Kamtschatka

Bei­de Male reis­te ich gedank­lich zurück in das Jahr 1989. Damals war ich 6 Jah­re alt.
Es war das Jahr, in wel­chem die Ber­li­ner Mau­er fiel. Es war ein Jahr mei­nes kind­li­chen Lebens. Ich woll­te spie­len.

Die Hälf­te mei­ner Kind­heit wuchs ich auf dem Bau­ern­hof mei­ner Groß­el­tern auf. Sie haben 14 Hekt­ar Land, 2 Hun­de, 17 Kat­zen, Rin­der, Milch­kü­he, Bul­len und Schwei­ne. Mein Groß­va­ter war der Herr des Hofes. Er trieb damals die Rin­der und Kühe mit einem Stock auf die Wei­de. Die Milch tran­ken wir Kin­der direkt von der Kuh, und wir spiel­ten im nahen Wald mit den Hun­den. Wir bau­ten uns Baum­häu­ser, fin­gen Fische und spiel­ten Ver­ste­cken. Wir hal­fen bei der Heu- und Stro­hern­te, aßen die Mais­kol­ben direkt vom Halm, bis wir platz­ten und die Pflau­men von den Sträu­chern, bis wir Durch­fall beka­men.

Irgend­wie ist die­ser klei­ne rus­si­sche Ort am Ende der Welt ein Trig­ger mei­ner Erin­ne­run­gen: Koze­revsk ist wie der Bau­ern­hof in 1989, bis auf die Tat­sa­che, dass es ein gan­zes Dorf ist. In Koze­revsk lau­fen die Kühe auf dem Fuß­ball­feld der Schu­le her­um, und Hun­de streu­nen hin­ter jedem Besu­cher her, wovon es hier nicht vie­le gibt. In Koze­revsk ist kei­ne Stra­ße asphal­tiert, es gibt kei­ne Bür­ger­stei­ge, und nichts lässt dar­an den­ken, dass hier irgend­wann eines Tages mal die Zukunft der Archi­tek­tur und Infra­struk­tur ankom­men wird. Der Weg ist ein­fach zu weit, das Mate­ri­al zu teu­er, der Wil­le der Men­schen auf Ver­än­de­rung zu gering. Blickt man sich in Koze­revsk um, so ist unweit der Fluss „die Kamt­schat­ka“, wel­cher als Lebens­ader dient. Es gibt Fisch und noch mehr Fisch. Blickt man in die Gär­ten der Bewoh­ner, so ent­deckt man Fel­der mit Kar­tof­feln, Kohl, Zuc­chi­ni, Kräu­ter, Blu­men und alles, was sonst noch wach­sen kann, in die­sem Dorf wächst es. Die Häu­ser sind aus Holz gebaut. Holz ist auch das Brenn­ma­te­ri­al für den hei­mi­schen Ofen. Es riecht nach Blu­men, nach Hit­ze, der Staub liegt auf unse­ren Lip­pen und ver­klebt unse­re Augen. Stellt man sich vor eines der klei­nen Holz­häu­ser, so ragt im Hin­ter­grund die vul­ka­ni­sche Land­schaft auf. Der Kamen, der Kljut­schews­ka­ja Sop­ka und der Tol­bachik. Die höchs­ten Vul­ka­ne Kamt­schat­kas mit fast 5000m Höhe.

