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Ankunft auf Koh Rong Samloem
„Fuck, fuck, fuck“, murmele ich, während ich mit meinem vollgepackten Reiserucksack den Strand entlanglaufe, der mit jeder Minute, die My Linh und ich länger durch den Sand laufen, schwerer auf meinen Schultern zu lasten scheint. Unsere Schuhe haben wir längst ausgezogen. Und so laufen und laufen wir, vorbei an hohen, schlanken Palmen, an denen grünlich schimmernde Kokosnüsse wachsen, vorbei an Hotelunterkünften, vor denen Backpacker faul im Sand liegen und die letzten Sonnenstrahlen einfangen. Lebhafte Eindrücke, wie Schnappschüsse eines malerischen Insellebens. Doch so recht genießen können wir sie mit der Ungewissheit, wie lange wir noch vollbepackt über diesen Strand laufen müssen, nicht.
Von der Insel Koh Rong Samloem in Kambodscha haben wir über einen Blogeintrag im Internet erfahren und sind dem Ruf von schönen weißen Sandstränden und belebten Strandcafés gefolgt. Die Anreise haben wir uns dabei wesentlich einfacher vorgestellt. Inzwischen sind wir bereits seit sechs Stunden unterwegs, sind zunächst für drei Stunden in einem heftig schaukelnden Van über eine holprige Straße zu der Hafenstadt Sihanoukville gefahren, haben uns dort zwei Stunden lang die Zeit vertrieben, haben dann ein Schnellboot zur Insel genommen, das uns allerdings – anders als eingangs angesagt – an einer völlig anderen Stelle der Insel und weit entfernt von dem von uns gebuchten Hostel herausgelassen hat. Nun laufen wir bereits seit einer halben Stunde über den Strand, auf der Suche nach einem Boot, das uns nach M’Pai Bay bringen soll, also an die Stelle der Insel, an der sich auch unser Hostel befindet.
Endlich erreichen wir einen Steg, an dem auch ein paar Boote anlegen. Wir schauen uns um, doch Einheimische entdecken wir leider nicht. Ein paar Meter vom Steg entfernt sehe ich ein Restaurant. „Ich frage mal in dem Restaurant nach“, sage ich zu My Linh. Kaum habe ich das Lokal betreten, steigt mir der verführerische Duft von Pizza in die Nase, der mich daran erinnert, dass meine letzte Mahlzeit bereits einige Stunden zurückliegt. Auf gut Glück frage ich den Kellner am Eingang, ob er jemanden kennt, der uns auf die andere Seite der Insel nach M’Pai Bay bringen kann. „Ich möchte auch dorthin“, ruft eine Backpackerin mit spanischem Akzent dazwischen, die anscheinend gerade Pizza bestellt hat. „Das Boot legt gleich ab. Da draußen vor dem Lokal steht ein Typ mit einem blauen Shirt, der Tickets für die Überfahrt verkauft. Frag ihn einfach, ob ihr noch mitdürft.“ Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. „Sieben Dollar“, nennt dieser mir als Preis für die Überfahrt. My Linh und ich überlegen nicht lange, ob dies nun ein angemessener Preis ist oder nicht und nehmen ihn sofort an. Kurz darauf steigen wir gemeinsam mit den anderen Backpackern aus dem Café in das Boot und fahren aufs offene Meer heraus. In diesem Moment sind wir unendlich froh darüber, dass unser Gepäck in einer Ecke auf dem Boot liegt, statt auf unserem Rücken zu lasten und dass wir endlich wieder das Gefühl haben voranzukommen. Plötzlich kommt auch die Sonne unter den Wolken zum Vorschein. Heute Abend ist sie ein glühend roter Feuerball, der nochmal in all seiner Pracht leuchtet, bevor er immer weiter hinabsinkt, und dabei den Himmel in ein leuchtendes Rosa einfärbt. Die Spanierin hat ihre Pizza inzwischen mit aufs Boot genommen und kaut sie genüsslich.Wir versuchen den Geruch der Pizza zu ignorieren, der uns umso mehr daran erinnert, dass wir seit vielen Stunden nichts gegessen haben.
