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Kathmandu springt den Besucher an, so heißt es. Doch das ist viel zu harmlos. Auch Kinder und Hunde springen einen an. Diese Stadt stürzt sich auf einen. Es beginnt mit kafkaeskem Behördenirrsinn bei der Ankunft am Flughafen. Man muss das Visum bar bezahlen, zieht am Bankautomaten nepalesische Rupien, die man an der Wechselstube daneben gegen US-Dollar tauschen muss, der nepalesische Beamte akzeptiert nur echtes Geld. Vier Pass-Kontrolleure und eine völlig chaotische Gepäckausgabe später, taumelt man hinaus vor das Flughafengebäude und hat das Gefühl, es werde mit staubigen Lappen auf einen eingeschlagen. Von allen Seiten.
Bunte Häuser im grauen Smog: Landeanflug über die Dächer von Kathmandu, das von oben noch ganz harmlos aussieht
Auf der anderen Seite der Straße, hinter einem Geländer, steht eine Horde von Männern und brüllt: „Need Taxi?“ „Nice Hotel!“ „Taxi!“ „Trekking!“ Noch schützen einen Polizisten. Offenbar dürfen die „Anbieter“ die Fahrbahn nicht überqueren. Doch unerbittlich schieben uns die Ordnungskräfte weiter, bis Susanne und ich eintauchen in das Gewusel der Hoffnungsvollen. Sie bestürmen uns, reden unaufhörlich auf uns ein, zerren und zupfen an Kleidung und Gepäck, geraten untereinander in Streit, wenn sie den Eindruck haben, man interessiere sich für einen von ihnen. Endlich entdecken wir in der krakeelenden Menge das Schild der Abholer, wir schlagen uns zu ihnen durch, werden weiter geknufft und bedrängt, bis wir uns auf die Rückbank einer betagten Toyota-Limousine retten. Tür zu. Man hört noch wie Hände auf das Autodach schlagen. Einatmen. Orientieren.
Staub, Schutt und frische Wäsche: Eine Markt mitten in der Stadt und eine typische Straße voller Müll und Bauschutt
Der Fahrer, ein bulliger Typ mit Glatze und freundlichem Gesicht, quetscht sich hinter das Lenkrad. Da wo das Radio war, klafft ein Loch. Die Sitze sind weich. Auf dem Boden liegen handgeknüpfte Teppiche. Mit kreischender Kupplung setzt sich der Wagen in Bewegung. An der Ausfahrt des Flughafenparkplatzes gerät der Fahrer in Streit mit einem Wärter und gewinnt offenbar. Es geht weiter. Über eine breite Ausfallstraße brausen wir in Richtung Stadtzentrum. Die Tachonadel steht still. Doch die Reise beginnt mit enormem Tempo.
Ein Strom aus zerbeulten und oft nur notdürftig reparierten Fahrzeugen – Kleinbusse, Lastwagen, Pkws, Mopeds – kämpft sich unter ständigem Hupen über eine von riesigen Schlaglöchern zerfurchte Straße. Die scheint zweispurig zu sein. Doch es gibt keine Markierung. Manchmal fahren vier bis fünf Wagen nebeneinander, verkeilen sich in Kreisverkehren. Die Fahrer drängeln sich in jede Lücke. Keiner sieht den anderen an. Noch mehr Hupen. Bis einer nachgibt. Und dann geht es auf wundersame Weise weiter. Bis zum nächsten Kreisverkehr.
Ein Polizist steht mitten im Chaos auf einem Podest und zupft an seiner Uniform. Er trägt einen Mundschutz, denn eine gewaltige Staub- und Smogwolke liegt über der Stadt, die grau wirkt, obwohl die Häuser grellbunt sind. Auf den Bürgersteigen hektische Betriebsamkeit. An offenen Ständen wird Obst, Gemüse, Wasser und rohes Fleisch verkauft. Frauen in bunten Saris hasten vorbei. Männer in Businesskleidung. Ein Greis mit einer furchtbaren Missbildung hält seine Hände empor. Ein kleines Mädchen schläft auf dem Boden, die Schüssel, in der sie Geld sammelt, ist leer.
Hauptstadt der Armen: Kaum 400 Euro verdient ein Nepali im Jahr, viele Kinder leben auf der Straße, Fleisch ist Luxus
Rikschafahrer, Taxis, Leuchtreklamen, aberwitzige Kabelknoten an Laternenpfählen. Hupen. Staub. Die Morgensonne brennt. Mehr als Schritttempo ist in der Innenstadt kaum möglich. Durch enge Gassen schiebt sich der Wagen, drängt Radfahrer und Fußgänger zur Seite. Mit großer Gleichmut lassen die das geschehen, weichen über Ziegel-Haufen aus, staksen durch den allgegenwärtigen Müll. Schließlich schiebt sich unser Auto in eine schmale Einfahrt. Ein Tor fällt hinter uns zu. Für einen Moment sitzen wir wie betäubt auf der Rückbank. Bis jemand die Tür aufreißt: „Welcome to the Kathmandu Guesthouse.“
Aber, Halt. Stopp. Wir wollen die Geschichte von Anfang an erzählen. Susanne und ich sind bereits seit mehr als zwei Monaten unterwegs. Wir haben uns durch den Westen Kanadas geschlagen, machten eine Hüttenwanderung in den Rocky Mountains, fuhren mit einem riesigen Super-Size-Me-Wohnmobil in den regnerischen Norden von British Columbia und radelten auf einem Tandem durch Vancouver. Wir haben Portugal erkundet, besuchten die Stadt der Christusritter, standen, äh, lagen in Ericeira auf einem Surfboard und hatten in Lissabon eine Wohnung. Und jetzt Nepal.