Wenn ich mir die­se Sze­ne­rie so anse­he, begin­ne ich zu träu­men. Auch wir haben zu Hau­se unse­re Idee der Selbst­ver­sor­gung begon­nen. Zusam­men mit unse­rem Nach­barn bau­en wir Toma­ten, Melo­nen, Kür­bis, Zuc­chi­ni, Gur­ken, Kräu­ter, Chi­lis, Papri­ka und bald auch Kar­tof­feln an. Im Gar­ten wach­sen wil­de Erd­bee­ren, Him­bee­ren, Prei­sel­bee­ren und Äpfel. Wir pla­nen gera­de den Umbau des Gar­tens, sodass wir Hüh­ner hal­ten kön­nen und backen unser Brot sel­ber. Die­ses Dorf beflü­gelt mei­ne Visi­on, sich noch mehr Fähig­kei­ten anzu­eig­nen, um sich sel­ber zu ver­sor­gen. Wir wol­len wei­ter weg vom Kon­sum, weit weg vom Plas­tik, wol­len anders mit der Erde umge­hen als bis­her. Es steckt in den Kin­der­schu­hen bei uns, und in Koze­revsk ist es nie anders gewe­sen. „Die­se Schu­he auf dem Weg der natür­li­chen Lebens­wei­se müss­ten dem­nach aus­ge­latscht sein.“ Doch das merkt hier nie­mand, denn die Schu­he hal­ten ewig, solan­ge man sei­ne Umwelt ver­steht und zu schät­zen weiß.

Wir sind die ein­zi­gen Gäs­te. 10 Men­schen von sehr weit her sind gekom­men, um einem der drei Laden­be­sit­zer das Geschäft sei­nes Lebens zu berei­ten. Wir kau­fen pro Kopf drei Fla­schen Wod­ka, 3 Liter Bier, ande­re kau­fen Ziga­ret­ten, Ber­ge von Scho­ko­la­de und was sonst noch zu fin­den ist. Der Laden­be­sit­zer kommt aus dem Stau­nen nicht mehr raus. Für uns ist es Vor­rat in der Wild­nis, für ihn bedeu­tet es Fei­er­abend – genug ver­dient. Er sagt: „Bit­te, kommt spä­ter noch­mal wie­der.“

Mit die­sen Gedan­ken, Ein­drü­cken und voll­ge­packt mit unse­rem Equip­ment ver­las­sen wir das klei­ne Dorf in Rich­tung der Vul­ka­ne. Mit unse­rem Kamaz („Der bes­te Gelän­de­wa­gen“, sagen alle Rus­sen) durch­que­ren wir Wäl­der, rei­ßen­de Flüs­se und kom­men letzt­end­lich nach fünf Stun­den wacke­li­ger Fahrt auf der Höhe des ers­ten Vul­kan­ke­gels des Tol­bachik an.

Das Are­al ist eine lee­re Ebe­ne und erin­nert sofort an den Mond, auch wenn kei­ner von uns jemals dort oben war. Nicht umsonst wur­de hier für die Raum­fahrt geübt. Wir ent­schei­den uns, eine klei­ne Tour auf die nahe­lie­gen­den Vul­kan­ke­gel von nur 300m Höhe zu lau­fen und sehen Mine­ra­li­en in allen Far­ben. Neu­ge­bo­re­ne Erde in Blau, Rot, Gelb und Grün offen­bart sich direkt vor uns, und wir füh­len uns leben­di­ger denn je. „Wenn wir den Tol­bachik bestei­gen, kön­nen wir ins Herz der Welt sehen…“, den­ke ich. Lang­sam schrei­ten wir vor­an und über­bli­cken von dem Gip­fel des Kra­ters das wei­te Feld der Lava­strö­me aus 1975.Wir kön­nen uns das Aus­maß der Zer­stö­rung kaum vor­stel­len und sind begeis­tert von der Viel­falt die­ser Land­schaft. Für eini­ge Zeit blei­ben wir ein­fach ste­hen und stau­nen. Mehr bedarf es auch nicht. Auf dem Weg hin­un­ter beginnt es zu reg­nen, und wir set­zen unse­ren Weg zu Fuß fort in Rich­tung des ein­zi­gen Camps. Unser Truck ist bereits vor­aus­ge­fah­ren. Wäh­rend wir durch die Schön­heit der Mono­to­nie wan­dern, taucht vor uns ein Wald auf. Stil­le erfüllt nun den Raum, Käl­te zieht in unse­re Glie­der. Die Bäu­me flamm­ten beim dama­li­gen Aus­bruch des Vul­kans auf wie Streich­höl­zer, und so steht das unfrucht­ba­re Gerip­pe des Wal­des noch heu­te da und wird für lan­ge Zeit nicht zum Leben erweckt. Nicht umsonst wird die­ser Wald „Dead Forest“ genannt. Wie in einem Hor­ror­film lau­fen wir durch eine Welt ohne uns, eine Welt nach uns. Wenn jedes Leben erlischt, bleibt nur das hier zurück – „Staub und Kno­chen.“ Wenn man Ehr­furcht vor dem Leben tan­ken will, dann hier im toten Wald. Doch so sehr die Atmo­sphä­re erdrü­ckend wirkt, kom­men wir nach einer Wei­le zurück in üppi­ge Vege­ta­ti­on. Unser Camp, das wir bald errei­chen, liegt zwar immer noch im toten Wald, aber hier schei­nen sich die ers­ten Sträu­cher und Büsche hei­misch zu füh­len. Losun­gen von Ren­tie­ren und Bären sind gleich neben­an. Das Leben kehrt zurück. In einem gewal­ti­gen Tor­na­do von Mücken bau­en wir unse­re Zel­te auf und schlei­chen dann ins Küchen­zelt zum Abend­essen.