Als wir den Hafen erreichen, ist die Sonne bereits verblasst und es hat angefangen zu dämmern. Wir laufen einen schmalen Holzsteg entlang und erreichen einen Sandstrand. Ich erkenne die schemenhaften Umrisse von vereinzelten Häusern, die sich vom dicht bewachsenen Dschungel gleich dahinter abheben. Mit einem Blick auf Google Maps stelle ich erleichtert fest, dass wir uns diesmal in M’Pai Bay und damit also an der richtigen Stelle der Insel befinden, an der auch unsere Unterkunft liegt. Bis wir dort sind, müssen wir allerdings noch ein ganzes Stück weiterlaufen. Also setzen wir unsere Wanderung in Richtung der Häuser fort, laufen diesmal vorbei an kambodschanischen Kindern, die Fußball spielen, an Hühnern mit langen, staksigen Beinen und an Restaurants, von denen allerdings erstaunlicherweise nur einige wenige für Gäste geöffnet zu haben scheinen. Schließlich erreichen wir einen steilen, unbefestigten Hügel. Der Boden ist uneben, bestehend aus verschiedensten Steinformationen und vertrocknetem Gras. My Linh und ich tauschen Blicke aus. Da müssen wir jetzt auch noch mit unserem Gepäck hochlaufen? Wir nehmen unsere Kräfte zusammen und laufen den Hügel hoch. Während wir uns größte Mühe geben, beim Hochlaufen nicht unglücklich aufzutreten und womöglich umzuknicken, hören wir plötzlich das laute Rattern eines Fahrzeugs und erkennen die Umrisse eines motorbikes, das den Hügel herunterrast. Dies wäre eine Fahrstrecke, auf der sich Backpacker reihenweise auf die Nase gelegt hätten. Der Fahrer dieses motorbikes hingegen – mit großer Wahrscheinlichkeit ein Kambodschaner – umfährt in einem Affentempo instinktiv die Stellen, an denen er Gefahr läuft, mit seinem Fahrzeug zu stürzen und kommt sicher am Grund des Hügels an. Wir können nur schmunzeln über den Wagemut der Einheimischen.
Endlich erreichen wir das Hostel. „Zum Glück haben wir diesmal ein Einzelzimmer gebucht“, sage ich zu My Linh, die bestätigend nickt. Das Zimmer gehört definitiv zu den teureren, die wir bislang auf unserer Südostasien-Reise gebucht haben. Doch der nächste Irritationsmoment folgt prompt, als wir von dem Rezeptionisten zu den Schlafsälen geführt werden. Diese befinden sich zwar in einem überdachten, aber ansonsten offenen Holzbau. Lediglich ein Vorhang trennt unser Zimmer vom Außenbereich ab. An für sich habe ich nichts gegen offene Schlafplätze, die sich nahe an der Natur befinden. Allerdings sah es auf dem Foto von der Unterkunft so aus, als würden wir in einem Zimmer mit vier Wänden inklusive Tür schlafen und genau dafür spräche auch der Preis, den wir pro Nacht für unsere Unterkunft bezahlen.
Diese Insel gibt uns wirklich so einige Fragen auf. Unbefestigte Straßen, nicht eingehaltene Absprachen. An was für einem Ort auf dieser Insel sind wir hier eigentlich gelandet? So recht wissen wir nicht, was wir mit diesem Ort und unseren heutigen Erfahrungen anfangen sollen und wie wir sie einordnen sollen. My Linh sieht das ganz ähnlich wie ich. „Viele Fragen“, fasst sie den heutigen Tag knapp zusammen. Dann kriechen wir hinter unsere Moskitonetze ins Bett und sind bald eingeschlafen.
