­nen Vor­stel­lung, in vol­ler Pracht blü­hend an den Ästen der Bäu­me an den Stra­ßen­rän­dern. Sofort sind wir mit­ten drin. Ver­lieb­te Paa­re bah­nen sich Händ­chen hal­tend einen Weg durch die Mas­se. Wir tun es ihnen gleich. Vor­bei an meh­re­ren Ess­stän­den, wel­che auf­ge­spieß­te Würs­te, Mais und war­me Geträn­ke ver­kau­fen. Es ist kalt an die­sem April­tag. Der Früh­ling ist jung und die Son­ne, die bald unter­ge­hen wird, noch schwach.

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Es gelingt uns nur sehr lang­sam einen Fuß vor den ande­ren zu set­zen, doch wir haben kei­ne Eile. Obwohl sich so vie­le Men­schen auf engs­tem Raum sam­meln, herrscht kei­ner­lei Hek­tik. Ich habe Zeit mich auf die neue Umge­bung ein­zu­las­sen, lau­sche den Klän­gen der mir unver­ständ­li­chen Spra­che und beob­ach­te die Kör­per­be­we­gun­gen der Leu­te, ihren zum Teil aus­ge­fal­le­nen Klei­dungs­stiel und ihre sanf­ten Gesichts­zü­ge. Vor mir liegt eine her­un­ter­ge­fal­le­ne Blü­te auf dem Boden. Ich hebe sie auf und ein süßer Duft weht um mei­ne Nase.

Kirsch­blü­ten ste­hen für Schön­heit, Auf­bruch und die Ver­gäng­lich­keit aller Din­ge. Die­se Eigen­schaf­ten sind es wohl, die hun­der­te Men­schen heu­te hier her locken. Jetzt und nicht spä­ter. Denn wenn man weiß, das etwas Schö­nes bald enden wird, ach­tet man dar­auf es zu genie­ßen, ist dank­bar.

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Wir sind die ein­zi­gen west­li­chen Tou­ris­ten. Mit Hand­ges­ten und einem freund­li­chen Lächeln kau­fen wir eine Schüs­sel frisch zube­rei­te­ter Tteok­bok­ki, ein belieb­ter korea­ni­scher Snack aus wei­chem Reis­ku­chen, Fisch­ku­chen und süßer Chi­li-Sau­ce. „Oh my god that’s way too spi­cy!“ Ich kön­ne alles allei­ne essen. Auch mir ist es zu scharf, doch mein Magen knurrt – der Ver­zehr des Sand­wi­ches, wel­ches mir im Flug­zeug ange­bo­ten wur­de, ist schon eine Wei­le her…

Die Ame­ri­ka­ne­rin will zurück ins Hos­tel, ihr sei kalt und es wer­de bald dun­kel. Ich blei­be. Gemüt­lich schlen­de­re ich unter den Bäu­men hin­durch der Stra­ße ent­lang. Kichern­den Mäd­chen hal­ten ihre Sel­fie-Sticks in die Höhe und ver­su­chen den Moment ein­zu­fan­gen. Ein Vater trägt sei­ne klei­ne Toch­ter auf den Schul­tern. Eini­ge Geschäfts­män­ner has­ten in Anzug und Kra­wat­te an mir vor­bei.

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Je wei­ter ich gehe, des­to mehr nimmt die Men­schen­men­ge ab. Wir sind nur noch weni­ge, die das rosa-wei­ße Blü­ten­meer bestau­nen, immer mal ste­hen blei­ben und wie­der wei­ter­ge­hen. Eine jun­ge Frau drückt mir ihr Smart­phone in die Hand mit der Bit­te ein Foto von ihr zu schie­ßen. Sie posiert, ich drü­cke auf den Aus­lö­ser. „In zehn Tagen ist der gan­ze Zau­ber schon wie­der vor­bei. Viel­leicht sogar frü­her, die Wet­ter­vor­her­sa­ge ver­heißt nichts Gutes – genieß die schö­nen Kirsch­blü­ten, so lan­ge sie noch da sind!“

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»Trifft das nicht auf alles im Leben zu?“, ant­wor­te ich, wor­auf  mich die jun­ge Frau ver­wirrt anlä­chelt, sich für das Foto bedankt und höf­lich ver­ab­schie­det. In Gedan­ken ver­sun­ken betrach­te ich die rosa­far­be­nen Blü­ten und fra­ge mich, ob wir über­haupt noch in der Lage sind Momen­te im hier & jetzt zu genie­ßen. Gelingt es uns trotz Reiz­über­flu­tung und All­tags­stress wert­zu­schät­zen, was wir haben und zwar nicht erst dann, wenn es bereits fort ist? Sind wir zu beschäf­tigt für die wesent­li­chen Din­ge? Für das Glück? Kön­nen wir einen per­fek­ten Moment erken­nen?