„Mor­gen ist es also soweit“, sage ich zur Rei­se­grup­pe. „Wir wol­len den Tol­bachik erklim­men. 3085m rei­ner Vul­kan. Bis zum Kra­ter hin­auf, um in das Herz der Welt zu bli­cken. Dafür klin­gelt der Wecker um 4:30 Uhr. Stellt euch auf einen lan­gen Tag ein.“ Noch schnell ein oder zwei Glä­ser Wod­ka, dann klet­tern wir alle in unse­re Zel­te. Die Nacht ist kurz, die Geräu­sche unge­wohnt, aber den­noch bekom­men wir ein paar Stun­den Schlaf. Zu Anfang schläft man auf Kamt­schat­ka schlecht, doch man gewöhnt sich dar­an, und spä­ter schläft man wie ein Baby­bär.

Um 4:30 Uhr wer­den wir alle unsanft aus dem Schlaf geris­sen. Aus­ge­stat­tet mit Lunch­pa­ket und Was­ser geht es los zum Aus­gangs­punkt. Die Welt Kamt­schat­kas liegt in dickem Nebel. Wir sehen rein gar nichts. Lang­sam rollt der Kamaz über die Pis­te aus vul­ka­ni­schem Sand. Nach 45 Minu­ten Fahrt errei­chen wir das Ziel. Das Basis­la­ger am Tol­bachik auf 1400m Höhe. Hier rei­hen sich Zel­te anein­an­der, denn von hier aus sind vie­le Berg­tou­ren mög­lich.

„Wir wer­den ca. sechs Stun­den für den Auf­stieg benö­ti­gen und ca. drei hin­un­ter!“, so heißt es sei­tens des rus­si­schen Berg­füh­rers Ale­xey. Ich bespre­che mich kurz mit ihm, und schnell wer­den wir uns einig, dass wir Sascha (ein zwei­ter Berg­füh­rer) auch mit­neh­men wer­den, falls jemand nicht mehr wei­ter lau­fen kann oder es unter­wegs Kom­pli­ka­tio­nen gibt. Aus­ge­stat­tet mit Satel­li­ten­te­le­fon, Bären­spray und hei­ßem Tee wan­dern wir in die nebe­li­ge Sup­pe hin­ein. Die Sicht liegt bei Null. Man erzählt sich, dass eine Rei­se nach Kamt­schat­ka Geduld erfor­dert. Wenn die Wol­ken sich lösen, dann offen­bart sich die geball­te Schön­heit des Lan­des. Doch in die­ser trü­ben Atmo­sphä­re zu wan­dern, schafft wenig Hoff­nung auf Bes­se­rung des Wet­ters. Schroff, schwarz und bizarr erstreckt sich der Lava­strom neben uns. Wir wan­dern ins Unge­wis­se hin­ein und blei­ben dicht zusam­men, denn bald wer­den wir das Lava­feld que­ren müs­sen. Immer wei­ter zieht sich der Weg durch brau­ne, röt­li­che, und gel­be Erd­stü­cke hin­durch, über klei­ne Hügel und Kegel. Immer wie­der steigt Dampf aus der Erde auf. Wenn mich nicht alles täuscht, befin­den wir uns auf direk­tem Weg in die Höl­le. Jeden­falls stel­le ich mir so jeg­li­che End­zeit­sze­na­ri­en vor.
Plötz­lich bleibt unser Berg­füh­rer ste­hen und zeigt in Rich­tung des Him­mels. Und dann, lang­sam, ver­schwin­det der Nebel und legt ihn frei.…den Tol­bachik! Mit Schnee­hau­be steigt er vor uns empor, wirkt immer grö­ßer bei jedem Schritt, und lang­sam ver­ste­hen wir, dass dies kein ein­fa­cher und kur­zer Marsch wird.