Ein Ort nur für uns
Am nächsten Morgen wache ich vom Rauschen des Meeres und vom Tosen des Windes auf. Ich liebe es, mir morgens einen ruhigen Ort auszusuchen, an dem ich meinen Kaffee trinken und warten kann, bis sich dieser sich so langsam mit Backpackern füllt.
Zu unserem Hostel gehört eine hölzerne Plattform, die direkt über den Klippen errichtet wurde. Dort wurde ein Café eingerichtet, von dem aus man den besten Blick auf das Meer hat. Die coolste Sitzgelegenheit in dem Café ist ein Netz, das direkt über den Meeres-Klippen aufgespannt wurde. In diesem Moment freue ich mich, dass ich am heutigen Morgen so früh hier bin und diesen Sitzplatz, der später am Tag bestimmt von anderen Backpackern eingenommen wird, für mich ergattern kann. Als ich mich in das Netz hineinlege, habe ich sofort das Gefühl, über dem Meer zu schweben. Weiter entfernt am Horizont schaukeln Fischerboote. Ich vernehme das laute Getöse der Wellen, die gegen die Klippen unter mir prallen, aufbersten und zurück ins Meer fließen sowie das seichte Rauschen des Windes. Irgendwann kommt My Linh und gesellt sich zu mir. Mehrere Stunden vergehen. Die Zeit scheint mit dem stetigen Meeresrauschen zu zerfließen und verliert in diesem Moment ihre Relevanz. Als die heiße Mittagssonne vom Himmel knallt, merke ich, dass etwas seltsam ist. Ich schaue mich in dem Café um. Das Seltsame ist, dass hier immer noch keine anderen Backpacker erschienen sind. Nur der Rezeptionist liegt kaum wahrnehmbar am Eingang der Bar in einer Hängematte und ist in sein Handy vertieft. Sind wir etwa die Einzigen in diesem Hostel? Hat das Hostel nur für uns geöffnet? Es erscheint uns in diesem Moment erstaunlich, dass wir diesen magischen Ort, der voll von Menschen sein sollte, die sich in seinem Charme verlieren, für uns allein haben.
Kurze Zeit darauf beschließe ich im Meer schwimmen zu gehen. Vom Café über den Klippen aus führen steinerne Stufen direkt herunter zu einer Bucht. Ich laufe die vielen steilen Stufen herunter, bis ich die Klippen erreiche. Unten angekommen, krabbele ich etwas unbeholfen über die glitschigen Küstenfelsen, die aus dem Wasser herausragen, bis ich endlich ins Wasser gleiten kann. Das Wasser fühlt sich angenehm kühl auf meiner Haut an und bietet einen perfekten Kontrast zu der Hitze, die außerhalb des Wassers herrscht.
Ich bin die Einzige hier in dieser Bucht. Als ich hochschaue, stelle ich fest, dass das Hostel aus meinem Blickfeld geraten ist. Vor mir ragen lediglich hohe Felswände auf. Ansonsten sehe ich nichts weiter als das Wasser, das von der Sonne angestrahlt wird und in verschiedenen Blautönen schimmert. Während ich an der hohen Felswand entlang schwimme, erscheint es mir nahezu unglaublich, dass ich diesen Ort für mich allein habe. Keine Menschenmassen, die hier schwimmen gehen, keine Boote mit Backpackern auf der Suche nach den besten Plätzen zum Schnorcheln. Nur ich und das Meer mit seiner unglaublichen Unterwasserwelt. Als ich untertauche, sehe ich gelbe, bauchige Fische, die langsam durchs Meer gleiten und riesige Schwärme mit kleinen, orangenen Fischen, die durch das Wasser rauschen, gelbliche Wasserpflanzen, die sich sachte hin- und her bewegen, Korallen, die mal in einer gelben Tarnfarbe mit der Farbe des Sandes verschmelzen und mal in einem durchdringenden Rotton aufleuchten.
