Jahr ohne Winter

„Du kennst die Win­ter hier noch nicht.“ Manch­mal klang der Satz wie eine Dro­hung. Andau­ernd bekam ich ihn letz­ten Som­mer zu hören, immer wenn ich – neu in der Stadt und frisch in sie ver­liebt – von Van­cou­ver schwärm­te. Er kam von Freun­den, die län­ger schon hier leb­ten. Die Win­ter sei­en so depri­mie­rend, waren sie sich einig. Dau­er­grau von Novem­ber bis März. Nicht zum Aus­hal­ten nass.

Dar­an muss ich den­ken, als ich zum letz­ten Mal auf der Sea­wall spa­zie­ren gehe, immer am Was­ser ent­lang, Rich­tung Stan­ley Park. Ein Sonn­tag­nach­mit­tag im Febru­ar. In zwei Wochen rei­se ich ab. Fast wünsch­te ich, das mit dem Regen hät­te gestimmt – dann fie­le der Abschied aus Kana­da mir leich­ter.

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Aber die­ses Jahr ist alles anders. Die­ses Jahr ist der Win­ter in Van­cou­ver weder nass noch grau. Er ist näm­lich schlicht­weg aus­ge­fal­len. Schon vor Wochen fin­gen die ers­ten Kirsch­bäu­me an zu blü­hen, inzwi­schen sind die Stra­ßen im West End – mei­nem Kiez – auf vol­ler Län­ge rosa gesäumt. Wir haben 13 Grad, der Pazi­fik glit­zert still und die Men­schen, die mir ent­ge­gen­kom­men, tra­gen Son­nen­bril­len statt Regen­schir­me.

Es ist Frühling. Im Februar.

Wie oft ich die Sea­wall wohl ent­lang­ge­lau­fen bin? Man geht ja häu­fi­ger spa­zie­ren, wenn man den Strand vor der Haus­tür hat, hab ich fest­ge­stellt. Ein­mal mehr stau­ne ich, dass so vie­le Leu­te hier nicht ein­fach nur fla­nie­ren. Van­cou­ve­ri­tes sind sport­ver­rückt. Jog­ger, deren Was­ser­fla­schen wie Schuss­waf­fen im Gür­tel ste­cken, lau­fen Sla­lom um Pas­san­ten und ihre ange­lein­ten Hun­de. Auf der Fahr­rad- und Skate­spur ist der Ver­kehr teil­wei­se sto­ckend. Unten am Ufer sind ein paar Frau­en in ihre Yoga-Übun­gen ver­tieft, sechs Hin­tern stre­cken sich mir ent­ge­gen, als ich vor­über­ge­he. Das muss der Son­nen­gruß sein. Neben ihnen macht ein Mann im Strand­sand Sit-ups, die Fuß­soh­len hat er gegen einen lie­gen­den Baum­stamm gestützt.

An der Eng­lish Bay set­ze ich mich auf die ein­zi­ge freie Bank und las­se den Blick schwei­fen. Fühlt sich jedes Mal wie Urlaub an. Die Berg­gip­fel zur Rech­ten sind nur fleck­chen­wei­se weiß. Es will ein­fach kein Schnee fal­len. Cypress Moun­tain haben sie des­halb, sehr zum Ärger vie­ler Snow­boar­der mit Jah­res­kar­te, schon geschlos­sen. Die Schif­fe am Hori­zont lie­gen wie immer ganz still, als anker­ten sie dort nur, damit jemand hier sit­zen und sie in Ruhe malen kann. Möwen schrei­en. Von links wehen die Anfeue­rungs­ru­fe der Beach­vol­ley­bal­ler her­über. Die Jungs spie­len ober­kör­per­frei. Biss­chen über­trie­ben. Aber ich beschwe­re mich nicht. Hoff­nungs­los blin­ze­le ich gegen die Son­ne an und schlie­ße irgend­wann die Augen. Ich spü­re die Wär­me auf den Lidern.

Und dann: lächeln. Ich kann gar nicht anders. Lächeln und Krib­beln im Bauch.

Die Son­ne wirft ihr Licht auf die ver­gan­ge­nen neun Mona­te. Wie rich­tig es war, das hier durch­zu­zie­hen. Wie viel ich gelernt habe. Wie glück­lich mich das gemacht hat. All das sehe ich jetzt ganz klar.

Nur ein Zwischentief

Anders als noch vor ein paar Tagen. Da war mein Blick zurück getrübt, das Fazit weni­ger posi­tiv. „Ich bin genau­so schlau wie zuvor“, hat­te ich per Whats­app mei­nem bes­ten Freund geschrie­ben. „Gar nichts hat sich ver­än­dert“, lamen­tier­te ich, einen Moment lang unfä­hig, das ein­zi­ge Tief mei­ner Rei­se aus­zu­blen­den – die wochen­lan­ge Rat­lo­sig­keit, mit der ein Mensch mich zurück­ließ, für den ich gera­de erst mein Herz geöff­net hat­te.

„Na, wenn du meinst, dass du aus dei­ner Zeit in Kana­da nur die­se Geschich­te mit­neh­men musst, dann kannst du das natür­lich machen“, hat­te er mir geant­wor­tet. „Es wäre aber scha­de, wenn du die vie­len guten Din­ge unter den Tisch fal­len lässt: Du bist in einer frem­den Umge­bung super zurecht­ge­kom­men, hast Freun­de gefun­den, eine tol­le Stadt ent­deckt und die Arti­kel geschrie­ben, die Du schrei­ben woll­test. Dar­auf soll­test du dich kon­zen­trie­ren. Und nicht auf irgend­ei­ne Pfei­fe, die nicht den Elan hat­te, sich mit dir aus­ein­an­der­zu­set­zen.“

Mir fal­len sei­ne Wor­te wie­der ein. Wie Recht er hat. Das Zwi­schen­tief auf mei­ner Rei­se – es war letzt­lich nur ein Herbst­sturm. Einer, der sich längst aus­ge­tobt hat. Einer, auf den kein Win­ter folg­te.

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Als ich die Augen wie­der öff­ne, strahlt mich ein klei­ner Jun­ge an. In der einen Hand hält er ein Eis, die ande­re umklam­mert die Hand sei­ner Mama. Sie steu­ern den Platz neben mir auf der Bank an. Ein Eis, das wär’s jetzt, den­ke ich. Ich ste­he auf und mache zum Abschied ein paar Fotos. Ein letz­tes Mal schaue ich an der Eng­lish Bay aufs Was­ser.

Es ist Früh­ling. Und jetzt geht die Rei­se wei­ter.

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Antworten

  1. Avatar von Weltenstürmer Mad

    Hi Susan­ne,

    melan­cho­lisch und schön. Van­cou­ver im Februrar scheint mir sehr anspre­chend zu wir­ken, obwohl ich lie­ber im Som­mer dort wäre 🙂 Und da hät­ten wir es wie­der ein­mal: Durch die Tie­fen lernt man die Höhen erst rich­tig zu schät­zen.
    Viel Spaß noch auf dei­ner Rei­se, wohin ist es denn als nächs­tes gegan­gen?

    Lie­be Grü­ße,
    Mad

    1. Avatar von Susanne Helmer

      Hal­lo Mad, vie­len Dank! Van­cou­ver ist auf alle Fäl­le einen Besuch wert. Im Febru­ar, na ja, nicht grund­sätz­lich, ich hat­te schon wirk­lich viel Glück. Danach ging es nach Maui. 🙂

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