Wir schrei­ten vor­an in eine Welt vol­ler Lee­re, ohne auch nur eine Pflan­ze ent­lang des Weges zu ent­de­cken. Das „Nichts“ ist nun unser Zuhau­se. Immer tie­fer schrei­ten wir in die vom Wind umpeitsch­te Ebe­ne, hin­auf auf die ers­te Anhö­he.

Es sind gera­de mal zwei Stun­den ver­gan­gen. Bereits nach die­sem ers­ten Teil mel­den sich drei Teil­neh­mer ab. Sie wol­len nicht mehr wei­ter. Die­ser Weg scheint ihnen zu gewal­tig. Sascha muss umkeh­ren. Jetzt hängt alles von unse­rem Berg­füh­rer und mir ab. Wenn noch ein Teil­neh­mer zurück möch­te, müs­sen wir alle umkeh­ren, denn „Sicher­heit geht vor Sight­see­ing.“ Wir pau­sie­ren kurz, dann zieht sich unser Weg wei­ter der Ebe­ne Zwei ent­ge­gen. Wir spre­chen kaum, lau­fen kon­zen­triert, Meter um Meter, Stun­de um Stun­de. Kein Anzei­chen eines Auf­stiegs, kein Anzei­chen, dass wir dem Tol­bachik näher kom­men. Doch dafür gibt es nun immer mehr Son­ne und immer mehr Hit­ze. Wir fan­gen an, unse­re Aus­rüs­tung umzu­funk­tio­nie­ren, trin­ken mehr, und mit jeder Etap­pe wächst der Hun­ger. Schnell stel­le ich fest, dass mein Lunch­pa­ket nicht rei­chen wird, so auch nicht mein Was­ser. Das Pro­blem ist, dass es hier kaum trink­ba­res Was­ser gibt, außer Schnee, den wir schmel­zen könn­ten.