Unerwartete Entdeckungen
Ich bin immer noch völlig überwältigt von meinen Unterwassererlebnissen, als ich kurz darauf beschließe, den Ort noch ein wenig weiter zu erkunden. Ich laufe den steilen, steinigen Hügel herunter und stelle dabei fest, dass das Herunterlaufen ohne Gepäck zwar ein wenig angenehmer ist als mit, ich allerdings immer noch höllisch aufpassen muss, nicht unglücklich aufzutreten und umzuknicken. Ich passiere einige malerisch auf der Meerseite gelegene Holzbauten, die wohl einmal Bars waren, die aber inzwischen geschlossen haben und laufe eine Weile am Hafen entlang, bis ich schließlich eine kleine, schmale Brücke erreiche.
Das Wasser unter der Brücke ist recht flach, sodass ich einen Blick auf den Meeresgrund werfen kann und staune, als ich auf einmal vollgelaufene Boote sehe, die aus dem Wasser herausragen. Unter den vollgelaufenen Booten befindet sich auch ein verwittertes Langboot, das vor einiger Zeit vielleicht von Touristen, vielleicht aber auch von Fischern genutzt wurde, um über das Meer zu fahren. Es glänzt in einem leuchtenden hellblau und ragt nahezu anmutig aus dem Wasser heraus, ganz so als wäre es noch nicht dafür bereit, für tot erklärt zu werden und auf dem Meeresgrund endgültig zu verwittern. Es sieht ganz danach aus, als hätten die Besitzer dieser Boote die Insel überstürzt verlassen und ihr Hab und Gut einfach an Ort und Stelle zurückgelassen. Eine Backpackerin kommt mir entgegen. Die heiße Mittagssonne hat ihr Schweißperlen ins Gesicht getrieben. „Geh am besten nicht weiter“, ruft sie mir zu. „Dort drüben ist es einfach nur gruselig.“ Sie deutet auf den wild gewachsenen Dschungel hinter der Brücke. Mit dieser Aussage macht sie mich allerdings nur noch neugieriger, sodass ich beschließe, auch noch die Gegend hinter dieser Brücke zu erkunden.
Wild wuchernde Gräser ranken neben hoch gewachsenen Palmen hervor. Weniger natürlich ist, dass die Gegend mit Müll voll gepflastert ist. Mit zerknitterten Plastikflaschen, bunten Chips-Verpackungen und eingedrückten Bier- und Cola-Dosen. Ich laufe weiter, bis ein zerfallenes Gebäude in meinem Sichtfeld auftaucht. Als ich näher herantrete, sehe ich, dass auf dem Gebäude der Name „Yellow Moon Hostel“ in verschnörkelten Lettern aufgedruckt steht. Es hängt ein deutlicher Geruch von Moder und Staub in der Luft. Auch wenn von dem einstigen Hostel nur noch das Gerippe übrig ist, ist dessen frühere Schönheit noch immer zu erahnen. Die Farbe an den Wänden war einst von einem intensiven hellblau, nun verblasst sie langsam. Ich trete an die Stelle, an der einmal die Rezeption stand. „Checkout 12 am“, steht an der Wand geschrieben. Auf den Tresen liegt ein verrostetes Ladekabel. Weiter hinten, sehe ich die Stahlgerippe von Hochbetten, die Glied an Glied nebeneinander stehen und nun langsam in der schwülen Inselhitze zerfallen. Das Hostel wirkt modern und unterscheidet sich nicht besonders von den Hostels, in denen ich bislang auf meiner Reise übernachtet habe. Es scheint nicht allzu lange her zu sein, seit hier Menschen ein- und ausgegangen sind. Ich schätze, dass hier noch vor höchstens drei Jahren Backpacker empfangen wurden. Vor drei Jahren, also kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie. Ich stelle mir vor, wie Backpacker einst hier eingetroffen sind, voll freudiger Aufregung, Zeit auf dieser Insel verbringen zu können, wie sie sich gegenseitig neue Kartenspiele beigebracht, miteinander Bier getrunken und sich über ihre Reisepläne ausgetauscht haben.