Ein paar Tage wollen wir in der Hauptstadt bleiben, dann beginnen unsere beiden Reisen. Wir sind ein Paar unterwegs. Jeder von uns hat eigene Themen, Susanne sucht Spiritualität, ich Herausforderung, und beide sehnen wir uns nach Orten, die »was mit uns machen«. Schon klar, das ist Blödsinn, kein Ort macht was mit einem. Aber: Wir sammeln keine Länderpunkte, uns geht es nicht um Ansichtskarten, wir wollen die Welt fühlen. Zuerst bin ich dran. Ich habe uns für ein Trekking im Himalaya angemeldet, es führt uns bis in Sichtweite der Ama Dablam, der fast 7000 Meter hohe Berg gilt als einer der schönsten der Welt und ist dem Volk der Scherpa heilig. Susanne will zu buddhistischen Klöstern und hinduistischen Tempeln reisen, und wir werden mit Achim, einem wahren Nepalkenner, in den Süden des Landes fahren und da unter anderem den Geburtsort Buddhas besuchen.
Begegnungen im Luftraum: unbekanntes Flugobjekt und die Gipfel des Himalaya beim Anflug auf das Kathmandu-Tal
Witzigerweise fliegen wir über Frankfurt nach Kathmandu. Am Flughafen spüren wir in uns hinein: Haben wir Heimatgefühle? Würden wir lieber in den Zug nach Hamburg steigen als in das nächste Flugzeug? Wir lachen. Fast ist es befremdlich, nach mehr als zwei Monate auf Reisen die Menschen so selbstverständlich Deutsch sprechen zu hören. Wir checken für den Flug nach Kathmandu ein. Mehrere Airlines bieten Verbindungen in die Hauptstadt Nepals an. Wir haben uns für Gulf Air entschieden, die fliegt nicht mit Großraumflugzeugen über ein Großdrehkreuz sondern mit kleinen, für die Langstrecke eingerichteten Airbus A‑320 über den provinziellen Airport Bahrain.
Für den ersten Teil des Fluges erhalten wir glücklicherweise ein Upgrade in die Business-Class. Es ist eine wahrlich schockierende Erfahrung: der aufmerksame Service, das sehr gute Essen (Fladenbrot, arabische Spezialitäten), der in ein flaches Bett verstellbare Sitz, die hochwertigen Kopfhörer, die die Ohren ganz umschließen, so dass man mit viel Vergnügen das neue Album von Bon Iver hört. Wir erinnern uns mit Wehmut an den Komfort, als wir nach dem Umsteigen in Bahrain wieder dahin zurückkehren müssen, wo wir hin gehören – nach hinten.
Doch das Ziel ist das Ziel, nicht das Flugzeug. Klar, enger geht es hinten zu, das Essen kommt nicht auf einem Porzellanteller, sondern in einer Alu-Packung auf den Klapptisch. Doch Bon Iver kann man hier auch hören. Und die Sitzabstände sind groß genug, um während des Nachtfluges zu schlafen. Am Morgen weckt mich Susanne: Sieh mal aus dem Fenster. Ein schläfriger Blick. Ich grummle: „Ohh, Wolken.“ Sie sagt, ich solle nach mal genauer hinsehen. Und dann erkenne ich die weißen Bergspitzen des Himalayas.
Oase im Trubel: Pomelo-Baum im Garten des Kathmandu Guesthouses, auf einem der Dächer hockt ein Affe
Unser Zimmer im Kathmandu Guest House liegt in der vierten Etage. Von hier hat man einen weiten Blick über den hektischen Stadtteil Thamel und in den ruhigen Garten des Hotels. In der Mitte plätschert ein Brunnen. Dicke reife Pomelos hängen an einem Baum. Ein Paar sitzt auf einer Bank, lesend. Daneben erhebt sich eine weiße Fassade im Stil der Kolonialarchitektur, an der Regenrinne klettert ein Affe empor. Hinauf auf das Dach mit seinen Wasserbehältern und Sonnenkollektoren. Kleine Wohnhütten aus Wellblech und Holzresten stehen dazwischen, eine Gruppe von Männern schwatzt und raucht, zu ihren Füßen diese wahnsinnige Stadt, die brodelt und dampft und kocht.
Wir sind da. Aber längst noch nicht angekommen.
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