Hier drau­ßen sind wir voll­kom­men auf uns und unse­re Fähig­kei­ten gestellt. Es gibt kei­ne Hil­fe von außer­halb. Wenn es einen Not­fall gibt, haben wir einen fast uner­reich­ba­ren Weg ins nächs­te Kran­ken­haus vor uns. Das Are­al um den Tol­bachik ist die Kro­ne der Unfrucht­bar­keit. Vul­ka­ni­scher Sand und Staub hüllt uns ein. Uns bleibt nichts ande­res übrig als zu lau­fen und immer wie­der eine Pau­se ein­zu­le­gen. Uns nützt kein krea­ti­ver Gedan­ke, kein Ideen­reich­tum, um etwas ande­res aus unse­rer Situa­ti­on zu ent­wi­ckeln. Dies hier ist nun unser Schick­sal, geprägt von Fata­li­tät in reins­ter Form.
Nach wei­te­ren Metern, wei­te­ren Stun­den sind wir auf Ebe­ne Zwei ange­kom­men. Der Berg rückt näher, der Schnee nimmt wie­der zu,Wind kommt auf. Wie­der pau­sie­ren wir, wie­der essen wir. „Von nun an wer­den sich die Pau­sen häu­fen, wir sind nun bei rund 2500m ange­kom­men“, sagt unser Berg­füh­rer „Ach“, den­ke ich, „das wird sicher klap­pen“. Doch nun nimmt der Wind zu, und die Käl­te kriecht mit jedem Schritt durch jede Rit­ze unse­rer Klei­dung. Das Pro­blem der Tour ist nicht, dass wir kei­ne Erfah­rung haben oder der Weg gefähr­lich ist. Nein. Son­dern der Weg zieht sich wie ein Kau­gum­mi fort und erfor­dert Durch­hal­te­ver­mö­gen, ohne den Gedan­ken an den Rück­weg, denn dann kehrt man sofort um. Und soll­te man nun doch die­se Gedan­ken im Kopf haben, dann ist die obers­te Auf­ga­be sich zu erin­nern, wo man hier gera­de ist:

„Am Ende der Welt!
Dort, wo es die meis­ten akti­ven Vul­ka­ne gibt!
Und ich habe das Pri­vi­leg, einen sol­chen zu erklim­men!
Nicht auf Sizi­li­en, nicht auf Hawaii, nicht auf Island!
Das hier ist fuck­ing Kamt­schat­ka ver­dammt noch­mal!
Es ist egal, wie sehr man schwitzt, friert oder wie weit man läuft!
Die­se Rei­se tei­len bis­wei­len nur weni­ge Men­schen auf der Welt mit uns!
Also, los geht’s!“

Es gibt nur eine Rich­tung: Auf­wärts!

Und so stei­gen wir wei­ter. Mit der einen oder ande­ren Tee­pau­se schaf­fen wir es bis 100m an den Kra­ter­rand her­an. Da wol­len die nächs­ten Teil­neh­mer auf­ge­ben. Er erscheint ein­fach so unglaub­lich weit. So uner­reich­bar. Ich sage zu Ale­xey, dass wir die Sache viel­leicht unter­schätzt haben. Wäh­rend unse­res Gesprä­ches don­nert plötz­lich wie aus dem Nichts Wind mit 70kmh auf uns her­ab und lässt uns, im Schot­ter ste­hend, den Halt ver­lie­ren. Wenn dar­aus ein Sturm auf dem Gip­fel ent­steht, dann war´s das. Zudem kom­men immer mehr Wol­ken. Was sol­len wir tun, wenn das Wet­ter dreht? Es gibt hier kei­nen Unter­schlupf. Wir sind in abso­lut unge­schütz­tem und offe­nem Gelän­de.

Ich sage: „ Ich blei­be unter­halb des Kra­ters zurück mit den ande­ren.“ Doch Ale­xey erklärt‑, dass es nicht mög­lich ist. „Wir kön­nen die Grup­pe nicht tren­nen, auch kei­ne 100m von­ein­an­der“. Da ich immer auf Ein­hei­mi­sche höre, denn sie ken­nen sich am bes­ten aus, rufe ich noch­mal zu letz­ten Reser­ven auf. „100m! Kommt schon!“

Und tat­säch­lich, wir schaf­fen es.

3085m pure vul­ka­ni­sche Macht. Wir lie­gen uns in den Armen.