Doch dann brach etwas über die Welt herein, mit dem keiner gerechnet hätte. Ich versetze mich zurück in das Jahr 2020, als die Corona-Pandemie ausbrach und sich auf immer mehr Länder ausbreitete. Ich stelle mir vor, wie hier auf der Insel der erste Lockdown begann. Wie am Anfang noch alle davon ausgingen, es handele sich hierbei lediglich um eine kurze Zeitspanne. Wie der Lockdown immer länger und länger andauerte. Wie die Landesgrenzen geschlossen wurden und die Backpacker, die in Südostasien unterwegs waren, nach und nach zurück in ihre Heimatländer gebracht wurden. Wie schließlich keiner mehr kam. Wie die Eigentümer hofften, der Lockdown würde bald vorübergehen und Normalität einkehren. Wie diese Hoffnungen immer wieder enttäuscht wurden, bis immer mehr Einheimische die Insel verließen, weil ihre finanziellen Ressourcen knapp wurden. Wie der Dschungel sich das Hostel Stück für Stück zurückholte. Bis jetzt! Denn seit Frühjahr hat Kambodscha die Landesgrenzen wieder aufgemacht. Und deswegen sind wir ja auch hier, genau jetzt und gehören zu den ersten Backpackerinnen, die diesem Ort wieder Leben einhauchen.
Schwankende Preise und neue Fragen
Zur Nachmittagszeit machen My Linh und ich uns auf den Weg in den Ort, um nach einem Restaurant zum Essen zu suchen. Schnell stellen wir fest, dass die meisten Lokale geschlossen haben. Darunter befindet sich selbst ein Lokal, von dem ich mir sicher war, dass es gestern Abend bei unserer Ankunft noch geöffnet hatte. Nachdem wir eine Weile weitergelaufen sind, sehen wir von draußen, dass in einem der Lokale geschäftig Personen hin- und herlaufen. Wir betreten es, in der Hoffnung dort etwas zu essen bestellen zu können. „Good morning“, begrüßt uns ein Mann mittleren Alters mit einem unverkennbar britischen Akzent gut gelaunt. Er ist gerade dabei, einen Tisch zu verrücken. „Entschuldigt, aber wir haben noch nicht geöffnet“, schiebt er dann hinterher. „Wir machen erst morgen das erste Mal nach zwei Jahren wieder auf“, sagt er und strahlt dabei über beide Ohren. „Da wir hier auf der Insel aktuell noch nicht so viele Besucher haben, haben wir mit den anderen Restaurants einen Plan aufgestellt, dass wir unsere Lokale abwechselnd öffnen. Habt ihr Facebook? Dann füge ich euch einer Gruppe hinzu, in der ihr sehen könnt, welche Restaurants jeweils geöffnet sind.“ Dann nennt er uns noch ein Restaurant, das am heutigen Tag Essen serviert.
Wir bedanken uns bei ihm und machen uns auf den Weg zu dem Restaurant. Dabei laufen wir auch am Strand entlang. In einer Strandbar beobachte ich eine junge Frau, die auf einer Leiter steht und gerade dabei ist, bunte Lampions aufzuhängen. Dabei quatscht sie gut gelaunt mit ihrem Freund, der ihr einen Lampion anreicht. Mit einem Mal spüre ich, dass dieser Ort etwas Magisches hat. Die Stimmung der Inselbewohner wirkt energetisch aufgeladen, voll von freudiger Hoffnung auf etwas Bevorstehendes. Und was das ist, scheint auf der Hand zu liegen. Auf Backpacker, die diesen Ort wieder mit Leben füllen? Die sich abends im Schein der bunten Lampions über ihre Reisepläne austauschen? Die das Geld, das sie mit auf die Insel gebracht haben, für fried noodles, Acai Bowls und das ein oder andere Bier ausgeben und die durch Corona verursachten Löcher der vergangenen Jahre stopfen?