Ein Moment wie die­ser, per­fekt, weil ich nichts muss. Ein Moment, in dem alles Sinn ergibt. Man nach nichts strebt, ein­fach mal still steht, tief atmet, inne hält. Ist dafür noch Zeit in der heu­ti­gen Gesell­schaft?

Alles ist der Ver­gäng­lich­keit aus­ge­setzt. Alles ist im Wan­del. Es ver­geht. Wir ver­ge­hen.

Die Kind­heit geht zu Ende, erscheint plötz­lich weit weg. Man wird erwach­sen, meis­tert Hür­den, fällt hin. Steht wie­der auf und ver­sucht es erneut. Das ist das Schö­ne der Ver­gäng­lich­keit; Die neu­en Chan­cen. Schliesst sich eine Tür, öff­net sich die Nächs­te. Ein Ende bedeu­tet immer auch ein neu­er Anfang. Bis irgend­wann auch das Leben zu Ende geht.

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Es ist doch das Glück­lich­sein nach dem wir stre­ben, nicht eine Kar­rie­re, ein teue­res Auto, eine eige­ne Woh­nung, eine Fami­lie oder eine Welt­rei­se. Sind das nicht alles nur Hilfs­mit­tel, um das eigent­li­che Ziel zu errei­chen? Doch war­um den­ken wir, dass uns die­se Din­ge glück­lich machen? Weil es uns die Wer­bung ver­spricht? Weil es für ande­re so funk­tio­niert? Weil es der Norm der Gesell­schaft ent­spricht? Oder weil wir tat­säch­lich aus tiefs­tem Her­zen dafür bren­nen?

Glück bedeu­tet für jeden etwas ande­res. Es gibt kein Rezept, kei­ne Anlei­tung. Daher ist es wohl auch so schwer es zu fin­den. Doch sol­len wir das Stre­ben nach Glück des­halb gar nicht erst ver­su­chen? Soll­ten wir die Zeit, die wir haben, nicht dafür nut­zen, um das zu tun was wir wirk­lich wol­len? Doch wis­sen wir über­haupt was wir wol­len? Hören wir uns sel­ber zu? Ach­ten wir auf die Signa­le, die uns unser Kör­per mit­zu­tei­len ver­sucht? Setz­ten wir uns mit uns selbst aus­ein­an­der? Weißt du, wer du bist?

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Ich ste­he allei­ne auf dem Bür­ger­steig und stel­le mir vor, wie die Stra­ße bald aus­se­hen wird – grau und gewöhn­lich, wie jede Ande­re auch. Was sie heu­te so beson­ders macht, könn­te der Regen mor­gen schon zer­stört haben. Was wir heu­te haben, könn­te mor­gen nicht mehr da sein. Wer das akzep­tiert, kann den Fokus auf den Moment rich­ten, ihn inten­si­ver wahr­neh­men, kann die Wirk­lich­keit tie­fer erfah­ren, wird wach für den Augen­blick.

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Die Kirsch­blü­ten wer­den lang­sam von den Ästen fal­len. Eine nach der ande­ren. Oder sie wer­den vom Regen in kür­zes­ter Zeit weg­ge­schwemmt. Tat­sa­che ist: Bald sind sie weg. Und mit ihnen die Hoff­nung auf ewi­ges Leben. Ihr Zer­fall führt uns die Ver­gäng­lich­keit des Seins vor Augen.

Alles hat ein Ende. Doch ist das ein Grund trau­rig zu sein? Ist es nicht viel mehr unser größ­tes Glück, weil es uns erin­nert an das zu den­ken was wirk­lich wich­tig ist?

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