Vor uns ist der Kra­ter des Tol­bachik, den ich bis­lang nur aus weni­gen Büchern kann­te, aus weni­gen Berich­ten von ihm erfah­ren konn­te. Der Blick in den Kra­ter ist mit nichts zu ver­glei­chen. Hier wird Erde geschaf­fen! Hier ist der Herz­schlag, die Geburt der Welt! Das hier ist Fern­ost! Wir alle machen Fotos, lachen, frie­ren. Ale­xey ver­teilt Tee und Plätz­chen an uns. Wir ver­su­chen, so viel von die­sen Ein­bli­cken auf­zu­sau­gen, wie wir nur kön­nen. Es ist ein Moment der Ein­ma­lig­keit. Ein Erleb­nis, von wel­chem wir noch lan­ge zeh­ren wer­den. Die­ser Moment wird für immer in unse­ren Erin­ne­run­gen woh­nen. Rote und schwar­ze Far­ben wech­seln sich ab und umzin­geln uns mit ihrer gewal­ti­gen Schön­heit. Ich ste­cke mei­ne Hand in den war­men Boden und fah­re mit den Fin­gern durch die leben­di­ge Erde. Es fühlt sich gut an, bei allen nega­ti­ven Nach­rich­ten in der Welt, zu wis­sen, dass der Pla­net hier neu ent­steht, auch wenn er woan­ders viel­leicht gera­de zer­stört wird. Die­ses Gebiet hier in Kamt­schat­ka ist so groß, dass es mich beru­higt zu wis­sen, dass die Erde immer wei­ter­le­ben wird, egal wie sehr wie ihr womög­lich scha­den.

„Den­nis?“ ruft Ale­xey. „Wir müs­sen abstei­gen. Das Wet­ter nix gut. Zu gefähr­lich hier oben.“ Eini­ge bekom­men Kopf­schmer­zen von den vul­ka­ni­schen Dämp­fen, ande­re viel­leicht schon von der Höhe oder dem schnel­len Auf­stieg. (In Kamt­schat­ka ist das Emp­fin­den von Höhe anders als in den Alpen oder dem Hima­la­ya. Das Gefühl der Höhen­ver­än­de­rung ist hier wesent­lich schnel­ler und somit kommt hier die Höhen­krank­heit viel schnel­ler und auf nied­ri­ge­rem Ter­rain vor, als woan­ders auf der Welt.)
Um den Kopf­schmerz zu bekämp­fen, hilft nur eins: Tee trin­ken und abstei­gen! Somit ist der Erfolg des Auf­stiegs zum Kra­ter nach nur weni­gen Minu­ten vor­bei.

Es war ein unver­gleich­li­cher Augen­blick des Tri­umphs, und zusam­men konn­ten wir die­sen mit­ein­an­der tei­len.

Lang­sam zieht sich unse­re Grup­pe den Kra­ter hin­un­ter in Rich­tung Tal, das nun mit Wol­ken ver­han­gen ist. Auch der Nebel ist zurück. Der Wind schiebt uns von hin­ten an. Wir kön­nen nichts sehen. Nur Nebel und Schnee, über den wir lau­fen. Lang­sam geht es wei­ter, Schritt für Schritt. Was wir noch nicht ahnen, ist, dass es ein zer­mür­ben­der Marsch wer­den wird.