Endlich erreichen wir das Lokal, das uns der Brite empfohlen hat. Draußen vor dem Restaurant hängt ein Schild, auf dem in dicken Lettern „Fried Noodles – 9000 Riehl“ abgebildet steht, was in etwa 2 Euro entspricht. Wir setzen uns hinein und bekommen einen Teller mit dampfenden fried noodles serviert. „10600 Riehl“, sagt der Besitzer, als wir später bezahlen wollen. „Das ist nicht der Preis, der draußen auf der Tafel steht“, weise ich ihn hin. Da es hier auf der Insel keine Geldautomaten gibt, an denen wir neues Bargeld abheben können, sind wir darauf bedacht, nicht mehr Geld auszugeben als nötig. Der Restaurantbesitzer runzelt irritiert die Stirn. Ich gehe mit ihm nach draußen und zeige ihm den Preis, der dort auf der Tafel geschrieben steht. „Ah okay“, sagt er Schulter zuckend. Dann gebt mir doch einfach 7000 Riehl“, schlägt er vor. Dies ist eine Ansage, die mich nun wiederum irritiert: „Aber das ist weniger, als auf dem Schild steht.“ Erneut zuckt er die Schultern. „Na gut, okay“, sage ich und gebe ihm die genannte Summe. Das ist nicht die einzige Situation, in der uns auffällt, wie instabil die Preise der locals hier sind. Am darauffolgenden Tag entscheiden My Linh und ich uns dazu, unseren Aufenthalt auf der Insel zu verlängern. Das Problem ist nur, dass unser Bargeld langsam zuneige geht und wir nur auf dem Festland neues Geld abheben können. Im Anbetracht unserer Erinnerungen daran, wie aufwendig es für uns war, überhaupt auf diese Insel zu kommen, steht ein Abstecher zurück aufs Festland nach Sihanoukville außer Frage.
Wir gehen zu dem Rezeptionisten unseres Hostels, der sein Handy beiseitelegt und leichtfüßig aus seiner Hängematte springt. „Ihr wollt verlängern? Okay, dann vier Dollar für jeden pro Nacht“, sagt er. „Vier Dollar?“, fragen wir irritiert, denn dies ist lediglich rund ein Drittel des Preises, den wir ursprünglich pro Nacht für ein Bett in dieser Unterkunft bezahlt haben. „Seid ihr nicht einverstanden?“ fragt er. „Doch klar“, antworten wir schnell und verlängern unseren Aufenthalt, anstatt der geplanten zwei Nächte um vier weitere Nächte. „Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob die uns hier eigentlich verarschen wollen oder nicht“, sage ich im Anschluss zu My Linh. „Ich weiß, was du meinst“, antwortet sie nachdenklich. „Vielleicht wissen sie nicht, wie viel Geld sie von den Leuten nehmen können“, überlegt My Linh. „Ja und sie probieren aus, wie viel sie nehmen können und merken, dass es bei uns nicht viel zu holen gibt“, führe ich ihren Gedankengang fort. „Manchmal kommt es mir so vor, als würden sie hier zum ersten Mal Gäste empfangen. Dabei kamen doch schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie Besucher hierher. Oder nicht?“
Die Perspektive der Einheimischen
Am Abend möchten wir noch einen Smoothie aus frischen Früchten trinken. Wir laufen eine Weile die schwach beleuchtete Straße entlang, bis wir einen Stand entdecken, an dem Avocados, Mangos, Lychees und Passionsfrüchte zu kleinen Türmchen aufeinander geschichtet ausliegen. Wir bestellen beide einen Passionsfrucht-Avocado-Smoothie und setzen uns auf die Plastikstühle, die die Verkäuferin uns bereit gestellt hat. An dem Stand sitzt auch ein Mann, der uns aus seinen wachen Augen aufmerksam betrachtet. „Wo kommt ihr her?“, fragt er und wirkt dabei aufrichtig interessiert. „Wir sind Backpacker aus Deutschland“, antwortet My Linh. „Willkommen auf Koh Rong Samloem. Mein Name ist Nawin.“ My Linh und ich stellen uns ebenfalls vor. „Ihr gehört zu den ersten Backpackern, die ich hier seit Ende des Corona-Lockdowns sehe“, stellt Nawin fest und mir fällt auf, wie gut er Englisch spricht. Ich tausche Blickkontakt mit My Linh aus, die das Gleiche zu denken scheint wie ich. Endlich ein Inselbewohner, mit dem wir uns sprachlich gut verständigen können und dem wir all unsere Fragen stellen können, die uns seit Tagen umtreiben. „Bist du von hier?“ fragt My Linh ihn. „Ich komme aus Thailand“, antwortet Nawin.