Meter um Meter, Stun­de um Stun­de geht es hin­ab, doch wird sind viel lang­sa­mer als beim Auf­stieg. Immer wie­der müs­sen wir pau­sie­ren. Eini­gen schmer­zen die Füs­se, ande­re haben sich voll­kom­men über­schätzt. Sie blei­ben immer wie­der ste­hen, las­sen die Köp­fe hän­gen, set­zen sich hin. Das Ende der Wan­de­rung ist nicht abzu­schät­zen. Wir sind gefan­gen im Reich des rie­si­gen Vul­kans. Nach nur weni­gen Metern unter­halb des Kra­ters beginnt der Ver­lust unse­rer Kräf­te. Die Kon­di­ti­on schwin­det dahin. Der Wind saugt unse­re Ener­gie auf, der Man­gel an Flüs­sig­keit lähmt unse­re Glie­der. Das Ein­zi­ge was wir tun kön­nen, ist lau­fen. Gut, ich muss sagen, ich bin es gewohnt bis ans Äußers­te zu gehen. Lan­ge Zeit hielt ich mich in Grön­land und Alas­ka auf, ken­ne Käl­te, Stür­me und ver­zwei­fel­te Situa­tio­nen. Bereits zwei Mal steck­te ich im Eis­strom Grön­lands fest und war bei­de Male bereit, zu Fuß Hil­fe holen, wäh­rend ande­re im Not­fall­camp blie­ben. Ich kann qua­si im Lau­fen ster­ben, wenn es sei muss; daher füh­le ich die Anstren­gung weni­ger. Ich bin oft mona­te­lang in der Wild­nis und ken­ne nichts ande­res als Lau­fen und Schlep­pen, des­we­gen ist es ein ande­res Gefühl, doch ich kann die Teil­neh­mer ver­ste­hen. Sie sind her­ge­kom­men, um die Rei­se genie­ßen zu kön­nen und nicht, um sich vor Erschöp­fung aus­flie­gen zu las­sen. Ich fan­ge an, mei­ne letz­ten Snacks zu ver­tei­len. Unser Berg­füh­rer gibt sei­ne Was­ser­re­ser­ven an ande­re wei­ter. „Wir wer­den schon wie­der zum Camp kom­men, es ist ein­fach ein lan­ger Weg, den­ke ich.“ Unse­re Gesich­ter sind rot und ver­brannt von der Son­ne, die Haut tro­cken von dem Was­ser­man­gel, unse­re Zun­gen tro­cken, doch wir müs­sen wei­ter abstei­gen. Mit jedem Meter sind wir näher am Ziel. Wie durch eine end­lo­se Wüs­te aus Eis und Staub zieht sich unse­re Men­schen­schlan­ge, die letz­ten Fünf der Grup­pe. Kei­ner spricht mehr für Stun­den, nie­mand hat etwas zu sagen. Wenn man so durch die Ein­öde läuft, kann man auch schnell Abnei­gun­gen gegen eine Land­schaft ent­wi­ckeln. Man fragt sich: „War­um tue ich mir das an? War­um muss ich mich immer wie­der in sol­che Gebie­te bege­ben?“ Das Komi­sche ist, dass man sich sol­che Fra­gen zu Beginn der Rei­se nicht stellt. Es heißt ja auch: Die bes­ten Rei­sen beant­wor­ten Fra­gen, die man sich zu Beginn der Rei­se gar nicht gestellt hat. Es ist eher die Her­aus­for­de­rung der Land­schaft, wel­che uns zeigt: „Wir Men­schen sind so klein und die Natur ist so mäch­tig.“ Die Braun­bä­ren müs­sen das glei­che den­ken, wenn sie hier von Tal zu Tal wan­dern. Ich kann mir vor­stel­len, dass auch die genervt sind und flu­chen wer­den.

Ehe wir uns ver­se­hen, taucht vor uns ein fri­sches Häuf­chen Bären­kot auf. Ale­xey ruft zur Wach­sam­keit auf, doch inzwi­schen lau­fen wir alle in sol­cher Trance, dass wir jeg­li­che Begeg­nung mit den mäch­ti­gen Tie­ren wahr­schein­lich nicht mal rea­li­sie­ren wür­den. „In sol­chen Höhen lau­fen Bären umher?“, fra­ge ich. „Ja, ist Berg­stei­ger­bär!“, ant­wor­tet Ale­xey. „Sie wan­dern von Vege­ta­ti­on zu Vege­ta­ti­on, dazwi­schen liegt das Reich des Tol­bachik. Also müs­sen sie hier ent­lang.“

Danach dreht er sich wie­der um, und wei­ter wan­dern wir durch unse­re gewohn­te Wüs­ten­stil­le. Wäh­rend wir so durch den geräusch­frei­en Raum schrei­ten, ver­mis­se ich lang­sam den Moment, einer ande­ren Grup­pe Men­schen, Tou­ris­ten und einem Ran­ger zu begeg­nen. Für Stun­den nun sehen wir nichts als roten Sand, Eis und Fel­sen und zwi­schen­durch mal ein wenig in die Fer­ne. Sind wir schon auf dem Mars ange­kom­men? Die bizar­ren Fels­for­ma­tio­nen begin­nen, mir etwas vor­zu­gau­keln. Immer wie­der sehe ich eine Gestalt in den Umran­dun­gen der Fel­sen, fra­ge mich stän­dig, ob sich etwas bewegt hat oder ob dort jemand ist. „Kon­zen­trie­re dich, Den­nis!“, rufe ich mir ins Gedächt­nis. Ich muss an ver­gan­ge­ne Rei­sen den­ken. Wie oft war ich nun schon weit drau­ßen? Wie oft in der Natur und wie oft schon in ihr gefan­gen? Wel­che Wege ich schon beschrei­ten muss­te, um das hier machen zu kön­nen. Mir kommt es so vor, als sei jede Rei­se nur ein Trai­ning gewe­sen für das, was ich hier gera­de erle­be.

Wie weit ich schon durch die schot­ti­schen High­lands, durch das islän­di­sche Hoch­land oder den Hima­la­ya gelau­fen bin! Ich bin kein Berg­stei­ger, ich bin Wan­de­rer. Wie weit mich der Beruf als Rei­se­lei­ter schon getra­gen hat! In das Eis der Ark­tis, in die Wüs­te Ara­bi­ens, in die Kar­pa­ten Ost­eu­ro­pas, bis zum Anna­pur­na in Nepal, und jedes Mal brin­ge ich eine neue Erkennt­nis mit nach Hau­se und tei­le immer wie­der die glei­che Ansicht. Ja, die Wege sind weit! Ja, es ist irgend­wann anstren­gend aber den­noch – es ist mein Leben, und ich lie­be es! Genau hier, genau jetzt, genau so!

Wäh­rend ich so hin­ter der Grup­pe her­trot­te, an kal­tes Bier den­ke und mir vor­stel­le wie wohl­tu­end jetzt ein Swim­ming­pool wäre, höre ich plötz­lich aus der Fer­ne ein „Kon­ni­chi­wa!“ In Gedan­ken ver­sun­ken bli­cke ich auf und sehe eine Grup­pe Japa­ner, wie sie auf uns zukommt und in die Land­schaft hin­ein­läuft. Es ist, als wür­de die Wüs­te zum Leben erweckt, und erst jetzt rea­li­sie­ren wir, dass unser Kamaz in Sicht ist. Ich bli­cke auf die Uhr und fin­de her­aus, dass es nun knapp 14 Stun­den waren, die wir gelau­fen sind.

Als wir am Kamaz ankom­men, freu­en sich die ande­ren Mit­rei­sen­den über unse­ren Erfolg. Wir lie­gen uns in den Armen. Das war ein lan­ger Ritt!

Im Camp ange­kom­men, ver­zie­hen sich man­che direkt ins Bett; ande­re sit­zen zusam­men und trin­ken ein Bier auf unse­ren Erfolg. Es war ein lan­ger Tag und wir alle sind müde; aber den­noch war es ein unver­gess­li­ches Erleb­nis. Wäh­rend wir uns über den Auf­stieg unter­hal­ten, den­ke ich noch­mals an den Abstieg. Als wir durch die End­lo­sig­keit lie­fen, konn­te man in der Fer­ne zwi­schen­durch die Rich­tung nach Koze­revsk erken­nen. Ich bin mir sicher, dass die Leu­te dort gera­de froh sind, ihre Kar­tof­feln zu ern­ten und den Fisch zu räu­chern Sie freu­en sich des Lebens, und so freu­en wir uns auch.

 

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Antwort

  1. Avatar von Schwabski

    Sehr fes­selnd und span­nend geschrie­ben 🙂

    Kamt­schat­ka steht auch noch weit oben auf mei­ner Lis­te, mal sehen wann sich das rea­li­sie­ren lässt. Die Natur und die­se Abge­schie­den­heit muss ein­fach traum­haft sein! Dein Bericht hat mei­ne Vor­freu­de noch ein­mal gestei­gert 😉

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