Er erzählt, dass er als Backpacker für viele Jahre zahlreiche Länder der Welt bereist habe. Vietnam, Indonesien, Ecuador, um nur einige aufzuzählen. Vor ein paar Jahren dann habe er beschlossen, sich ein Land auszusuchen, um dort sesshaft zu werden und habe sich für Kambodscha entschieden. Hier habe er seine Frau kennengelernt und mit ihr eine Tochter bekommen. Seine Augen schwenken auf die schwach beleuchtete Straße und mir fällt das kleine Mädchen mit dem wild in der Luft tanzenden Locken auf, das gerade dabei ist, einem Ball hinterher zu jagen. Ein weiterer Mann setzt sich zu Nawin. Die beiden Männer lächeln sich an und wirken vertraut miteinander. „Chan hier ist Kambodschaner. Ich kann nur wenige Worte aus der Khmer-Sprache und Chan spricht kein Englisch. Wir kommunizieren, indem wir uns anlächeln,“ erklärt Nawin. „Und über Google Translate“, fügt er verschmitzt hinzu.
„Warum hast du dich von all den Ländern, die du bereits bereist hast, für Kambodscha entschieden? Und warum genau für diese Insel?“, frage ich nach einer Weile neugierig.
„Ich möchte hier zukünftig als Tauchlehrer arbeiten“, erzählt er. „In Ländern wie Thailand gibt es bereits viele Tauchlehrer. Die Unterwasserwelt ist dort auch bereits in weiten Teilen erschlossen. Hier auf Koh Rong Samloem sieht das noch anders aus. Vieles ist hier noch völlig unerschlossen. Hier habe ich die Möglichkeit, von Grund auf etwas Neues aufzubauen. Aktuell gibt es in Kambodscha noch nicht so viele Reisende. Das wird sich in den nächsten Jahren ändern.“ Wir lassen seine Worte für eine Weile auf uns wirken. Ich denke an Thailand und an die Scharen von erlebnishungrigen Backpackern, nach Erholung suchenden Pauschalurlaubern, und Familien mit Kindern die jedes Jahr die Inseln bereisen und fleißig Tauschscheine absolvieren. Die Anzahl an Tauchkursen, die dort angeboten werden, muss immens sein.
„Gewissermaßen sehe ich mich auch als Lehrer“, fährt Nawin fort. „Ich bin schon so viel gereist und in der Welt rumgekommen. Ich möchte den Menschen, die hier leben, etwas davon weitergeben. Viele der Einheimischen haben schon immer hier gelebt. Doch sie waren noch nie tauchen. Ich habe letztens ein paar Unterwasseraufnahmen gemacht und sie den Menschen gezeigt, damit sie sehen, wie wunderschön das Meer ist und, dass wir etwas tun müssen, um es zu schützen. Dass sie darauf achten sollen, den Müll nicht einfach ins Meer zu werfen zum Beispiel.“ „Seit wann lebst du bereits hier?“, frage ich. „Ich bin vor sechs Jahren nach M’Pai Bay hergekommen. Damals war hier noch viel mehr Dschungel. Nur ein paar Fischer lebten hier. Zu diesem Zeitpunkt wurde hier das erste Hostel gebaut und Backpacker fingen an, diesen Ort auf ihrer Reiseroute einzuplanen. Kurz darauf brach auch bereits die Pandemie über uns herein und alles, was gerade erst neu aufgebaut wurde, musste wieder schließen.“ Ich denke an die verwaisten Hostels, die trotz der dicken Staubschicht, die sie umgab, modern wirkten und an die Einheimischen, deren Preissetzungen auf uns auf den ersten Blick so willkürlich wirkten, vielleicht aber auch von schierer Unerfahrenheit herrührten.
„Wie haben die Menschen hier die Corona-Zeit überlebt?“ frage ich neugierig. „Viele Einheimische konnten sich das Leben hier nicht mehr leisten und sind fortgezogen. Die meisten expats aus Europa sind hiergeblieben. Sie haben von Ersparnissen gelebt und sich gegenseitig unterstützt. Ich habe mit meiner Frau erst vor zwei Jahren ein Restaurant eröffnet. Das war allerdings nur wenige Wochen geöffnet, bevor wir es auch schon wieder schließen mussten.“ Mir fällt auf, dass er alles andere als verbittert wirkt über die durch Corona geprägten Geschehnisse der vergangenen Jahre. Seine Gedanken scheinen stattdessen ganz auf das Hier und Jetzt fokussiert und voller Vertrauen auf die Zukunft zu sein. Wir sitzen noch eine Weile mit Chan und Nawin zusammen und sprechen über unsere Reiseerlebnisse.
Als wir zurück in unserem Hostel sind, lassen wir das Gesagte erst einmal auf uns wirken. Ich habe auf einmal das Gefühl, eine neue Perspektive gewonnen zu haben, aus der ich unsere Eindrücke von der Insel betrachten kann und aus der sie in einem neuen Licht erscheinen. Es fühlt sich mit einem Mal umso besonderer an, genau zu diesem Zeitpunkt hier an diesem Ort sein zu dürfen, irgendwo zwischen den trägen Nachwirkungen der Corona-Pandemie und einem möglichen Schwung an Backpackern, die hier vielleicht bald eintreffen und den Ort aus seinem Dornröschenschlaf reißen werden. Vielleicht… denn zum aktuellen Zeitpunkt ist noch völlig ungewiss, ob die Insel bei Backpackern bekannter werden wird. Wird der steinerne Hügel bald unter einer dicken Teerschicht glatt geschliffen worden sein? Werden in den verwaisten Hostels wieder Backpacker ein- und ausgehen? Wird die Meeresbucht am Hostel über den Klippen bald voll von Menschen sein, die die Bucht mit ihren dicken Taucherbrillen nach einzigartigen Unterwasserbildern absuchen? Wird man das Rauschen des Meeres dann überhaupt noch hören können? Aktuell ist das noch ungewiss. Aktuell zählt nur das Hier und Jetzt. Moskitos, die im hellen Licht der Lampen tanzen, das stetige Rauschen des Meeres, das am heutigen Abend sanft aus der Ferne klingt, der Rezeptionist, der noch immer in seiner Hängematte liegt, sein Handy allerdings weggelegt hat und die junge Katze beobachtet, die unter der Lampe sitzt und mit ihrer Pfote nach einem Insekt schlägt.
Wie faszinierend ist es, dass wir beim Reisen Momentaufnahmen dessen erleben, was Menschen an völlig anderen Orten auf der Welt bewegt. Dass diese Ausschnitte sich jederzeit ändern können. Denn alles unterliegt dem Wandel. Und das ist ja auch der Grund, warum sich Reisen lohnt. Warum es sich immer anders anfühlt, einen Ort in einem YouTube-Video zu sehen, als genau diesen Ort dann einige Zeit später selber zu bereisen. Und ich bin einmal mehr froh genau hier zu sein, an diesem Ort, zu genau diesem Zeitpunkt, der nie wieder so sein wird wie in diesem Moment.
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